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VIII. Nördlichstes Grönland

36. Die Gletscherstraße

An Bord der »Nascopie« in Glacier Strait.

Wir fahren durch die »Gletscherstraße«. Wenn hier, wo es nicht eine Wasserrinne gibt, in die keine Gletscher münden, ein Meeresarm Glacier Strait, Gletscherstraße, heißt, so muß schon etwas daran sein. Wir sind seit drei Uhr früh auf Deck, um nichts zu versäumen. –

Die Zeit des ununterbrochenen Tages, währenddessen die Sonne nicht untergeht, ist zwar bereits vorüber, aber es ist trotzdem taghell; die Sonne taucht kaum unter den Horizont.

Die Gletscherstraße führt zwischen der Ostküste von Ellesmere und dem Westrand der Coburginsel nach Norden. Ein Eisfeld sperrt sie von Ufer zu Ufer. So dick ist es, daß selbst für die »Nascopie« kein Durchkommen möglich erscheint. Wir biegen nach Steuerbord ab, und es sieht aus, als wolle der Kapitän in die Lady-Ann-Straße zurücksteuern, um dem Packeis auszuweichen. Aber er sucht nur nach einer günstigen Stelle zum Durchbruch. Schon biegen wir wieder nach Norden, und der Bug der »Nascopie« kracht gegen die Eisdecke.

Es ist so ziemlich der letzte Termin für diese Breite, selbst wenn man über einen so starken Eisbrecher verfügt wie wir. Es ist nur eine Frage von Tagen, daß nicht nur die Glacier Strait, sondern der ganze Smithsund, in den wir noch wollen, unpassierbar wird, das heißt, für europäische Transportmittel. Für arktische beginnt dann erst die Reisezeit.

Überall auf der Erde ist das Meer die große, breite Straße der Menschheit, die Straße für Wanderung, Handel und Entdeckung, auch in der Arktis, freilich nicht in dem uns geläufigen Sinne. Das offene Wasser ist hier keine Verkehrsstraße, sondern ein böses Verkehrshindernis. Das Meer ist hier ja zu keiner Zeit des Jahres wirklich offen. Immer muß man mit Treibeis rechnen, mit Eisbergen und Eisschollen, die jeden Verkehr auf dem Wasser schwierig, gefährlich, wenn nicht unmöglich machen. Hat sich aber das treibende Eis fest zusammengeschoben, ist das Meer gefroren, dann ist eine herrliche Straße geschaffen, über die die Ureinwohner des Nordens die weitesten Reisen machen.

Die Nordhälfte des Globus deckt im Winter eine feste Eiskuppe, die Asien mit Amerika und Grönland verbindet. Diese unendliche Fläche festen Eises hat Menschen mit Frauen und Kindern als Wanderstraße gedient.

Wir fahren diese Straße. Unsere Route an der Westküste von Ellesmereland entlang über den Smithsund nach dem nördlichen Grönland ist die gleiche, die die ersten Eskimos wanderten, die diese größte und gleichzeitig menschenleerste Insel zuerst bevölkerten.

Sie kamen aus dem nordöstlichen Sibirien, aus dem Land der Tschuktschen. Es waren Omoki, Onkilou und andere Stämme, die vielleicht einem Druck aus dem Süden auswichen. Sie zogen über das Eis des Meeres nach der Wrangelinsel und wanderten von hier weiter über das gefrorene Polarmeer nach der nördlichsten arktischen Insel und nach Nordgrönland. Verfolgt man ihre Reiseroute, so möchte man meinen, daß ihnen die Kugelgestalt der Erde bekannt gewesen sei und sie den Kreisbogen als die kürzeste Reiseroute wählten, eine Strecke, die der moderne Polflug wieder aufnimmt. Sie folgten natürlich lediglich der glatten Straße über das Eis, der einzigen übrigens, die sie mit dem Schlitten zurücklegen konnten; denn nur der Schlitten ermöglicht es, so große Lasten mit solcher Geschwindigkeit zu befördern, wie es die Eskimos auf ihren Wanderungen tun.

Wahrscheinlich suchten die aus der Heimat vertriebenen Sibirier schon an der amerikanischen Nordküste nach neuen Wohnsitzen. Sie fanden diese jedoch bereits besetzt, wohl durch Stämme, die früher über die Beringstraße nach Amerika gewandert waren. So zogen sie weiter, die Küste von Banks Island entlang und gelangten schließlich nach Ellesmere, immer der Straße des Eises folgend und dem offenen Wasser ausweichend.

Von hier folgte ein Trupp der Route, die wir jetzt fahren. Ein anderer zog noch weiter nördlich an der Westküste von Ellesmere entlang und setzte erst am Nordteil der Insel nach Grönland hinüber. Noch auf dem 82. Grad hat man Spuren dieses nördlichsten und kühnsten Wandervolkes der Erde gefunden: das Gerüst eines Hundeschlittens, eine Steinlampe und einen Schaber aus Walroßzahn.

Diese nördlichen Breiten waren gut zur Wanderung, aber schlecht zum Leben. Deshalb rückten die asiatischen Eskimos langsam nach Süden. So wurde Grönland bevölkert von Menschen, die aus dem Norden kamen. Nur ein kleiner Teil der ausdauerndsten und zähesten Eskimos blieb in Nordgrönland zwischen Etah und Kap York.

Natürlich sind diese Ausführungen lediglich Annahme, die noch dazu keineswegs unumstritten ist. Es gibt zahlreiche Vermutungen über Ursprung und Wanderung der Eskimos; beinahe jeder Polarforscher hat seine eigene. Darin aber sind sich alle einig, daß die Eskimos aus Asien stammen.

Die Eskimozüge bilden ein Gegenstück zu den polynesischen Wanderungen über den Pazifik. Wenn ein Insulaner aus Tahiti sich ohne weiteres mit einem Maori aus Neuseeland verständigt, so auch ein Eskimo aus Alaska mit einem grönländischen. Auch Nookapinguaq plaudert ohne Schwierigkeiten mit unseren kanadischen Eskimos.

Der Weg über das Eis von Asien nach Grönland ist ziemlich unwiderleglich durch Fundstücke festgelegt. Der stärkste Beweis aber, daß Grönland von Norden her bevölkert sein muß, ist die Tatsache, daß die arktischen Hochländer bei ihrer Entdeckung keine Boote kannten. Sie können also mit ihren Schlitten nur von Norden her über den Smithsund gekommen sein. Weiter im Süden ist die Meeresstraße, die Grönland von Amerika trennt, zu breit, um zuzufrieren.

Aber auch wo die Eskimos Boote kennen, sind sie keine Seefahrer in unserm Sinne. Sie leben auch nicht so ausschließlich vom Meer, wie wir im allgemeinen annehmen. Für die meisten Eskimos ist das Karibu mindestens so wichtig wie Seehund und Walroß. Auch wo der Eskimo fast ganz von der See lebt, ist er ein Mensch des Eises, nicht des Wassers. So genial sein Kajak auch gebaut ist, so gut geeignet für die Jagd auf dem Wasser, Reisen lassen sich damit nicht machen. Ebensowenig im Umiak, im Frauenboot. Das faßt zwar mehr, ist aber in erster Linie dafür eingerichtet, im Notfall über das Eis gezogen zu werden. Für lange Fahrten über offenes Wasser oder gar in schwerer See ist es viel zu flach. Außerdem muß sein Fellüberzug regelmäßig getrocknet werden, soll er nicht in kurzer Zeit unbrauchbar werden.

Wir Menschen der gemäßigten Zone müssen uns erst immer wieder klarmachen, daß für die Arktisbewohner das Eis nicht Feind ist, sondern Freund. Auf dem Eise jagt er, das Eis ist ihm Transportmittel, aus ihm oder vielmehr aus gefrorenem Schnee baut er seine Winterhäuser. Wie wir jetzt Glacier Strait durchfahren, wo Gletscher sich an Gletscher reiht und eine feste, weiße Decke das freie Meer verbirgt, soweit das Auge reicht, ist es nicht ganz leicht, das zu begreifen. Für uns ist das Eis der Feind, für uns ist es keine Straße. Gelingt es ihm, uns aufzuhalten, so bedeutet das ein Steckenbleiben für ein Jahr, ein Gedanke, der durchaus nichts Verlockendes an sich hat, obgleich die Großartigkeit der uns umgebenden Eislandschaft sich zu einer überwältigenden Schönheit gesteigert hat, die nicht mehr zu beschreiben ist.

Das leichte Rosa, das anfänglich den Morgenhimmel überdeckte, ist immer intensiver geworden und hat um sich gefressen wie Feuerbrand. Jetzt flammt jeder Gletscher, und die im Kielwasser treibenden Eisschollen leuchten in tiefem Violett. Es ist ein so brausender, so hinreißender, so glorreicher Anbruch des Tages, wie ich ihn noch unter keinem andern Himmel erlebte.

Ein wenig komme ich mir vor wie ein Dieb

Ein wenig komme ich mir vor wie ein Dieb, daß ich das Schauspiel so leicht und mühelos erlebe; denn es ist eigentlich der Preis, den die Natur für ein jahre- oder mindestens monatelanges mühe- und gefahrvolles Leben und Wandern im Eise und über das Eis ausgesetzt hat.


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