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8. Das »Ende der Hudsonbucht«

Churchill.

Die Hudsonbucht ist keine Bucht, sondern ein Meer. Sie ist die Inlandsee des Nordens. Es dauert Tage, sie im Dampfschiff zu kreuzen. So kann auch nicht von ihrem Ende in physischem Sinne die Rede sein, es sei denn, eine künftige Technik, von der wir noch keine Vorstellung haben, vermöchte es, ihre Verbindung mit dem Eismeer zu unterbinden und sie auszutrocknen, wie die Holländer den Zuidersee trocken legten.

Die Folgen einer solchen Austrocknung würden allerdings unvergleichlich weiterreichend sein. Der Landgewinn würde nicht einmal eine solche Rolle spielen wie die Änderung des Klimas. Die Hudsonbucht ist der Eiskeller Kanadas. Ständig treibt aus dem arktischen Meer Eis hinein, und auf ihr schwimmen Eisfelder, die auch im Sommer nicht schmelzen. So ist das Ergebnis eine außerordentliche und weitreichende Abkühlung des umliegenden Landes. Die Hudsonbucht ist in Verbindung mit dem eisigen Labradorstrom schuld, daß das östliche und mittlere Kanada auf dem gleichen Breitengrad wie Norditalien und Süddeutschland ein sibirisches Klima haben. Gelänge es, den Eiskeller der Hudsonbucht in eine sommerliche Heizplatte zu verwandeln, und das würde sie nach ihrer Trockenlegung sein, so würde sich das Klima des nördlichen Amerikas von Grund auf wandeln.

In ferner Zukunft mag das vielleicht geschehen. Aber von solchem Ende der Hudsonbucht kann einstweilen noch nicht die Rede sein. Allein wir sind dabei, ein anderes »Ende« zu erleben, das Ende der Hudsonbucht als Begriff, als Vorstellung. Sie war bisher für uns Wildnis, Arktis fast, der alleinige Bereich der Kompanie, die nach ihr hieß, ein Land für Trapper, Fallensteller und Pelzhändler. Bis in unsere Tage war die große Kompanie rings um die Bucht Alleinherrscherin, obgleich ihre souveränen Hoheitsrechte bereits in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erloschen, als sie gezwungen war, sie für 300 000 Pfund an das Dominion of Canada zu verkaufen. Aber das Leben an der Bucht war dadurch kaum verändert. Zwar waren nach Erlöschen des Handelsmonopols andere Pelzhändler an die Bucht vorgedrungen und hatten versucht, die Kompanie bei den Indianern zu überbieten und ihr die Felle abzujagen. Allein die Macht der Gesellschaft und ihr Einfluß bei den Indianern war doch so groß, daß sie zunächst die Herrin an der Bucht blieb.

Unverändert lief das Jahr im gleichen Turnus ab wie die Jahrhunderte vorher. Im August kam das Kompanieschiff und versah all die Posten und »Forts« mit Vorräten und Handelsgütern. Mit diesen wurden im Herbst die indianischen Jäger nach Bedarf ausgerüstet. Den ganzen Winter über jagten diese, und im Frühling kamen sie mit ihrer Beute zu den Posten zurück.

Dann wurde abgerechnet. Hatte der Jäger einen Überschuß über den gewährten Kredit, so wurde er ihm ausgezahlt, andernfalls als neue Schuld vorgetragen.

Man hat viel über den Wucher der Hudson's Bay Company geredet und über ihre Ausbeutung der Indianer. Bekannt ist die Anekdote, daß die indianischen Fallensteller für eine Flinte so viele aufeinandergestapelte Biberfelle zu zahlen hatten wie ihre Länge betrug, und daß die Kompanie deshalb für diesen Handel Gewehre mit besonders langen Läufen anfertigen ließ.

Demgegenüber behauptet die Gesellschaft, daß der Preis für eine Flinte 8-12 Biberpelze betrug, und in jedem Falle verstand sie es, mit den Indianern auszukommen und sie zufriedenzustellen. Einen reinen Wert für eine Sache gibt es nicht. Darauf beruht ja gerade das Tauschgeschäft. Der Indianer, der für eine Flinte so viele Biberfelle aufeinander häufte, bis die Mündung erreicht war, glaubte sicher, ein ebensogutes Geschäft gemacht zu haben wie die Kompanie, die die Felle auf dem Londoner Markt verkaufte.

Die Hudson's Bay Company war im Grunde eine Pelzhandelsgesellschaft, mochte sie auch das Gewand einer souveränen Macht tragen. Deshalb war und mußte ihr Bestreben sein, die Zivilisation von ihren Jagdgründen fernzuhalten. Vor dem Siedler flieht das Pelztier. So war die viel angefeindete Politik der Kompanie, Siedlung zu verhindern, von ihrem Standpunkt aus berechtigt.

Die gleichen Gründe bestimmten ihre Eingeborenenpolitik. Ihre Pelzlieferanten waren die Indianer. Ein seßhaft gewordener, ein Ackerbau oder Gewerbe treibender Indianer ist kein Jäger und Fallensteller mehr. Also mußte alles geschehen, ihn in seinem ursprünglichen Zustand zu erhalten. Während man sich sonst überall in der Welt bemühte, die Eingeborenen zu zivilisieren, ihnen europäische Bedürfnisse beizubringen, um sie zu Abnehmern der europäischen Industrieerzeugnisse zu machen, tat die Kompanie alles, um ihre Tabu-Totem-Welt zu erhalten. Sie hatte ihnen von der europäischen Zivilisation genau so viel gebracht wie nötig war, um sie zu erfolgreichen Pelztierjägern zu machen und sie in Abhängigkeit zu bringen, so daß sie Pelze liefern mußten, ob sie wollten oder nicht.

Gegen solche Politik läßt sich vom ethischen Standpunkt natürlich viel einwenden. Sicher ist sie nicht ideal. Aber zieht man zum Vergleich das Schicksal heran, das der weiße Mann anderen primitiven Völkern gebracht hat, so ist das der Indianer im Gebiete der Hudson's Bay Company wahrhaft glücklich zu nennen. Die Kompanie ließ dem Indianer seine Freiheit. Sie nutzte ihn nicht übermäßig aus und sorgte für ihn in Notfällen, ohne ihm das demütigende und jeden Charakter zerstörende Gefühl des Almosenempfangens zu geben. War beispielsweise die Schuld eines Indianers, der ein guter Jäger war, ohne sein Verschulden zu groß geworden, so verringerte sie die Gesellschaft, ohne daß er ihre Absicht merkte, indem sie seine wenigen Pelze entsprechend hoch bewertete.

Aber das gehört heute bereits der Vergangenheit an. Die kanadische Regierung hat heute die Indianer in ihre Obhut genommen, gibt ihnen ihr Treaty Money und sorgt für sie. Die Posten der Kompanie rings um die Hudsonbucht bestehen noch, und es kommt auch noch alle Jahre ein Schiff, das sie mit Waren versorgt, die gegen Pelze eingehandelt werden. Aber das Schwergewicht der Kompanie hat sich längst nach dem Nordwesten zu gegen den Mackenzie und den Yukon verschoben.

Auch der Nordwesten hat heute aufgehört, ein ausschließliches Pelzland zu sein. Es wird bald kein hauptsächliches Pelztiergebiet mehr sein. Der Weizenfarmer dringt immer weiter nach Norden vor. Ihm voran zieht der Rancher mit seinen Viehherden. Und beide überflügelnd fliegt der Miner im Flugzeug nach Norden. Dampfer auf dem Mackenziefluß, Postflugzeuge bis an die Arktis, Minen, Versuchsfarmen und Polizeistationen, wo vor wenigen Jahren noch herrenlose Wildnis war. In vollem Marsche ist die Zivilisation gen Norden!

Die große Pelztierkompanie selbst hat sich gewandelt. Pelze sind nicht mehr das einzige, nicht einmal mehr das hauptsächliche Geschäft. Sie ist Landagentin und Landspekulantin, sie handelt in Grundstücken, in Fischereirechten und Ölfeldern. Sie hat ein riesiges Warenhaus in Winnipeg und eine Kette von Ladengeschäften über ganz Kanada.

Die stärkste Wandlung aber erlebte die Hudsonbucht in unseren Tagen durch die Bahnen, die an ihre Ufer vorgetrieben wurden. Diese Bahnen bedeuten wahrhaft das »Ende der Hudsonbucht«. Auf die gegen James Bay, die Südspitze des Binnenmeeres, vorgetriebene Bahn folgte die ungleich wichtigere von The Pas nach Churchill, die die Weizenprovinzen mit der Hudsonbucht verbindet.

Schon spricht man von einer zweiten, westlichen Bahnlinie, die Churchill mit dem Athabaskasee verbinden soll. In den Athabaska mündet der Peace River, an dessen Oberlauf eine zweite »Prärie«, ein neues Weizenkönigreich im Entstehen begriffen ist. Längs dieser Westbahn aber liegen riesige Strecken noch völlig ungenützten, jungfräulichen, kaum erforschten Landes mit unbegrenzten Weideflächen.

Noch ist alles in den Anfängen. Noch ist Churchill der Versuch einer Stadt. Rückschläge sind unausbleiblich, aber noch unausbleiblicher ist die schließliche Eingliederung der Hudsonbucht in die Zivilisation, die es wahrhaft zum Binnenmeer des neuen Nordreiches machen wird, das dort oben im Entstehen begriffen ist, wo einst das ungestörte Königreich des Fallenstellers war.

Das Ende der Hudsonbucht ist der Anfang des »nordischen Mittelmeers«.


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