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30. Wir liegen vor der Eisbarriere von Craig

An Bord der »Nascopie« vor Craig Harbour.

Am Morgen nach dem Sturm lagen wir vor Craig. Noch immer ging das Meer hoch, und die »Nascopie« zerrte an ihren Ankerketten wie die Hunde an den Leinen, die sie an der Reling festhielten. Aber die steilen, bis zur halben Höhe mit Schnee bedeckten Felsen der Smithinsel gewährten doch ein wenig Schutz.

Der Himmel war wie eine Dekoration aus dem »Fliegenden Holländer«. Die großen zerfetzten Wolkensoffitten gaben den Blick auf Craig frei, das wie ein Loch im eisigen Felsen uns düster entgegen starrte.

Im Grunde besteht Craig nur aus einer Moräne oder dem Ausläufer der Moräne. Der Gletscher selbst bildet mit seiner weißen Masse den Hintergrund des Moränenkessels, den rechts und links Geröllhalden und steile Felsen einschließen. Es sieht aus, als rücke der Gletscher langsam vor, und als sei es nur eine Frage der Zeit, bis er den ganzen Kessel füllt. Nirgends ein Auslaß, nirgends ein Weg ins Freie, es sei denn über den Gletscher selbst oder die Felsen, und auch der führt nur zwischen neue Felsen und neue Gletscher. Die einzige freie Seite aber, die nach dem Meer zu, war durch Eis versperrt. Eine breite, weiße Mauer schloß die Bucht von einer Seite zur andern ab, und dieser Eiswall war so breit und dick, daß selbst die »Nascopie« nicht wagen konnte, ihn zu durchbrechen.

Hinter der gefrorenen Barrikade saßen die sechs Menschen, die die gesamte Bevölkerung von Ellesmereland bildeten, einer Insel so groß wie England.

Diese sechs Menschen waren der Korporal Stallworthy und die beiden Konstabler Hamilton und Munro von der Mounted Police, der Eskimo Nookapinguaq, sein achtzehnjähriger Sohn Sackinguaq und seine Frau Enalunguaq.

Seit drei Jahren saßen sie auf Ellesmereland, und seit zwei Jahren warteten sie darauf, daß sie abgelöst würden oder wenigstens Lebensmittel und Munition erhielten; denn die vorige arktische Expedition hatte der Eisverhältnisse wegen Ellesmereland nicht anlaufen können.

Wir hofften allerdings nur, daß diese sechs Menschen in Craig säßen und mit frohen Augen zum Schiff herüberblickten. Wissen konnte es niemand. Die Polizisten mit den Eskimos waren ja erst im Frühling von der Bachehalbinsel heruntergekommen, ungefähr 400 Kilometer nördlich, wo sich der Polizeiposten ursprünglich befand. Da es sich als unmöglich herausgestellt hatte, Bache mit Sicherheit regelmäßig zu erreichen und zu verproviantieren, hatte das Detachement den radiotelegraphischen Befehl erhalten, nach Craig aufzubrechen, wo es abgeholt werden sollte. In Craig war zuerst versuchsweise eine Polizeistation gegründet worden. Man hatte sie jedoch zugunsten von Bache aufgegeben, das sich jetzt als noch ungeeigneter erwies. Immerhin standen die Baracken noch, so daß das Detachement eine Unterkunft vorfand. Die Frage war nur, ob es noch über genügend Lebensmittel und Brennstoff verfügte. –

Die Polizeiposten in der Arktis haben alle Radioempfangs- aber keine Sendestationen. Man kann ihnen also Befehle senden, weiß aber nie, ob sie auch richtig erhalten werden. Immerhin war es Korporal Stallworthy gelungen, einen Eskimo über das Eis des Smithsundes nach Grönland hinüberzuschicken, der die 1800 Kilometer die grönländische Küste südlich hinunter glücklich zurücklegte und bis zur Radiostation Godhavn gelangte, dem dänischen Regierungssitz für das nördliche Grönland. Im Januar hatte die Regierung in Ottawa den Befehl zum Verlassen von Bache erteilt. Im Mai traf aus Godhavn der Funkspruch ein, daß er richtig erhalten wurde. Man wußte also, daß das Detachement im Januar noch wohlauf gewesen war. Ob das aber jetzt noch der Fall, und ob die 400 Kilometer lange Hundeschlittenreise glücklich zurückgelegt war, das wußte niemand, zumal Korporal Stallworthy dringend Munition und Lebensmittel angefordert hatte, die ihm doch wieder niemand anders bringen konnte als unser Schiff.

So herrschte begreiflicherweise an Bord eine ziemliche Unruhe, obgleich sich jedermann Mühe gab, seine Erregung zu verbergen. Aufregend war es, daß nicht das geringste Zeichen von Leben in oder um die Station zu erkennen war. Man entdeckte keinen Rauch, keine Fahne am Flaggenmast, geschweige denn lebende Wesen. Wir sahen nur die Gebäude der Station selbst am Rande der Bucht. Scheu und ängstlich drängten sie sich gegen die Felsen wie schutzsuchende Tiere. Aber sie schienen tot und starr und nichts verriet, daß Leben in ihnen herrschte.

Wenn wir nur in Verbindung mit der Küste hätten treten können! Aber dazu war einstweilen nicht die geringste Möglichkeit. Die »Nascopie« konnte nicht wagen, näher heranzufahren, und die See war viel zu schwer, um ein Boot hinabzulassen. Wir alle standen an der Reling, und Dutzende von Gläsern suchten den Strand und das Eis ab. Nichts, nicht das geringste Zeichen, daß da drüben Menschen auf uns warteten!

Von Stunde zu Stunde wuchs die nervöse Unruhe. Schließlich war unsere Zeit begrenzt. Die Spanne, in der wir noch auf freies Waser rechnen konnten, zählte nur mehr nach Tagen. Kam wieder Sturm und setzte der Eisgang ein, so konnte die Lage zwischen Smith Island und Craig für die »Nascopie« gefährlich, ja unhaltbar werden, und für den Kapitän ergab sich dann die furchtbar schwere Entscheidung, entweder die sechs Menschen aufzugeben, die seit zwei Jahren darauf warteten, von uns abgeholt zu werden oder das ganze Schiff aufs Spiel zu setzen.

Endlich hielt der Polizeiinspektor die nervöse Spannung nicht mehr aus. Eins der Rettungsboote wurde aufs Wasser hinabgelassen. Das Rettungsboot mit seinen Luftkästen war sicherer als das Motorboot, das wir sonst zum Verkehr mit der Küste benützen. Als das Boot auf dem Wasser tanzte und der Inspektor die Strickleiter hinabsteigen wollte, bat ich ihn, mich mitzunehmen. Er wies mich ab, zum erstenmal war er schroff und unliebenswürdig.

Schwer und mühsam erkämpfte das Rettungsboot sich einen Weg auf die weiße Mauer zu. Es hüpfte gleichsam über die Wellen, und hinter ihm tanzte das Schlittenboot, das der Inspektor für den Weg über das Eis mitgenommen hatte. Wir führen ein halbes Dutzend solcher Eisboote mit. Es sind flache, starke Boote mit Schlittenkufen. Man zieht sie auf dem Eis hinter sich her, um Wasserrinnen im Eisfeld überwinden zu können.

Hundert Augenpaare folgten gespannt dem Boot. Aber es hielt nicht an der Eismauer, sondern fuhr an ihr entlang. Augenscheinlich suchte es eine Wasserrinne. Schließlich entschwand es hinter Eisklötzen unsern Blicken.

Nach Stunden tauchte es wieder auf. Noch waren die Menschen im Boot nicht zu erkennen. Aber trotzdem begann alsbald ein aufgeregtes Zählen. Aber es wurden nicht mehr als ausgefahren waren, so viel wir auch zählten. Nichts. Sie kamen allein zurück. Niemand fragte. Es brauchte auch niemand fragen. Das Gesicht des Inspektors sagte genug.

Sie hatten niemanden gefunden und nichts gesehen. Allerdings hatten sie auch nicht über die Eismauer vordringen können. Sie bestand nicht, wie es vom Schiff aus schien, aus einer festen, wenn auch hochgetürmten Masse, sondern aus einer schwimmenden Unzahl von Schollen, Klötzen und Bergen. Man konnte sich weder auf sie noch zwischen sie wagen.

Wir trösteten uns. Der Wind würde nachlassen und damit auch die Eispressung in der Bucht. Die »Nascopie« würde näher heranfahren können und der Weg durch oder über die Eisschollen mit Boot oder Schlitten möglich werden. Wie gewöhnlich tönte der Gong zum Essen, und wie gewöhnlich setzen wir uns zu Tisch. Einer der jungen Leute drehte sogar das Grammophon an, aber die Stimmung blieb doch gedrückt.


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