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XXXVI.
Wiederholung und Schluss.

Fassen wir das Ergebnis der voranstehenden Untersuchungen kurz zusammen.

Nach den im vorigen Jahrhundert herrschenden philosophischen Anschauungen, welche aus der Geringschätzung der schlecht definierten metaphysischen Principien des Mittelalters und der vorwiegenden Betrachtung der materiellen Erscheinungen entsprangen, deren vordem mangelhaft bekannte Regelmässigkeit und Ordnung nunmehr die Erklärung für Alles zu bieten schien, beschränkte sich alle Wirklichkeit auf die Körper und ihre Beziehungen, und die sogenannte Philosophie der Natur mit ihren theoretischen und praktischen Folgesätzen stellte die gesamte Philosophie dar. Bei Beginn des Jahrhunderts fing der Gedanke sich immer mehr zu verbreiten an, dass diese Lehre weder unsere Begriffe von und unseren Glauben an ein Uebersinnliches noch auch die Natur selbst befriedigend zu erklären vermöge. Es bildete sich eine Philosophie, welche den Glauben an die Principien wieder aufrichtete, von denen die Sinne nichts lehren, die jedoch unsere Vernunft fordert und beweist. Dieselbe gewann bald die Oberhand und durch Lehrer von grossem Einfluss im Unterrichte zur Geltung gebracht, hat sie in demselben fast ausschliesslich bis zum heutigen Tage geherrscht.

Da jedoch die neue Philosophie noch von dem Lieblingsgedanken des vorangegangenen Jahrhunderts beherrscht war, dass die erste Quelle aller Erkenntnis in der nur mit den Erscheinungen sich beschäftigenden Erfahrung liege, und dass also die Methode der Beobachtung, welche die Naturwissenschaften anwenden, die einzig mögliche sei, so konnte diese Philosophie, sofern sie nicht gelegentlich eine andere Methode heranzog, von den Principien, welche sie wieder einführen wollte, nur unvollständige Begriffe und einen ungenügenden Beweis geben; sie hatte keine Sicherheit, ob diese vermeintlichen Principien nicht, wie Kant gelehrt hatte, auf blosse Begriffsformen hinausliefen, mittelst deren wir uns die Dinge unter gewissen Bedingungen der Verknüpfung vorstellen, ohne dass ihnen etwas Wirkliches entspricht.

Es hat sich auch in letzter Zeit gezeigt, wie diejenigen, welche die in Rede stehende Philosophie bis zu ihren letzten Konsequenzen verfolgten, auf eine Lehre gekommen sind, welche ausser den sinnlichen Erscheinungen nur Idealitäten annimmt, denen die Naturordnung zwar entspricht, die jedoch jeder Realität entbehren; man kann diese Lehre also als ein System des Idealismus bezeichnen, nicht des absoluten Idealismus, welcher die ganze Wirklichkeit auf Vorstellungen zurückführt, aber eines gemilderten Idealismus, der den in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen Realität zugesteht, aber allem, was von diesen Erscheinungen verschieden ist, wenn es auch zu ihrer Erklärung dient, nur die Art der Existenz zuschreibt, welche den blossen Vorstellungen eigen ist.

Einer Metaphysik gegenüber, in welcher den intelligibeln Principien der sinnlichen Erscheinungen sowenig Realität zuerkannt wurde, musste die Philosophie wieder zur Geltung kommen, welche Alles auf jene Erscheinungen allein zurückführt, und so hat unsere Zeit unter dem Namen des Positivismus einen neuen Materialismus entstehen sehen.

Indes haben sich seit der Zeit, wo der Materialismus in Blüte gestanden hatte, die Dinge doch in verschiedenen Beziehungen geändert.

Wir haben mehr als einmal zu bemerken Gelegenheit gefunden, dass der Materialismus im allgemeinen seinen Ursprung in denjenigen Wissenschaften hatte, welche die elementaren Bedingungen und die einfachsten Eigenschaften betrachten, die die Grundlage der Natur in materieller Hinsicht bilden; also in der Mathematik und Physik; dass dagegen die lebenden Wesen, bei denen man im organischen Reiche aufsteigend gewissermassen das Näherkommen des Geistigen spürt, den Spiritualismus lehren; und mehr noch als diese thun das die Erscheinungen des sittlichen und ästhetischen Gebietes, weil hier die Betrachtung des Ganzen, der Ordnung und Harmonie diejenige der Einzelnheiten und der Teile überwiegt; mit anderen Worten, weil hier die Betrachtung der Form wichtiger ist als die der Materie.

In unserer Zeit kommt es nun nicht mehr so oft vor als früher, dass man auf die Wissenschaften sich einschränkt, welche es mit dem Materiellen der Natur zu thun haben, ohne Rücksicht auf die zu nehmen, welche mit Dingen zusammengesetzter und höherer Art zu thun haben, ohne Fühlung zu behalten mit den Wissenschaften des Lebens, mit den schönen Künsten, mit der Poesie und überhaupt mit den Studien im sittlichen und geistigen Gebiete. Der Materialismus bleibt sich also unter diesem Einflusse nicht mehr treu, sondern allmählich umgestaltet verwandelt er sich zu einer ganz anderen Lehre, die mehr oder weniger dem Spiritualismus zuneigt.

In der That haben wir gesehen, wie sowohl die sogenannte positivistische als auch die ihr verwandten Lehren, nachdem sie anfänglich alles Seiende auf mehr oder weniger zusammengesetzte Verbindungen geometrischer und mechanischer Elemente und auf den rohen Mechanismus der Mitteilung der Bewegung zurückführten, schliesslich, wenn es sich um Dinge höherer Stufe, die trotz ihres verwickelten Baues ein harmonisches Ganze bilden, und um den Ursprung der Bewegung handelte, doch eine organisierende und schöpferische Idee, irgend ein massgebendes Ideal, mit einem Worte irgend eine zugleich wirkende und zwecksetzende Ursache herbeizogen, die sehr ähnlich den Principien der von ihnen bekämpften Philosophie war; endlich haben wir auch die mehr oder weniger materialistischen Lehren unserer Zeit näher oder entfernter vom Spiritualismus in eine Art Idealismus auslaufen sehen.

Wenn man sich möglichst genaue Rechenschaft abzulegen sucht über diese beiden Arten der Philosophie, von denen die eine nur die Materie der Dinge, die andere nur ihre Form betrachtet, so zeigt sich, dass die Gründe für dieselben in der vorwiegenden Beschäftigung einerseits mit den einfachsten, andrerseits mit den höchsten Stufen des Seins liegen, und forscht man weiter nach den Folgen dieses Umstandes, prüft man die Verschiedenheit der Wege, welche sie dem Denken vorschreiben, und die zu ganz entgegengesetzten Resultaten führen, so findet man, wie mir scheint, dass diese Wege den beiden methodischen Grundformen, der Analyse und der Synthese entsprechen.

Jedes Objekt, das man erforschen will, kann entweder mit Rücksicht auf seine Elemente oder auf die Einheit seiner Form betrachtet werden. Die Elemente bilden das Material, die Form ist die Art ihrer Vereinigung. Ein Objekt oder einen Gedanken in seine Elemente auflösen, heisst ihn in seine Materie auflösen. Ist ein Ganzes in seine Elemente, diese wieder in die ihrigen u. s. w. bis zu der letzten unzerlegbaren Einheit hinab zergliedert, so kann es scheinen, als ob man das Ganze erklärt, völlig Rechenschaft über dasselbe gegeben habe. Das ist vielleicht richtig bei den Gegenständen, deren Eigenschaften keine anderen sind als die der Elemente, d. h. den Gegenständen geometrischer und selbst mechanischer Art, wo die Teile das Ganze erklären und dazu dienen können, über dasselbe a priori Rechenschaft zu geben. Indem man nun auf eine höhere Stufe das Verfahren überträgt, welches auf der niederen Stufe der allgemeinen Bedingungen des materiellen Seins wahr befunden worden ist, so glaubt man alle Gegenstände, welcher Art sie auch seien, zu erklären, indem man sie zerlegt.

Nun kann man aber an den Dingen auch die Art der Vereinigung des Materiellen oder die Form betrachten; man kann untersuchen, wie sie sich mit einander verbinden und Gruppen bilden; das ist der Gesichtspunkt der Kombination oder Synthese. Derselbe ist wesentlich der Kunst eigentümlich, da die Kunst hauptsächlich in der Zusammensetzung, Konstruktion besteht, und vorzugsweise ist es der Gesichtspunkt der Poesie, welche beständig die entferntesten Dinge in Verbindung bringt und zu einem Ganzen verknüpft; endlich ist es auch der der Wissenschaft selbst, soweit sie mit der Kunst verwandte Aufgaben hat, also erfinderisch ist. Die Kunst die Data zu verknüpfen, wird mindestens eben so sehr wie die Analyse zur Lösung einer Aufgabe gebraucht. Man nimmt gewöhnlich an, dass die Induktion es mit der Aufzählung der Elemente der Thatsachen zu thun hat; das wäre Analyse. Jedoch hat schon vor langer Zeit der Erfinder der Infinitesimalrechnung bemerkt: »Wenn man mit Induktion, d. h. der Thätigkeit, welche auf die Sammlung von Beobachtungen gerichtet ist, nicht eine gewisse Kunst der Vermutung verbindet, so wird man zu Nichts kommen.« Und diese Kunst der Vermutung besteht nach der Erklärung eines bedeutenden Erfinders der Gegenwart darin, nach der vollzogenen Zerlegung der Dinge in ihre letzten Elemente auf die Analogie gestützt Hypothesen über ihre Beziehungen aufzustellen. Diese Hypothesen sind Arten der Verknüpfung oder der Kombination; Kombination, Synthese ist aber das Gegenteil der Analyse.

Allerdings hat Leibniz gesagt, dass die Analyse die Quelle der Erfindung sei, weil sie die Eigenschaften der ersten Elemente kennen lehrte; aber da, wo er tiefer in die Frage der Methoden eingeht, lehrt er, dass die Analyse hauptsächlich zum Urteilen diente, zur Erfindung aber die Synthese.

Wenn die Analyse in den positiven Wissenschaften besonders denen, welche sich mit Objekten sehr zusammengesetzter Art beschäftigen, von grossem Nutzen ist, so ist ihr Werth noch grösser für die Wissenschaft, welche über alle sinnliche Erfahrung hinausgeht, die Philosophie.

Unsere synthetischen Urteile beschränken sich nicht darauf, die Elemente der Dinge zu dem Ganzen zu verknüpfen, welches sie in der Erfahrung als Erscheinungen darstellen oder darstellen können. Es gibt noch andere, in denen wir über alles, was in der sinnlichen Erfahrung enthalten sein kann, hinausgehen; es sind die, welche Kant unter dem Namen synthetische Urteile a priori hervorgehoben hat. Indem er jedoch dieselben nur als eine Unterordnung der Erfahrungsgegenstände unter die Bedingungen des empirischen Zusammenhangs sah, in welchem wir dieselben uns allein vorstellen können, so hat er vielleicht das Princip derselben nicht tief genug gesucht. Wir subsumiren durch unsere synthetischen Urteile a priori die sinnlichen Objekte nicht nur unter die Bedingungen des Raumes und der Zeit, sondern unter höhere Gesetze, von denen jene zweifellos erst abgeleitet sind.

Wir haben das Bedürfnis nach Abgeschlossenheit und Vollendung, für welche wir das Musterbild in uns tragen; nach diesem Muster urteilen wir über Alles.

Aus Nichts kommt Nichts, sagte von Anfang an die Weisheit des Altertums. – Nichts geschieht, Nichts existirt, sagte Leibniz, wofür es keinen Grund gibt; und nach einem Worte Spinoza's ist Alles nur unter dem Gesichtspunkte der Ewigkeit begreiflich; man könnte noch allgemeiner sagen, unter einer Form der Ewigkeit oder Vollendung: lauter gleichbedeutende Sätze. Wenn Nichts von Nichts kommt, so muss, da alles bedingte Sein verglichen mit dem absoluten Sein nur ein Nichts ist, alles zuletzt von dem unendlichen und absoluten Sein abhängen. Wenn Alles einen Grund hat, so muss sich Alles zuletzt auf einen Grund stützen, der seine Berechtigung in sich selbst hat, also auf ein Unendliches und Absolutes. Daher das synthetische Urteil, durch welches wir a priori jede Thatsache auf eine Ursache beziehen.

Descartes sagte: »Das Urteil, dass eine Sache beginnt, dass sie neu ist, ist ein Gedanke, welchen die Sinne nicht erklären: ein reiner Begriff;« er hätte noch hinzusetzen können, und das war ohne Zweifel seine Meinung: es ist ein Begriff, der die Vorstellung des Seienden als des Gegensatzes zum Nichtseienden, des Ewigen als des Gegensatzes zum Anfangenden, kurz den Begriff eines Etwas einschliesst, an welchem jedes Anfangende und jedes Endliche bemessen wird.

Es ist nicht zu begreifen, wie Hamilton lehrt, dass Etwas im absoluten Sinne beginnt; dies sei die Grundlage des sogenannten Causal-Axioms: wenn Etwas zu beginnen scheine, so setzen wir sogleich gewissermassen eine frühere Existenz desselben in der Ursache voraus.

Aber weiter entspringt Alles, was geschieht, nicht bloss irgendwoher, sondern wird auch zu Etwas. Wir erkennen es als notwendig, dass die Ursache ausser dem Grunde des Anfanges auch das Ziel einschliesst, dem das Geschehen zustrebt. Jede Ursache wird also so gedacht, dass sie der Wirkung in jeder Hinsicht übergeordnet ist und mit ihrer Unendlichkeit die Endlichkeit derselben einschliesst.

Nicht nur erscheint uns, nach der Lehre Kants, jedes Phänomen durch eine Zeit und einen Raum bestimmt, welche dasselbe in jedem Sinne einschliessen, und denen selbst man keine Grenzen anweisen kann, sondern nach den sinnlichen und äusseren Bedingungen des Seins ist eine Erscheinung notwendig Veränderung oder Bewegung; jede Bewegung erfordert aber zur Erklärung der Einheit in ihrer Mannigfaltigkeit ein Einfaches als ihre Quelle; als ein Unvollendetes und Virtuelles erfordert sie ein Princip, von welchem ihr in jedem Augenblicke ihres Fortganges das kommt, was sie gewinnt, und welches also das aktuell enthält, was in der Bewegung entsteht. Dies Princip, aus dem die Bewegung wie aus ihrer Quelle entspringt, diese notwendige Grundlage der Bewegung ist das Streben oder die Bemühung; das Streben ist nicht wie die Bewegung, in welcher es zur Erscheinung kommt, ein Gegenstand der Sinne oder der Einbildung, sondern wird nur im innersten Bewusstsein in dem Typus des Wollens erkannt.

Handelt es sich nur um die Einzelnheiten der physischen und mechanischen Erscheinungen, so scheint es nicht ganz unmöglich, dass zur Erklärung einer Erscheinung eine andere ausreiche; es lässt sich leicht übersehen, dass man zur Erklärung des Unvollendeten auf ein Vollendetes, Absolutes zurückgehen muss. Bei den organisierten Wesen steht die Sache anders. Wir haben einen äusserst complicirten Mechanismus vor uns, mit dem durchdringenden Auge eines Pascal oder Leibniz betrachtet, einen Mechanismus von unendlicher Complikation; doch wirkt in demselben Alles zusammen, Alles harmonisirt. Hier haben wir nicht nur den unbestimmten und leeren Gedanken einer Ursache, welche nötig ist: wir begreifen, dass die Ursache etwas dem Aehnliches sein muss, wie bei einem Werke von uns die Idee der Zusammensetzung und Anordnung, der Gedanke, welcher macht, dass alle Teile zum selben Zwecke zusammenstimmen. Mit anderen Worten, bei Betrachtung der so vielgliedrigen Einheit der Organismen gewinnt das synthetische Urteil, durch welches wir dieselbe auf eine Ursache beziehen, seine nähere Bestimmung und seine volle Bedeutung. Statt zur Erklärung der Erscheinungen bei dem einfachen Begriffe der wirkenden Ursache oder Kraft stehen zu bleiben, einem unvollständigen und leeren Gedanken, kommen wir jetzt zu einer Auffassung der Ursachen, die unserer inneren Erfahrung näher steht und einen vollen Inhalt hat, von Ursachen, die zugleich wirkende und zwecksetzende, und gerade dadurch wirkende sind, dass sie zwecksetzende sind, und deren wenigstens relative Abgeschlossenheit den Seinsgrund für alle die Elemente bildet, welche mit Rücksicht auf dieselbe erst ihre volle Bedeutung, und für alle diejenigen Mittel, welche mit Rücksicht auf dieselbe erst ihren Zweck gewinnen. Diesen Sinn hat das synthetische Urteil, in welchem wir bei den organisirten und mehr noch bei den geistigen und sittlichen Wesen das, was an ihnen Unvollendetes ist durch den Gedanken der Vollkommenheit, der sie ihrer Natur nach zustreben, ergänzen. Diesen Gesichtspunkt gewinnen auf dem Wege der Synthese, wenn auch vielleicht ohne sich Rechenschaft davon abzulegen, alle die Theorien, von denen wir sahen, dass sie von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus im selben Idealismus zusammentreffen. Auf diesem Wege kann man bei keinem beschränkten und unabgeschlossenen Begriffe stehen bleiben. Mit Plato, mit Kant und den Urhebern der meisten idealistischen Systeme, die wir besprochen haben, muss man von Stufe zu Stufe bis zu dem Begriffe eines obersten Ideals fortschreiten, von welchem alle besonderen Begriffe nur unvollständige Ansichten, beschränkte Ausdrucksweisen sind.

Die Analyse, welche durch Zerlegungen zu immer einfacheren Elementen fortschreitet, hat das Bestreben, Alles in ein absolut Unfertiges aufzulösen, welches weder Form noch Ordnung einschliesst. Indem sie das Höhere auf das Niedere zurückführt, das Denken auf das Leben, das Leben auf die Bewegung, und die Bewegung auf eine Veränderung der Beziehungen toter und passiver Körper, führt sie Alles auf Trägheit und Erstarrung zurück. Und wenn es wahr ist, was schon das Altertum erkannte und Aristoteles und Leibniz bewiesen, dass nicht wirken in Wahrheit nicht sein bedeutet, so kann man sagen, dass die Analyse, ausschliesslich angewandt, von Stufe zu Stufe zum Nichts führt. Die Synthese, welche zu immer höheren Principien der Verknüpfung aufsteigt, die immer unabhängiger werden von materiellen Bedingungen, hat die Tendenz, alles durch das absolut Vollkommene, in keiner Weise Beschränkte zu erklären; sie strebt also von Stufe zu Stufe dem Unendlichen zu.

Beschränkt man sich jedoch, wie es die meisten der betrachteten idealistischen Systeme gethan haben, darauf, das Princip der Zusammensetzung, welches dem Materiellen seine Form gibt, unter dem allgemeinen Begriffe einer mit der Vielheit des Materiellen coordinirten Einheit aufzufassen, welche nur durch Abstraktion von den besonderen und unterscheidenden Umständen fixirt wird, so wie man die Pflanze im allgemeinen von diesen und jenen besonderen Pflanzen unterscheidet, dann stellt das Ideale, statt das abschliessende Vollendete zu sein, dem gegenüber die Erscheinungen das Unvollendete und Beginnende bedeuten, in Wahrheit nur den Umriss und ein Schema derselben vor. Das so gedachte Ideale ist eigentlich nicht, was der Idealismus doch wünschte, die Form oder das Einheitsprincip für das Materielle, sondern vielmehr eine in den Erscheinungen eingeschlossene Beziehung, nach dem Muster wie eine Figur eine einfachere und ein Begriff den einfacheren einschliesst. Zu diesem Idealen ist man also nicht, wie es zunächst scheint, auf dem Wege der Synthese, sondern auf dem der Analyse gekommen. Es soll den Zweck bezeichnen, dem die Bewegung in der Natur zustrebt, und ist bei genauerer Betrachtung doch nur der Begriff des vereinfachten Typus, auf welchen man ein Wirkliches durch die Entkleidung von seinen besonderen Attributen zurückführt; und während man sich gradweise zur absoluten Vollkommenheit zu erheben glaubt, so steigt man vielmehr durch fortgehende Vereinfachung und also Verallgemeinerung hinab bis zu dem Begriffe des Seins im allgemeinen, welcher nur der Ausdruck für die höchste erreichbare Stufe der Abstraktion ist, und jeder anderen Bestimmung bar nahe mit dem Begriffe eines Nichts zusammen fällt; man steigt, wie Aristoteles den Platonikern vorwarf, stufenweise von einem gegebenen Grade der Vollkommenheit bis zur tiefsten Unvollkommenheit hinab.

So wenden also diese beiden so verschiedenen Lehren, von denen die eine sich nur an die sinnlichen Eigenschaften der Dinge hält, während die andere das Wesen der Dinge in den Begriffen zu erfassen glaubt, welche der Geist sich durch Abstraktion von denselben bildet, im Grunde eine ähnliche Methode an, indem die erstere die Objekte in ihre materiellen Elemente zerlegt, die zweite, nachdem sie die Erscheinungen durch eine Art Synthese auf einen Begriff bezogen hat, von welchem sie in immer umfassenderen Synthesen fortzuschreiten vermeint, in Wahrheit ihren Begriff nur in seine logischen Elemente zerlegt; so verfolgen also beide auf verschiedenen Wegen dieselbe Richtung, entfernen sich demgemäs in gleicher Weise von der vollen und vollendeten Wirklichkeit und steuern dem Abgrunde des Nihilismus zu.

Der Materialismus, welcher sich einbildet, auf dem Wege der analytischen Vereinfachung vom Unwesentlichen zum Wesentlichen zu gelangen, führt Alles nur auf die allgemeinsten Grundbedingungen des physischen Seins zurück, welche das Minimum der Realität bezeichnen.

Der Idealismus, welcher auf dem Wege der Verallgemeinerung, die die specifischen und unterscheidenden Merkmale ausscheidet, zu den höchsten Formen des geistigen Seins und zu dem Ideal der Vollkommenheit zu gelangen sucht, führt Alles auf die logischen Grundverhältnisse zurück, welche das Minimum der Vollkommenheit und Vergeistigung bezeichnen.

Es hat eben weder der Idealismus noch der Materialismus den einzig richtigen Gesichtspunkt erfasst, von welchem aus man das zu vernachlässigende Unwesentliche herausfindet, was Sache der Analyse ist, um auf dem wahrhaft synthetischen Wege zum Wesentlichen zu gelangen; es ist dies ein Gesichtspunkt, von welchem aus man unmittelbar und mit einem Blicke das Wesentliche erkennt, und er liegt in dem Bewusstsein der absoluten inneren Selbstthätigkeit, in welcher Wirklichkeit und Vollendung in Eins verbunden sind.

Wenn wir in uns selbst zurückgehen, so finden wir uns im Mittelpunkte einer Welt von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, Begriffen, Wünschen, Willenshandlungen und Erinnerungen; ein bewegtes Meer ohne Grund und Ufer, welches doch ganz unser ist, welches Nichts Anderes ist, als wir selbst. Wie so ist es unser, unser eigenes Selbst? Weil wir in jedem Augenblicke und an jedem Punkte dieses vielgestaltigen inneren Wogens die flüchtigen Mannigfaltigkeiten desselben zu Gruppen und Totalitäten verknüpfen, deren Band die einheitliche Thätigkeit ist, durch welche wir dieselben erzeugen.

In der That, wenn wir untersuchen, in welcher Weise diese Ursache, die wir selbst sind, das thut, was sie thut, so finden wir, dass ihre Thätigkeit in der denkenden Setzung einer Ordnung, eines Zweckes besteht, zu welchem die unbekannten Kräfte, die unsere gesamte Individualität verborgen enthält, zusammenwirken. Wir nehmen uns irgend einen Gegenstand, einen Gedanken oder den Ausdruck eines Gedankens vor, und sofort steigt aus der Tiefe des Gedächtnisses alles das auf, was von den Schätzen desselben zu diesem Zwecke dienlich ist. Wir wollen irgend eine Bewegung, und unter dem vermittelnden Einflüsse der Phantasie, welche die Befehle des Verstandes gewissermassen in die Sprache der Sinnlichkeit übersetzt, treten aus dem Grunde unseres Wesens elementare Bewegungen hervor, als deren Ziel und Resultat die gewollte Bewegung sich ergibt, So kamen, nach der Sage der Alten, durch einen Gesang angetrieben die Materialien herbei und ordneten sich wie von selbst zu Mauern und Thürmen.

Was bedeutet denn nun ein Begriff, welchen unser Denken ins Auge fasst, und der gewissermassen auf Grund seines hohen Ranges die niederen Kräfte in seinen Dienst ruft? Es ist unser Denken selbst auf der höchsten Stufe seiner aktiven Realität, die es unter gegebenen Umständen erlangen kann. Was bedeuten jene Kräfte, welche die Idee heranzieht, und die in derselben zur Verwirklichung gelangen? Es sind ebenfalls Begriffe, Begriffe die ebenfalls unser sind, also wiederum unser Denken, wenn auch in einem Zustande, in welchem es gewissermassen ausser sich selbst herausgetreten und sich selbst fremd geworden ist.

Auf Grund der Erfahrung ist also die Triebfeder des ganzen inneren Lebens das Denken oder die intellektuelle Thätigkeit, welche sich aus einem Zustande der Zerstreutheit und der Verwirrung wieder sammelt, durch einen Prozess der Wiedervereinigung zur Einheit eines Bewusstseins aktive Existenz gewinnt, und gewissermassen aus einem Zustande des Schlafes und des Traumes in den wachen Zustand zurückkehrt. Wenn in der Sage die Steine dem Rufe des Gesanges folgen, so geschieht das, weil in diesen Steinen selbst eine wenn auch stumme und unvernehmbare Melodie liegt, die angeschlagen das Virtuelle zur Wirklichkeit bringt. Zu bemerken ist noch, dass, wenn die bedingte Vollkommenheit unseres Denkens die Ursache von allem ist, was in uns vorgeht, diese doch wiederum eine Ursache haben muss, welche das absolut Vollkommene ist.

Unsere Persönlichkeit, welche auf unserem bewussten Willen beruht, besteht im Ganzen genommen darin, dass wir einen Genius im Sinne der Alten darstellen, ein schöpferisches Princip oder auch eine untergeordnete Gottheit, deren Machtbereich beschränkt ist; dieser Genius, diese Gottheit vermag Alles nur durch die höhere Kraft des allbeherrschenden Gottes, der sie untergeordnet ist, und dieser ist das absolute Gute und die unendliche Liebe. Und dieser grosse Gott ist uns nicht fern. Er ist der Massstab, an dem wir unsere Gedanken vergleichen und messen, oder der vielmehr dieselben in uns misst; als der Gedanke unserer Gedanken, die Vernunft unserer Vernunft ist er das Innerste unseres Inneren; »in ihm und durch ihn leben, weben und sind wir«. »Wir«, so könnte man sagen, das ist Er vielmehr als wir selbst, die wir beständig und in tausend Beziehungen uns fremd sind.

Während Malebranche lehrte, dass wir Alles in Gott sehen ausser unser Selbst, von dem wir nach seiner Annahme nur ein dunkles Gefühl haben, so muss man wohl richtiger sagen, dass wir Alles in Gott deshalb sehen, weil wir uns selbst nur in ihm sehen.

Um das Gesagte zusammenzufassen: Es gibt eine synthetische Operation, durch welche wir beim Anblick einer Thatsache dieselbe nicht einfach auf eine vorangegangene Thatsache beziehen, sie nicht nur in eine allgemeinere und einfachere Thatsache auflösen, womit die physikalische Ursache bestimmt wird; sondern durch die wir die Thatsache auf eine wahre Ursache beziehen, nämlich auf die Thätigkeit eines ihr an Vollendung überlegenen Princips.

Und für diese synthetische Operation, welche im Gegensatz zur Analyse das eigentliche philosophische Verfahren bildet, gibt es einen notwendigen Gesichtspunkt; dieser Gesichtspunkt bestimmt die Methode des höheren Philosophirens, der Metaphysik (wenn man ein einfaches und unzerlegbares Verfahren noch als Methode bezeichnen kann): er liegt in dem unmittelbaren Bewusstsein, in der Reflexion auf uns selbst und dadurch auf das Absolute, an dem wir Teil haben, auf die höchste Ursache oder den höchsten Grund.

In der Perspektive gibt es einen Blickpunkt und nur einen einzigen; von allen anderen Seiten betrachtet zeigt sie falsche Proportionen und Unregelmässigkeiten; von jenem Punkte aus erscheint sie in allen ihren Teilen richtig und stellt ein harmonisches Ganzes dar. Man kann sagen, dass die Weltperspektive ihren Blickpunkt und ihren einzigen Blickpunkt im Unendlichen oder Absoluten hat. Eine absolut vollendete Persönlichkeit, die Unendlichkeit der Weisheit und Liebe bildet das perspektivische Centrum, von dem aus das in unserer unvollendeten Persönlichkeit gegebene System und folglich auch dasjenige alles anderen Seins begreiflich wird.

Die innere Verfassung unseres Wesens, welche das unmittelbare Bewusstsein uns kennen lehrt, finden wir, durch Analogie geleitet, überall wieder. Ausschliesslich nach dem Vorbild unserer inneren Organisation verstehen wir alle belebten Wesen, als Dinge, welche ungeachtet ihres zusammengesetzten Baues und im Contrast mit diesem nur um so deutlicher in sich selbst ein Princip und einen Zweck ihrer Bewegungen, oder besser gesagt eine Ursache offenbaren, welche das Princip derselben ist, weil sie ihr Zweck ist; Dinge, die wie Gott und die Seele, wenn auch in geringerem Grade, Ursachen ihrer selbst sind, kurz Dinge, welche mehr oder weniger Analogie mit Persönlichkeiten haben.

Wenn wir nach der Seele den Organismus betrachten, mit dem sie in unmittelbarer Beziehung steht, so sehen wir, dass die höchste seiner Funktionen, aus der vielleicht alle anderen zuletzt zu erklären sind, die willkürliche Bewegung ist. Wie soll man einen Organismus besser definieren denn als eine Maschine, die sich selbst Bewegung gibt? Schon Aristoteles bemerkte, dass der vollkommenste aller Organismen, der Leib des Menschen, sich vor allen anderen durch die ausserordentliche Entwickelung der willkürlichen Bewegungen und ihrer Werkzeuge auszeichnet. Ist nun diese Funktion der willkürlichen Bewegung, welche allen anderen überlegen in dem vollendetsten Geschöpf ihre höchste Ausbildung erlangt, in verschiedenen und beim Herabsteigen in der Tierreihe immer undeutlicheren Formen nicht die Grundfunktion, auf welcher alle anderen beruhen?

Nach den Anschauungen, welche Claude Bernard kürzlich entwickelt hat, und in denen er seine früheren Darlegungen in der »Einleitung zur experimentellen Medicin« mit vollendeter Klarheit zusammenfasst, lassen sich alle an den Organismen auftretenden Erscheinungen an sich auf physikalische und chemische von ganz derselben Art zurückführen, wie sie die leblosen Körper darbieten, und wie wir sie künstlich erzeugen. Das Besondere liegt in der Art und Weise, wie sich an den lebenden Wesen diese Erscheinungen vollziehen mit Hilfe von Werkzeugen, deren Bildung wir nicht begreifen können, und die unsere Kunst nicht nacherzeugen kann. Dürfte man nicht weiter hinzufügen, dass die eigentümliche Art, in der sich die physikalisch-chemischen Processe an den lebenden Wesen vollziehen, darin liegt, dass diese Wesen durch willkürliche Thätigkeiten je nach dem umgebenden Medium ihren Organen solche Stellungen anweisen, dass sofort diese und jene physikalisch-chemischen Processe eingeleitet werden; und dass also, wie die Organismen insgesammt definiert werden können als Maschinen, die sich selbst bewegen, so auch die Organe, in welche sie bis ins Unendliche sich gliedern, als selbstthätige Werkzeuge der Bewegung zu bezeichnen sind? Könnte man nicht ferner sagen, dass diese Maschinen selbst, die Produkte einer unser Verständnis übersteigenden Kunst, das Ergebnis eines harmonischen Zusammenwirkens primitiver spontaner Bewegungen sind? Und könnte man nicht schliesslich behaupten, dass, wenn wir die Erzeugung und Ausbesserung der lebenden Maschinen nicht verstehen und also auch ausser Stande sind, sie nachzumachen, dies seinen Grund eben darin hat, dass dieselben Erzeugnisse ursprünglicher spontaner Bewegungen sind, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen und deshalb nicht Gegenstände der Berechnung und Schlussfolgerung sein können?

Und eben so steht es mutmasslich mit den inneren unwahrnehmbaren Bewegungen, durch welche die Kristallisation sich vollzieht, welche man wagen könnte als die Organisation der unorganischen Körper zu bezeichnen. Was die physikalischen und chemischen Erscheinungen betrifft, sei es an organisierten Körpern, sei es an den anderen, so geht das Streben der modernen Wissenschaft dahin, dieselben auf besondere Formen des mechanischen Geschehens, auf eine einfache Zusammensetzung von Bewegungen zurückzuführen, und statt diese Bewegungen durch Affinitäten und Anziehungen zu erklären, über die man nur aus Zweckbegriffen Rechenschaft ablegen könnte, sie als Wirkungen des Stosses benachbarter Körper aufzufassen, entsprechend den allgemeinen physikalischen Grundsätzen von Descartes und Leibniz. Wenn man beim Stosse und der aus ihm hervorgehenden Mitteilung der Bewegung anlangt, so scheint Alles erklärt zu sein, da diese so einfache Erscheinung, welcher wir überall zu begegnen gewöhnt sind, ihre eigene Erklärung zu enthalten scheint, und folglich gewinnt es den Anschein, als ob die Theorie des Weltmechanismus, welche alle Funktionen der Organismen und alle physikalisch-chemischen Prozesse auf eine Fortpflanzung der Bewegung durch den Stoss zurückführt, die Aufgabe aller Wissenschaft löse.

Wenn man jedoch jene so einfache Erscheinung näher betrachtet, so wird man finden, dass sie selbst das in sich schliesst, an dessen Stelle sie gesetzt werden sollte, die Spontaneität. Bei der Mitteilung der Bewegung durch Stoss scheint es nur Passivität zu geben; Leibniz hat jedoch nachgewiesen, dass dieselbe auf Elasticität beruht; und diese kann man sich, wie er gezeigt hat, nur als eine wechselseitige Einwirkung denken, auf Grund deren die innere Bewegung, welche die Teilchen vorher besassen, sich umwandelt in eine fortschreitende Bewegung des Ganzen, statt dass man annimmt, die Bewegung des stossenden Körpers verschwinde, um in der des bewegenden wieder zum Vorschein zu kommen. Wenn nun im Stoss die Bewegung, statt zu verschwinden und wieder hervorzutreten, sich nur umwandelt, wenn also in allen den zahllosen Zusammenstössen immer dieselbe Menge der Kraft erhalten bleibt, so kommt das daher, dass ein Körper, einmal in Bewegung gesetzt, in derselben verharrt. Darin zeigt sich jene Trägheit, welche Kepler zuerst in die Mechanik einführte, deren Grundprincip sie seitdem geworden ist, und die nach Leibniz eine beharrliche dem Willen mit seinen schwankenden Entschlüssen scheinbar entgegengesetzte aber doch im Grunde mit ihm identische Tendenz darstellt. Das was in der Seele das angeborene Bestreben ist, in der ihr wesentlichen Thätigkeit zu verharren und, wenn dieselbe gestört wird, sie wiederherzustellen, dasselbe ist in der Materie die Trägheit mit der aus ihr entspringenden Widerstandskraft. Wenn man also selbst zugiebt, dass die lebenden kein besonderes Princip einschliessen, das der selbstbewussten Seele in uns entspräche, und dass man sie nach denselben Gesetzen, wie die toten Körper begreifen kann, und ferner zugibt, dass man bei der Betrachtung der letzteren jedes besondere Princip des Zusammenhangs und der Einheit entbehren und sie auf einfache Anhäufungen materieller Teilchen zurückführen kann, welche durch die zufälligen äusseren Bewegungen zusammengehalten werden, eine Theorie, die den eigentlichen Materialismus ausmacht, so ist man doch, um die von der rohen Materie in ihren Bewegungen eingehaltenen Gesetze zu begreifen, gezwungen, mit dem Begriffe derselben noch denjenigen eines Etwas zu verbinden, das, in unbestimmter Weise als Kraft oder Vermögen bezeichnet, sich als ein Gegenstück und eine Folgeerscheinung des Wollens und Denkens darstellt,

Aber weiter enthält auch abgesehen von den verschiedenen Gesetzen der Bewegung der Begriff der Bewegung selbst noch etwas mehr als seine äussere und materielle Seite. Descartes, der so gut die Quelle des Begriffes der Thätigkeit im Geiste aufzuzeigen wusste, der aber gerade deshalb Bedenken trug, denselben auf die äussere Natur auszudehnen, Descartes definirt die Bewegung durch die successiven Beziehungen der Körper im Raume. Leibniz aber zeigte, dass sich kein Unterschied zwischen einem in seinen einzelnen Lagen betrachteten bewegten und einem ruhenden Körper angeben lasse, wenn man nicht das Bestreben berücksichtigt, in eine andere Lage überzugehen, welches der bewegte Körper in jedem Moment hat. Alle Bewegung ist also im Grunde ein Streben. Das Streben oder die Bemühung, so lehrte Leibniz, ist das Reelle an der Bewegung; alles Uebrige sind nur Beziehungen. Die Körper erfahren demnach, wie er behauptet, von anderen Körpern nur eine Beschränkung oder nähere Bestimmung ihres Strebens; um das Streben selbst und die ursprüngliche Richtung desselben zu erklären, muss man auf die Macht zurückgehen, welche sie schuf. – Diese Beweisführung ist im Grunde dieselbe als die, durch welche Aristoteles seiner Zeit bewies, dass man, um die Bewegung zu erklären, aus der Reihenfolge der Erscheinungen heraus, selbst wenn diese eine ewige sein sollte, zu einem ersten Beweger aufsteigen muss, der selbst nicht in Bewegung sondern in einer immateriellen Thätigkeit begriffen ist, welche die in gewissem Sinne inneren Ursachen der Bewegung bestimmt. Alles geschieht mechanisch, sagte der Begründer der Lehre der prästabilirten Harmonie, und er meinte damit, dass jede Erscheinung in einer anderen ihren bestimmenden Grund hat; aber, so fügte er hinzu, der Mechanismus selbst hat ein Princip, welches ausserhalb der Materie zu suchen ist, und das die Metaphysik allein kennen lehrt.

Er wollte damit sagen, dass, wenn jede Bewegung in einer vorangegangenen Bewegung ihre physische Bedingung hat, ihr erzeugendes Princip, ihre Ursache in einer Thätigkeit liegt, welche sich in letzter Linie nur aus der Macht des Guten und Schönen erklärt. »Die mechanischen Principien, deren Folgerungen die Gesetze der Bewegung sind, können, so sagte er, nicht aus dem Passiven, dem Geometrischen oder Materiellen abgeleitet und nicht durch die mathematischen Axiome allein bewiesen werden. Um die Grundgesetze der Mechanik zu erklären, muss man in die Metaphysik und auf die Principien der Zweckmässigkeit zurückgehen, welche für die Seelen massgebend sind, und die nicht weniger Gewissheit besitzen, als die der Mathematiker.«

Die Quelle des Mechanismus, so sagt er weiter, ist die ursprüngliche Kraft; mit anderen Worten, die Gesetze der Bewegung, nach denen aus dieser Kraft die abgeleiteten Kräfte oder Impulse entstehen, entspringen aus der Vorstellung des Guten und Ueblen also des Zweckmässigen. Die wirkenden Ursachen hängen also von den Zweckursachen ab; das Geistige ist in der Natur früher als das Materielle, wie es demselben auch im Erkennen vorangeht, da wir die Seele, welche uns vertraut ist, mehr von innen auffassen als das Körperliche, wie Plato und Descartes bemerkt haben. Man darf vielleicht noch weiter gehen, als der Wortlaut dieser bemerkenswerten Sätze besagt. Da die physischen Ursachen nicht wirkende Ursachen sind, sondern nur Bedingungen, deren zeitliche Reihenfolge die Stufen der Vollendung des Zweckes durch die Mittel in umgekehrter Ordnung vorstellt, so darf man vielleicht sagen: die wirkenden Ursachen reduciren sich auf Zweckursachen. Daher bietet auch, wie ebenfalls der so oft angeführte tiefe Denker gesagt hat, die Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen, weit entfernt ein unerträgliches notwendiges Verhängnis zu bedeuten, vielmehr ein Beweismittel dar, um diesen Begriff aufzuheben.

Alles hat seinen Grund, sagte Leibniz. Daraus folgt, dass alles notwendig ist; und in der That ohne Notwendigkeit giebt es keine Gewissheit; ohne Gewissheit keine Wissenschaft. Aber es giebt zwei Arten der Notwendigkeit: eine absolute, die logische Notwendigkeit, und eine relative, die moralische Notwendigkeit, welche mit der Freiheit vereinbar ist; ebenso zwei Arten von Gründen, logische und Zweckgründe. Es giebt eine absolute Notwendigkeit, das ist die, welche in letzter Linie in dem Princip wurzelt, dass eine Sache nicht das nicht sein kann, was sie ist, dem Princip der Identität, aus welchem der oberste Grundsatz aller Schlüsse entspringt, dass wenn ein Begriff einen anderen enthält, er auch alles das enthält, was dieser enthält. Bemerken wir noch, dass das Schliessen nicht, wie es scheint, in progressiver Weise vom Einfachsten zum Zusammengesetzten, sondern vielmehr regressiv vom Zusammengesetzten zum Einfachen fortschreitet. Schliessen heisst von einem Begriffe auf die in ihm enthaltenen Begriffe übergehen, also auf einfachere, ohne welche der erstere nicht sein kann; Folge ist eigentlich Bedingung. Bemerken wir weiter, dass die Notwendigkeit, welche aus der Beziehung des Enthaltenseins hervorgeht, und die an den verglichenen Begriffen haftet, die mathematische Notwendigkeit ausmacht, da Mathematik nur eine auf Grössen angewandte Logik ist.

Eine andere Art von Notwendigkeit ist die, welche uns bestimmt das zu thun, was wir für das Beste halten; diese schliesst nicht wie die erstere die Freiheit aus, sondern begreift sie vielmehr ein. Der Weise kann nicht umhin das Gute zu thun. Ist er deswegen weniger frei? der vielmehr ist es, den die Leidenschaften unterjochen, der unentschieden zwischen dem Guten und dem Bösen schwankt. Der Weise, der das Gute wählt, wählt es unfehlbar und zugleich mit dem freiesten Willen. Das Gute oder das Schöne ist ja in Wahrheit Nichts Anderes als die Liebe, welche den Willen in seiner ganzen Reinheit darstellt; das Wahre wollen heisst sich selbst wollen.

»Ueberall, sagt Leibniz, ist Geometrie und überall ist Moral.« Das heisst selbst in dem Moralischen (Geistigen) gibt es ein Geometrisches, und selbst im Geometrischen ein Moralisches. In der That unterliegen die moralischen Gegenstände, die Thatsachen der Seele und des Willens der geometrischen Notwendigkeit, sofern sich zwischen ihnen Verhältnisse der Identität und der Verschiedenheit finden; und andrerseits, wenn die Geometrie in ihren Entwickelungen alle rein moralische Notwendigkeit ausschliesst, so scheint sie doch, nach den neuesten Fortschritten, zur ersten Grundlage Principien der Harmonie zu haben, die man vielleicht mit Descartes, der alles von einem freien Entschluss Gottes abhängig dachte, als den sinnlichen Ausdruck des absoluten und unendlichen Willens betrachten darf. »Man behauptet, sagte Aristoteles, dass die Mathematik gar Nichts mit dem Begriffe des Guten zu thun hat. Sind denn Ordnung, Verhältnismässigkeit, Symmetrie nicht wesentliche Formen von Schönheit?«

Obwohl der geometrische Zusammenhang, da er im ganzen genommen dem moralischen Zusammenhange entgegengesetzt ist, von einem gewissen einseitigen Gesichtspunkte betrachtet, von der Philosophie entfernen kann, so hat doch Plato nicht umsonst gewünscht, dass der Philosoph zuerst Geometer sei.

Die Natur beruht nicht, wie der Materialismus lehrt, ganz auf Geometrie, also auf absoluter Notwendigkeit, auf einem Fatum. Das Moralische greift in sie ein; sie ist gewissermassen gemischt aus der absoluten Notwendigkeit, welche Zufälligkeit und Wollen ausschliesst, und der relativen, welche dieselben einschliesst; und das Moralische ist das Hauptsächliche in ihr. Die Natur zeigt, wenn man von den Zufälligkeiten absieht, die ihren regelmässigen Lauf scheinbar stören, aber tiefer betrachtet von denselben Gesetzen abhängen; die Natur zeigt überall einen gleichmässigen Fortschritt vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, vom schwachen und dunklen Leben zu immer kräftigerem Leben, das gleichzeitig immer erkennbarer und erkennender wird. Jede Stufe in derselben ist ferner ein Zweck für die vorangehende, eine Bedingung oder ein Mittel für die folgende. Daher kommt eine absolute und eine relative Notwendigkeit, welche in doppeltem Sinne Umkehrungen von einander sind. In der Logik besteht eine absolute Notwendigkeit in dem Verhältnis einer Behauptung zu ihren Bedingungen, in der Natur bestellt eine ähnliche Notwendigkeit im Verhältnis des Zweckes zu seinen Mitteln: der Zweck weist auf die Mittel. Dagegen dringt der Zweck sich nur mit der relativen Notwendigkeit auf, welche den Willen bestimmt. Daher führt allgemein gesprochen kein Ereignis mit absoluter und geometrischer Notwendigkeit zu einem folgenden Ereignis; nur in einem indirekten und uneigentlichen Sinne kann es als die Ursache des letzteren ausgegeben werden; in Wahrheit ist es immer nur eines der Elemente desselben und, wie wir oben sahen, ein negatives Element von relativer Notwendigkeit, ähnlich derjenigen der Motive, nach welchen unser freier Wille sich entscheidet; von moralischer Notwendigkeit also, die nicht ausschliesst, sondern vielmehr in sich begreift, dass die Ursache, von der man sagt, dass sie durch diese Notwendigkeit bestimmt werde, sich selbst bestimmt.

Nur scheinbar beherrscht also ein notwendiges Verhängnis die Welt, wenigstens beim normalen Lauf der Dinge; das Wahre ist die Spontaneität und Freiheit. Weit entfernt, dass Alles durch einen rohen Mechanismus oder den blinden Zufall geschehe, beruht Alles auf der Entfaltung eines Strebens zur Vollkommenheit, zum Guten und Schönen, welches gewissermassen die innere Springfeder ist, durch welche das Unendliche die Dinge treibt und in Bewegung setzt. Statt einem blinden Verhängnis zu unterliegen, gehorcht Alles und mit freiem Willen einer göttlichen Vorsehung.

Das soll nicht heissen, dass man zu dem Glauben der kindlichen Menschheit zurückkehren und sich vorstellen müsse, dass Alles in der Natur auf willkürlichen Willensakten beruht, die alle Voraussicht stören und alle Wissenschaft unmöglich machen würden. Wenn der Wille wie das Leben, dessen Princip er ist, Allem zu Grunde liegt, so hat doch auch der Wille wie das Leben seine Abstufungen.

Im Unendlichen, in Gott ist der Wille identisch mit der Liebe, die sich ihrerseits nicht vom Guten und der absoluten Schönheit unterscheidet. In uns wird der Wille, erfüllt zwar von jener Liebe aber auch mit der Sinnlichkeit verbunden, die ihm verzerrte und durch den Hintergrund, auf dem sie sich abzeichnen, veränderte Bilder des absoluten Guten vorspiegelt, sich oft über das Gute irren, dem er, ganz frei, immer zustreben würde, und wird, den unvollkommenen Gütern nachtrachtend, einen Teil seiner Unabhängigkeit einbüssen. In der Natur, der wir durch die niederen Bestandteile unseres Wesens angehören, steht der Wille, nur durch einen Schimmer von Vernunft erhellt, unter dem Einfluss irgend einer besonderen Bestimmung, welche seinen Beweggrund bildet, und der er ganz passiv zu gehorchen scheint. Doch bleibt es trotzdem wahr, dass selbst in dem dunklen Gebiete des körperlichen Lebens eine unklare Vorstellung des Guten und Schönen die letzte Quelle aller Bewegung bildet; dass die sogenannte Naturnotwendigkeit, wie Leibniz sagte, nur eine moralische Notwendigkeit ist, welche die Freiheit oder zum mindesten die Spontaneität nicht ausschliesst, sondern in sich begreift, Alles ist gesetzlich und gleichförmig und doch in seinem tiefsten Grunde ein Wollen.

Von dem Standpunkte der inneren Reflexion auf sich selbst aus, sieht also die Seele nicht nur sich selbst und in ihren tiefsten Innern das Unendliche, in dem sie wurzelt; sie erkennt sich auch, in mehr oder minder veränderter Form, abwärts steigend noch auf jener tiefsten Stufe des Seins wieder, wo in der Zerstreutheit der Materie alle Einheit verloren zu gehen und alle Selbstthätigkeit in der Verkettung der Erscheinungen zu verschwinden scheint. Da man von diesem Gesichtspunkte ausgehend in der Seele Alles das vorfindet, was in der Natur sich entwickelt, so begreift man den Satz des Aristoteles, dass die Seele der Ort aller Formen ist; da alle Objekte durch Gestalten im Raume die Phasen zur Anschauung bringen, welche die Seele in der Reihenfolge ihrer Zustände durchläuft, so begreift man den Satz des Leibniz, dass der Körper ein momentaner Geist ist; und da endlich die Seele im Fortschritte ihres Lebens die Bestimmungen nach einander entwickelt, welche das reine Denken wie in einer ungeteilten Gegenwart enthält, so begreift man jenen anderen Satz derselben Denker, welcher in einer kurzen Formel den Inhalt der platonischen Lehre ausdrückt, dass dasselbe, was sich in der Mannigfaltigkeit des Endlichen entwickelt, im Unendlichen zu einer Einheit concentrirt ist. Die Natur, so könnte man sagen, ist eine Brechungs- oder Zerstreuungserscheinung des Geistes.

Wenn dies nun der Gesichtspunkt des wahren Wissens ist, muss er deshalb auch der ausschliessliche Gesichtspunkt aller Wissenschaft werden? Sicherlich nicht. Die Naturerscheinungen stellen sich in Zeit und Raum dar, unter den Gesetzen der Grössen und stehen in genau bestimmten Verhältnissen zu gewissen anderen Erscheinungen. Diese Verhältnisse zu bestimmen, ist Sache der vom Denken geleiteten Erfahrung; die einzelnen Wissenschaften haben bei der Betrachtung der einzelnen Thatsachen, mit denen sie sich beschäftigen, bei der Bestimmung der sogenannten physischen Ursachen in ihren quantitativen Verhältnissen keine andere Methode zu befolgen, und die höhere Wissenschaft des Geistes, welche die oberste Richterin über alle Schritte der niederen Wissenschaften ist, hat hier nicht direkt einzugreifen.

»Man muss, sagte Pascal, ein höheres Princip im Hintergrunde haben, nach welchem man urteilt, aber für gewöhnlich mit dem Volke reden.« Der Gedanke im Hintergrunde, welcher nicht verhindern soll, dass man in jeder besonderen Wissenschaft die derselben eigentümliche Sprache, die Sprache der Erscheinungen spricht, ist der metaphysische Gedanke.

Indes darf man auch nicht denken, dass die Wissenschaft des Geistigen für diejenige des Natürlichen Nichts leisten könne. Allerdings sind die Naturwissenschaften bis zu einem gewissen Grade unabhängig von der Metaphysik, auch ist zuzugeben, dass sie derselben vorarbeiten; denn unsere Konstitution ist einmal so, dass wir das rein Geistige schwer auffassen und einen Anhaltepunkt in dem Sinnlichen suchen, welches uns ein grobes Bild des Geistigen liefert; man hat deshalb sagen können, dass, soweit wir über die Natur unwissend sind, wir auch über die Seele unwissend sind. Aber es bleibt trotzdem richtig und ist eine Wahrheit höherer Art, dass man das Sinnliche nur durch das Geistige versteht und die Natur durch die Seele. In der Wissenschaft des Lebens ist seit Hippocrates und Aristoteles bis auf Harvey, Grimaud, Bichat und Claude Bernard jede bedeutende Entdeckung mit Hilfe der mehr oder weniger ausgesprochenen Voraussetzung gemacht worden, dass es einen massgebenden Zweck für die Funktionen, ein einheitliches Zusammenwirken der Mittel gibt. In der Physik hat man die wichtigsten Gesetze unter Anwendung der Voraussetzungen gefunden, dass Alles auf dem kürzesten Weg und durch die einfachsten Mittel geschieht, dass immer möglichst wenig Kraft ausgegeben und eine möglichst grosse Wirkung erzielt wird; alles verschiedene Ausdrücke einer allgemeinen Zweckmässigkeitsregel. In der Kosmologie begegnet man seit Copernicus und Kepler keiner grossen Entdeckung, die nicht auf dem stillschweigenden oder ausdrücklichen Glauben an eine Welt-Harmonie beruhte.

Wenn also die Naturwissenschaft alle Metaphysik glaubt ausschliessen oder ersetzen zu können, so weiss sie nicht, was sie thut. Newton sagte: »Physik, hüte dich vor der Metaphysik!« Das heisst, wie Hegel einmal bemerkt: Physik, hüte dich vor dem Denken! Wer aber und besonders welche Wissenschaft kann Alles Denken entbehren? Es gibt keinen Gelehrten, zumal keinen Erfinder, der nicht in jedem Augenblicke, wenn auch ohne sein Wissen, das Princip benutzt, dass Alles verständlich, alles der Intelligenz angepasst ist; und die grössten Erfinder sind die, welche dasselbe am meisten zur Anwendung gebracht haben. In der materiellen Erscheinungswelt, in welcher die Erfahrung nur einfache Bedingungen unter dem Namen physischer Ursachen ausfindig macht, können wir uns nur mit Hilfe des Begriffes einer wahren, gleichzeitig wirkenden und zweckthätigen Ursache zurechtfinden, ein Begriff, der mit demjenigen des immateriellen Geistes identisch ist. Ebenso also, wie der Geist die Welt-Substanz bedeutet, ist er auch die Leuchte für die Welt.

Das sind die Resultate, zu welchen, nach dem Vorangegangenen, die philosophische Bewegung unserer Zeit hinführt. Die idealistischen Anschauungen, in denen trotz aller sonstigen Verschiedenheiten die meisten Systeme nahezu übereinstimmen, fordern diesen Abschluss. In einigen der entwickelten Systeme tritt derselbe in ziemlich deutlicher Form hervor; und man darf wohl die Zeit als nahe bevorstehend ansehen, wo ein zusammenhängendes Lehrgebäude in diesem Sinne aufgerichtet werden wird.

In den Jahren, welche auf unsere letzte Revolution folgten, als man ermüdet von den kürzlichen Aufregungen Alles fürchtete, was etwa die Geister bewegen könnte, war die Philosophie mehr ein Anlass zu Besorgnissen als ein Gegenstand der Begünstigung. Man glaubte im öffentlichen Unterrichte die Philosophie wesentlich beschränken und wenigstens dem Namen nach auf die Logik einschränken zu sollen. Gleichzeitig wurden die jährlichen Wettbewerbungen beseitigt, welche zur Gewinnung von Fachlehrern für diesen Teil des Unterrichts bestanden.

Die Wirkung auf das Studium der Philosophie blieb nicht aus; und eine Zeit lang schien dieselbe weniger gepflegt zu werden als in der Vergangenheit. Jedenfalls hatten diese Verhältnisse zur Folge, dass die Ueberlieferung der Lehren, welche fast seit einem Vierteljahrhundert in unseren Schulen herrschten, bedeutend an Kraft und Einfluss verlor. In den von der Autorität derselben befreiten Geistern mussten deshalb neue Gedanken, deren Keime vielleicht schon vorher existirten, zur Entfaltung kommen. Seit wenigen Jahren ist auf den Vorschlag des gegenwärtigen Ministers des öffentlichen Unterrichts der Philosophie in den Lehranstalten des Staates der ehedem von ihr eingenommene Platz wieder zugewiesen worden, und eine besondere Prüfung für die Professoren, welche dieselbe lehren sollen, wieder eingerichtet. In den öffentlichen Disputationen, welche zu diesem Examen gehören, sind anstatt der Theorien, welche seit dem Emporkommen des Eklekticismus allein geherrscht hatten, entschiedene Ansätze zu neuen Ideen zu beobachten gewesen, welche in Zukunft an die Stelle jener treten zu sollen scheinen. Wir könnten zum Nachweise dieser Tendenzen noch verschiedene Arbeiten anführen, die in der letzten Zeit teils zu den Schlussprüfungen der facultés des lettres, teils als Beantwortungen der von der Akademie gestellten Preisfragen vorgelegt worden sind. Nach vielen Anzeichen darf man also wohl eine neue Epoche der Philosophie voraussagen, die ihr wesentliches Gepräge durch die Vorherrschaft des spiritualistischen Realismus oder Positivismus erhalten wird, der seinen Ausgangspunkt in dem Bewusstsein des Geistes von einem in ihm selbst enthaltenen Wirklichen hat, aus dem sich alle andere Wirklichkeit ableitet: in dem Bewusstsein der inneren Thätigkeit.

Es sei gestattet, den Sinn dieser Behauptungen und ihre Tragweite noch kurz zu erläutern.

Dürfen wir die geistige Thätigkeit, das Denken, das Wollen als Bestimmung eines von derselben unterschiedenen Subjekts auffassen, wie wir es mit den sinnlichen Qualitäten thun? Leibniz scheint dies gedacht zu haben, wenigstens wenn man seine Erklärungen wörtlich nimmt; er scheint es nicht gewagt zu haben dem Descartes in der kühnen Anschauung zu folgen, nach welcher das Denken nicht eine Bestimmung der Seele, sondern ihr Wesen ausmacht. Indes wie soll man, so fragte wohl mit Recht der Begründer der Metaphysik, sich vorstellen, dass die Thätigkeit, welche wir als erste Ursache ansehen müssen, eine Bestimmung eines Gegenstandes sei? Dann wäre ja dieser Gegenstand die erste Ursache, oder ein anderer Gegenstand wäre es, der jene Thätigkeit in dem Subjekt setzt, sie aus demselben hervorgehen lässt. Stellen wir uns also die erste Ursache nicht als eine Sache vor, die zunächst existirt und nachträglich noch denkt, als eine Spinozistische Substanz, die das Denken als ein Attribut und daneben vielleicht noch andere hat, ohne dass der Grund ihres Wesens das Denken ist, als einen »denkenden Stein« gewissermassen, wie Aristoteles sich ausdrückte. Man muss vielmehr annehmen, dass das erste und absolute Sein, von dem alles andere nur eine Einschränkung ist, dass die einzige und vollendete Substanz das Denken ist, dass Denken und Sein, wie schon der alte Parmenides lehrte, ein und dasselbe sind.

Daraus folgt, dass man das Bewusstsein, welches die erste Ursache von sich selbst hat, und welches der Typus unseres eigenen Bewusstseins und die ursprüngliche Quelle aller Intelligenz und alles Lebens ist, sich nicht so vorstellen darf, als ob das unendliche Wesen in seinem Denken etwas von diesem Denken selbst Verschiedenes betrachtete, sondern dass das unendliche Denken, gemäss der Formel der peripatetischen Philosophie, ein Denken des Denkens ist.

Dieser Begriff ist uns allerdings unfassbar; wir begreifen die Intelligenz nur unter der Voraussetzung der Verschiedenheit und des Gegensatzes von Objekt und Subjekt, Denken und Sein. Das hindert aber nicht, dass man annehmen darf und muss, dass im Unendlichen und Absoluten diese Bedingung verschwindet. Man kann nicht begreifen, so sagte mit gutem Grunde der Mann, der die Vorstellungsweise des Descartes und Aristoteles anzunehmen zögerte, weil sie ihm zu wenig fassbar erschien, man kann nicht begreifen, wie die Mannigfaltigkeit von Ideen mit der Einheit Gottes verträglich ist; aber wir begreifen ebenso wenig das Incommensurabele und tausend andere Dinge, deren Wirklichkeit uns doch feststellt, und die wir mit Recht zur Erklärung anderer benutzen.

Ebenso verhält es sich aber mit dem bereits erwähnten Satze des Descartes, dass Gott die Ursache seiner selbst ist. Der Sinn desselben ist nach der Erklärung des Autors, dass, wenn man dem durch die Vernunft gebotenen Wege folgt, und zu jeder Thatsache eine erklärende Ursache sucht, man bei dem Begriffe Gottes anlangend keine Ursache ausserhalb seiner findet, und dass man ihn also als Ursache seiner selbst definieren kann.

Es verhält sich ebenso mit einem dritten Satze, der zum apriorischen Beweise der Existenz Gottes dient; ein Beweis, dem viele nicht haben zustimmen wollen, der jedoch, wie Kant zeigte, die notwendige Grundlage aller anderen Beweise bildet: nämlich, dass in Gott das Wesen und das Sein, die Möglichkeit und die Wirklichkeit sich decken. Wenn man von den endlichen Dingen, an welchen man die Verwirklichung des Möglichen auf eine thätige Ursache zurückführt, durch Abstraktion von ihren Schranken zu dem Begriffe eines unendlichen Seins aufsteigt, so findet man, dass seine Möglichkeit eine solche ist, die Nichts zurückhalten und hemmen kann, und die also aus diesem Grunde die Existenz einbegreift.

Diese beiden Sätze, welche aussprechen, dass im Unendlichen die Thatsache und ihre Ursache, das Wesen und das Sein Eins sind, schliessen einander ein als gleichwertige abstrakte Ausdrücke für einen und denselben positiven Gedanken, bei welchem Erfahrung und Begründung zusammenfliessen. Und dieser Gedanke liegt in dem Begriffe der thätigen und also ganz geistigen Natur des vollendeten und absoluten Seins, aus welchem sich ergibt, dass Objekt und Subjekt des Denkens, des Wollens und der Liebe in jenem Sein ein und dasselbe sind, und zwar eben das Denken, das Wollen und die Liebe selbst: gewissermassen eine Flamme ohne materielles Substrat, die sich selbst nährt. In diesem einheitlichen Begriffe verschmelzen die Gegensätze, die überall sonst getrennt sind, in eine lebendige und lichte Einheit.

Wenn wir nun die sinnlichen Erscheinungen, die Welt, die Natur erklären wollen, und neben der reinen Thätigkeit Nichts übrig bleibt als ein Etwas, das sich ihr gegenüber wie der Stoff zu der Form verhält, von welcher er seine Ordnung, Schönheit und Einheit empfängt, wie soll man sich da dieses Etwas denken, da es für sich genommen alles dessen entbehrt, was die Wirklichkeit und also auch die Begreifbarkeit ausmacht? Wie Leibniz nach Plato sagte, ist es ein Princip der Negation, was in den Geschöpfen durch seine unvollkommene Receptivität die natürliche Vollkommenheit und Unendlichkeit der Ursache einschränkt.

Leibniz hat bemerkt, dass man alle Zahlen allein mit der Eins und der Null schreiben könnte, was ein binäres Zahlensystem statt des Decimalen ergeben würde; und dass man ebenso alle Farben allein aus Licht und Schatten ableiten könnte; er sah in diesen Thatsachen Hindeutungen auf das Gefüge der Natur im allgemeinen, welches sich aus einem Princip der absoluten oder unendlichen Wirklichkeit und einem Princip der Beschränkung erklären würde. Er hatte sich eine Denkmünze ausgedacht, welche diese Idee ausdrücken und auf der Vorderseite die Sonne darstellen sollte, wie sie mit ihrem Lichte Wolken färbt, auf der Rückseite eine Reihe von Zahlen gebildet aus der Zusammenstellung der Eins und der Null, mit dem Verse:

Omnibus ex nihilo ducendis sufficit unum.

Aristoteles hatte gezeigt, dass, da das positive Princip aller Wirklichkeit in der Thätigkeit besteht, das entgegengesetzte Princip wie überhaupt der Stoff im Verhältnis zur ordnenden Form nur durch den Begriff des Möglichen definiert werden könne, das durch die Thätigkeit verwirklicht wird. Soll das heissen, dass neben dem wirklich Existirenden es noch Etwas gibt, das nur als Möglichkeit besteht, so wie man sich bisweilen die sogenannte materia prima denkt? Vorhanden sein, ohne jedoch wirklich zu sein, scheint ein Widerspruch. Nur möglich sein heisst in der That nicht sein; die blosse Möglichkeit ist, wie Leibniz bemerkte, nur eine Abstraktion unseres Verstandes. Es gibt keine wirkliche Seinsmöglichkeit ohne ein Streben zum thätigen Sein; zur Thätigkeit streben heisst aber schon handeln; Streben ist Thätigkeit.

Aber woher sollte das Virtuelle seine Aktualität anders erhalten als aus der allgemeinen Quelle aller Wirklichkeit? Wie soll man das Streben sich anders denken denn als gehemmte Thätigkeit? Wenn man nun aber auf die erste Ursache, auf den unendlichen freien Willen zurückgeht, wie soll man sich da vorstellen, dass ein Etwas ausserhalb desselben, also ein Nichts, die Wirksamkeit desselben irgend wie hemmen oder für einen Augenblick aufheben könnte? Der Ursprung einer dem absoluten Sein untergeordneten Seinsform erscheint also nur begreiflich als das Resultat einer freien Willensbestimmung, durch welche jenes höhere Sein von sich selbst aus seine allmächtige Wirkungsfähigkeit beschränkt hat.

Die Stoiker definierten in ihrer ganz physikalischen Ausdrucksweise die erste Ursache oder die Gottheit als einen glühenden Aether im Maximum der Spannung, die Materie als denselben Aether im Zustande der Zerstreuung. Könnte man nicht in einem ganz ähnlichen Bilde sagen, dass die erste Ursache das Wirkliche, was in ihrem unveränderlichen ewigen Wesen eingeschlossen liegt, in Zeit und Raum, den elementaren Bedingungen der Materialität, zerstreut und auseinandergezogen entwickelt, und so das natürliche Sein erzeugt, in welchem von Stufe zu Stufe Alles aus dem Zustande materieller Zerstreutheit zur Einheitlichkeit des Geistes zurückkehrt.

Gott hat Alles aus dem Nichts, aus jenem relativen Nichts, aus der Möglichkeit geschaffen; doch war er auch der Urheber dieses Nichts, so wie er der des Seins wurde; aus dem, was er von der unendlichen Fülle seines Wesens gewissermassen vernichtete (se ipsum exinanivit), liess er durch eine Art Wiedererweckung alles Sein hervorgehen.

Fast im ganzen Orient war seit undenklicher Zeit jenes rätselhafte, geflügelte und feuerfarbige Wesen, welches sich selbst verzehrt, um aus der Asche wiederzuerstehen, ein Symbol der Gottheit.

Der alte Heraklit, einer von denen, welche sich physikalisch ausdrückten aber metaphysisch zu denken begannen, sagte: Das Feuer ist die Substanz und die Ursache von Allem; was man Materie nennt, ist das in sich selbst erloschene, die Welt mit ihrer Ordnung und ihrem Fortschritt ist das sich wieder entzündende Feuer; ähnlich dachten, wie eben bemerkt, die Stoiker, und wie Heraklit sagten sie: Das Feuer, das ursprüngliche und wahre Feuer ist die Vernunft, die Seele.

Nach der indischen Religionslehre und der Lehre der griechischen Mysterien hat die Gottheit sich selbst geopfert, damit aus ihren Gliedern die Kreaturen entständen. Nach der jüdischen Theosophie, die der Welt mehr gerecht wird, ohne deshalb Gott zurückzusetzen, erfüllte Gott Alles; freiwillig hat er, indem er sich auf sich selbst concentrierte, eine Art leeren Raum übrig gelassen, in welchem gewissermassen aus den Ueberresten seines Wesens die anderen Geschöpfe hervorgegangen sind.

Nach den späteren Platonikern, welche die Vorstellungen der asiatischen Religionen mit denen der griechischen Philosophie verschmolzen, entsprang die Welt aus der Erniedrigung oder, wie sich auch die christliche Dogmatik ausdrückt, aus der Herablassung Gottes. Nach dem Dogma der christlichen Moral, das jedoch zugleich auch den Keim eines allgemeinen metaphysischen und physikalischen Erklärungsprincips enthält, ging Gott durch seinen Sohn herab in den Tod, damit daraus ein göttliches Leben entspringe. »Gott wurde Mensch, auf dass der Mensch gottähnlich gemacht würde.« Der Geist, indem er sich erniedrigte, wurde Fleisch, und das Fleisch wird Geist werden.

Auch diese Gedanken noch liegen, wenn wir uns nicht täuschen, in der Richtung der neueren Systeme, diejenigen nicht ausgenommen, welche sich am meisten von denselben zu entfernen scheinen. So werden wir auf dieselbe Wahrheit geführt, die man seit den ältesten Zeiten und in fast allen Ländern erkannt hat; nur zeigt sich uns dieselbe jetzt vielleicht deutlicher und vollständiger. Wir begreifen vielleicht besser als die Alten den eigentlichen Sinn der Lehre, dass Eros der erste und der mächtigste aller Götter ist; und dass Gott die Liebe ist.

Es wäre leicht, wenn der Umfang unserer Arbeit es erlaubte, in den hauptsächlichsten philosophischen Anschauungen, welche in der Gegenwart im Auslande entwickelt worden sind, ganz ähnliche Tendenzen nachzuweisen, wie die, welche in der einheimischen Philosophie uns vorzuherrschen schienen. Doch wollen wir nur kurz die letzten Systeme anzeigen, welche in Deutschland die durch Kant eingeleitete grosse Bewegung hervorgebracht hat: Schelling hat seine ruhmvolle Laufbahn mit einem System geschlossen, in welchem die absolute Freiheit des Wollens im Gegensatze zu dem logischen Mechanismus Hegels den Ausgangs- und den Endpunkt bildet; in dem Systeme Schopenhauers ist ebenfalls der Wille das allgemeine Erklärungsprincip; Lotze hält zwar mit den Erfahrungswissenschaften an dem Begriffe der mechanischen Verknüpfung der Erscheinungen fest, führt jedoch die letzteren, von einem höheren Gesichtspunkte, nämlich dem metaphysischen betrachtet auf Aeusserungen einer ursprünglichen und von Grund aus freien Spontaneität zurück, und löst Alles wahre Sein in einen unendlichen Geist und in die Liebe auf.

In der allgemeinen Bewegung, durch welche das Denken nochmals und gründlicher als je die materialistischen Lehren zu überwinden sucht, dürfte der Anteil des Vaterlandes von Descartes und Pascal indes wohl nicht der unbedeutendste sein.

Unsere Vorfahren glaubten seit urältesten Zeiten an die Unsterblichkeit, ein Glauben, der seine Wurzel in dem Bewusstsein des Unendlichen, des Göttlichen in uns hat. Daher kam, wie die Alten sagten, ihre unbesiegbare Stärke. Man gab ihnen das Lob, dass sie neben Muth, dem Zeichen der Seelengrösse, die im Notfalle ihr Leben hingibt, in hohem Grade die Gabe der Beredtsamkeit besässen; und nach ihrer Ansicht gibt die Beredtsamkeit die grösste Gewissheit des Sieges. In der That stellten sie ihre Helden durch das Bild eines Mannes dar, um welchen herum man andere mit goldenen Ketten gefesselt sah, die aus dem Munde desselben hervorgingen: es sollte damit in einer stummen Sprache der Gedanke ausgedrückt werden, dass Ueberredungsgabe die grösste Stärke ist. Nun, der versteht vor Allem zu überreden, der es versteht Liebe zu erwecken, der grossherzig genug ist, sich hinzugeben, sich aufzuopfern: »Sei gross und die Liebe wird dir folgen.« Auch wurde das Christentum nirgend besser und schneller angenommen als von unseren Vorfahren; das Christentum gipfelt ja in dem Dogma, in welchem der beste Teil der Weisheit der Alten und der beständige Glauben unserer Ahnen eingeschlossen liegt, dass die Liebe allein der Urheber von Allem und der Herr über Alles ist. Eben aus dieser Idee, der Idee der Liebe und der Hingebung, entsprang im Mittelalter in unserem Lande das Rittertum.

Wenn sich der Geist Frankreichs nicht geändert hat, so ist es nur natürlich, dass über die Systeme, welche Alles in materielle Elemente und in einen blinden Mechanismus auflösen, die erhabene Lehre siegen wird, nach welcher die Materie nur die tiefste Stufe und sozusagen den Schatten des Seins bezeichnet; dass die wahre Existenz, zu der jede andere nur einen unvollkommenen Ansatz bildet, diejenige des Geistigen ist; dass sein leben heisst, und leben denken und wollen; dass Alles zuletzt nur durch Ueberredung geschieht; dass das Gute und Schöne allein das Universum und seinen Urheber erklären; dass das Unendliche und Absolute, dessen Wesen wir nur unter Beschränkungen kennen, in der geistigen Freiheit besteht; dass also die Freiheit das letzte Princip der Dinge ist, und dass der Verwirrung und den Gegensätzen, welche auf der Oberfläche der Erscheinungen herrschen, in dem wahren und ewigen Wesen der Dinge nur Schönheit, Liebe und Harmonie zu Grunde liegen.


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