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18. Lake Harbour

Lake Harbour (Baffinland).

Die Hudsonstraße war grau und feindlich. Eis trieb vorbei. Im Westen war der Himmel fahl, voll von bösem Licht. Vor uns im Osten ballten sich schwarze Wolken, als qualme unter See ein riesiger Schornstein.

Wir fuhren mit halber Kraft. Wir warteten auf den Lotsen. Dieser Lotse ist wohl der wenigst beschäftigte der Welt; er tritt nur einmal im Jahr in Tätigkeit, um die »Nascopie« nach Lake Harbour hereinzulotsen. Lake Harbour liegt am Ende eines langen, engen und gewundenen Fjordes, und es ist schon besser, man hat jemanden auf der Brücke, der die Fahrstraße genau kennt.

Die »Nascopie«

»Da kommt er!« rief der Erste Offizier. Ich sah beim besten Willen nichts. – »Aber da, gerade voraus!« – Da war ein schwarzer Punkt, der ein Walroß sein mochte, aber kein Lotse. Unwillkürlich war ich noch so naiv oder stand noch so unter der Vorstellung hundertfach gesehener Bilder, daß ich, wenn schon keinen Lotsendampfer, so doch mindestens ein Motorboot oder einen Lotsenkutter erwartete. Für jemanden, der zum ersten Male in die Arktis reist, ist es ja auch ein befremdliches Bild, den Lotsen viele Meilen in die offene See hinaus in einem Kajak angepaddelt kommen zu sehen. Das aber tat unser Lotse, der natürlich ein Eskimo war.

Der Lotse kam im Kajak angepaddelt

Unter seiner Führung dampften wir in den Fjord ein, das heißt, beinahe hätten wir uns ohne Lotsen behelfen müssen. Ein Kajak ist ein wackliges Fahrzeug, noch viel wackliger als ein Faltboot. Vor allem aber ist das Aus- und Einsteigen wesentlich schwieriger, da das Kajak nur eine runde Öffnung hat, gerade groß genug, den Körper durchzuzwängen. Das ist schon in flachem Wasser nicht leicht. Wenn aber die See in schwerer Dünung rollt und man auf eine auf- und abtanzende Gangway übersteigen muß, dann ist dies selbst für einen Eskimo keine Kleinigkeit. Um ein Haar wäre unser Lotse ins Wasser gefallen, was für ihn wie für uns peinlich gewesen wäre. Als Eskimo konnte er natürlich nicht schwimmen. Wo sollte auch ein Eskimo schwimmen lernen? Das Wasser ist so eisig, daß ein abgehärteter Mann es darin nur wenige Minuten aushält. Selbst die Schlittenhunde, die bei jedem Wetter, Sommer wie Winter im Freien schlafen, selbst beim bösesten Schneesturm, ertragen die Kälte des eisigen Wassers nicht länger als höchstens 10-15 Minuten, dann erfrieren sie.

Aber glücklicherweise griffen die zwei Matrosen, die auf der Gangway postiert waren, rechtzeitig zu und zogen erst den Lotsen und dann das Lotsenschiff glücklich herauf. Der Eskimo, der keine Miene verzogen hatte, schritt, als sei nichts passiert, die Stufen hinauf und nahm seinen Platz auf der Brücke neben dem Kapitän ein.

Wir kamen glücklich durch den Fjord, obgleich die Ebbe bereits eingesetzt hatte und beiderseits im Fels eine scharf in den Stein eingeschnittene Linie deutlich die Fluthöhe abzeichnete. Es sah aus, als führe beiderseits des Fjords ein Weg den Fels entlang. Der Wasserspiegel fiel erschreckend tief unter die Flutmarke, denn hier im Fjord sind erstaunliche Gezeitenunterschiede; zwischen dem Höchst- und dem Tiefstand von Flut und Ebbe klafft eine Spanne von zehn Metern.

Es war Abend, als wir am Ende des Fjords anlangten. Hier lag Lake Harbour, wahrhaftig eine arktische Großstadt. Sie besteht aus drei Teilen. Links auf dem breiten und geräumigsten Platz zwischen den Felsbergen breitet sich der Posten der Hudson's Bay Company aus. Es ist der größte und schönste der Kompanie in der ganzen Arktis, ein geräumiger Laden, ein schönes Wohnhaus, verschiedene Schuppen, eine Art Helling, auf die man im Winter den Kompanieschoner heraufziehen und nötigenfalls ausbessern kann. Alle Gebäude sind sauber weiß gestrichen mit roten Dächern. Hinter ihnen in der Geröllhalde sind die drei Buchstaben H. B. C. in einem grauen Oval mit weißen Steinen ausgelegt.

Am andern Ende der »Stadt«, hübsch weit von der Hudson's Bay Company entfernt und durch einige, nur bei Ebbe passierbare Klippen von ihr getrennt, liegt das Detachement der Mounted Police. So können die beiden Großmächte der kanadischen Arktis, von denen eine jede für sich die volle Autorität und Souveränität beansprucht, sich nicht so leicht in die Haare kommen, und Kompetenzstreitigkeiten werden nach Möglichkeit vermieden. Die Kompetenzen zwischen den beiden sind ungefähr derart geteilt, daß die Kompanie de facto die Gewalt über die Eskimos hat, die Polizei dagegen de jure, und nur im Falle von Verbrechen in Tätigkeit tritt. Da die Hudson's Bay Company, auf vielhundertjähriger Erfahrung fußend, ihre Macht mit Weisheit und taktvoller Zurückhaltung gebraucht, die Mounted Police aber einstweilen ihre Aufgabe in der Arktis in erster Linie in der Erforschung des Landes sieht, in monatelangen, Tausende von Kilometern weiten Expeditionen im Sommer wie im Winter, ist es bisher nicht zu Streitigkeiten gekommen.

Die Polizeistation hat grauen Anstrich und grüne Dächer, aber sie ist nicht weniger liebevoll angelegt als der Posten der H. B. C. Man sieht, daß die Polizisten viel Zeit haben; denn sie haben einen ganzen Kranz von Wegen um ihre Station angelegt und alles mit weißgekalkten Steinen eingefaßt.

Zwischen Polizei und Kompanie, auf dem bescheidensten Platz, eigentlich nur auf einem Kliff und an den Felsen geklebt wie ein Schwalbennest, liegt die anglikanische Mission.

Warum sie sich diesen schlechtesten Platz ausgesucht hat, ist nicht leicht erfindlich; denn sie war zuerst hier. Lake Harbour war zur Zeit der Hochkonjunktur der Walfischfängerei in der Arktis ein von den »Walern« gern angelaufener Hafen, und gleichzeitig mit ihnen kam die Mission hierher.

Als es dann mit der Walfischfängerei zu Ende ging, blieb die Mission allein zurück. Sie bekam wieder zu tun, als die Hudson's Bay Company sich hier niederließ. Aber da die Eskimos, wenn sie mit ihren Fellen nach Lake Harbour kommen, ihre Zelte natürlich rings um den Kompanieposten aufstellen, lag die Mission völlig abgesondert auf der Klippe. Es war daher nötig, auf der andern Seite des Fjords ein Kirchlein zu bauen, und die Prediger müssen jeden Sonntag über das Wasser setzen und im Winter über das Eis wandern.

Wir wollten ausprobieren, wie lange Polizisten und Hudsonbai-Leute eigentlich brauchen, wenn sie sich auf dem Landweg besuchen wollen, und so schickten wir uns an, hinüberzuwandern, obgleich der Major uns warnte. Er meinte, die Flut sei bereits so hoch, daß wir nicht mehr am Wasser entlang gehen könnten und über die Berge klettern müßten, was eine böse Kletterei von ein paar Stunden bedeutete.

Aber wir scheuten weder die Kletterei noch die lange Wanderung. Außerdem lockte uns das Land. Es war von einem ganz seltsamen, ein wenig schwermütigem Reiz. Eine ganze Kette von Felsklippen erhebt sich rings um den Fjord. An ihren Hängen wuchs teilweise Moos und Gras. Es war ein schüchternes Moos und ein bescheidenes Gras. Aber wenn man aus genügender Entfernung darauf sah und das Auge ein wenig zukniff, konnte man diese Hänge fast für Wiesen und Matten halten. Außerdem standen auf ihnen geradezu rührend kleine Blumen, die aber in all ihrer Kleinheit und Zartheit wie Miniaturausgaben ihrer prächtigen, großen Schwestern in gesegneteren, wärmeren Breiten wirkten, so farbenprächtig waren sie. Freilich hätte man eigentlich ein Mikroskop gebraucht, um diese Farbenpracht richtig bewundern zu können.

Zwischen den Felsklippen lagen zahlreiche blaue Seen, und so erinnerte die Landschaft etwa an Schottland. Mit einem von ihnen verbindet sich ein tragisches Geschehnis. Einer der Partner der drei Paare – ich kann nicht herausbekommen, ob es sich um einen der zwei Polizisten, der zwei H.-B.-C.-Leute oder der beiden Missionare handelt – ist in diesem See ertrunken. Es ist eine etwas mysteriöse Geschichte, jedenfalls fuhr der Betreffende in einem Kanu über den See und kam nicht mehr zurück.

Anderswo sterben auch Menschen, sterben sogar viel mehr, allein in der Arktis, wo nur ein paar Menschen in jahrelanger Einsamkeit zusammenleben und ganz anders aufeinander angewiesen sind, umweht jeden Todesfall eine besondere Tragik, und zwar weil sich in der Häufung der seltsamen Todesfälle unwillkürlich der Gedanke aufdrängt, daß die grenzenlose Einsamkeit und die grenzenlose, eintönige Trostlosigkeit des arktischen Winters in einem gewissen Zusammenhang damit steht.

Als wir nach der Station der Mounted Police hinüber kamen, stand der Korporal, ein prachtvoller Typ dieser Elitetruppe, unter der Tür. »Wunderschön war der Weg über die Berge«, rief ich ihm zu, um ihm etwas Freundliches zu sagen. »Ja, wunderschön«, lächelte er, »wie überall im Frühling – bloß, daß wir hier nur zwei Monate Sommer haben und sonst Winter«, fügte er etwas leiser hinzu.


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