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III.
Lamennais.

Einer von denen, die der Eklekticismus nicht befriedigte, war Lamennais. In den allgemeinen Auseinandersetzungen desselben, die sich fast ausschliesslich auf die Frage des Ursprungs der Erkenntnis bezogen, sah er fast nichts, was seiner Vorstellung von der Philosophie entsprochen hätte. Weit entfernt, sich in das von ihm sogenannte »einsame Ich« einschliessen zu wollen, verlangte er, dass die Philosophie eine Art universeller Erklärung sei. In einer beachtenswerten Schrift »Skizze einer Philosophie«, auf deren Abfassung er sich durch lange Studien in verschiedenen Wissenschaften und Künsten vorbereitet hatte, versuchte er, wie es in Deutschland die Urheber der jüngsten Systeme gethan hatten, zu zeigen, dass sowohl in der physischen als in der geistigen Welt alles, wenn auch in verschiedenen Verhältnissen, dieselben Principien einschliesse, welche ihrerseits nur die notwendigen Bestandteile eines ersten und allgemeinen Princips, des absoluten Seins, wären.

Der allgemeinste Begriff, zu dem man sich erheben, und den man nur mit dem Munde leugnen kann, ist nach Lam. der des Seins, eines Seins unabhängig von aller Beschränkung und Spezifizierung, eines unendlichen Seins, welches Gott heisst. Das absolute Wesen ist nicht nur der Grund des Denkens, sondern auch des Seins; es ist das Sein vor aller Begrenzung. Indess, um zu sein, muss es Eigenschaften haben; es muss in ihm ausser der völligen Einheit der Substanz eine Energie bestehen, durch die es wirklich wird; es muss etwas vorhanden sein, welches dieser Verwirklichung ihren Charakter giebt; es muss endlich, nachdem die Energie sich zu einer Seinsform entfaltet hat, etwas sein, was die absolute Einheit wieder herstellt. Kraft, Form, Leben, oder wenn man sich auf den Standpunkt der Betrachtung von innen stellt: Stärke, Intelligenz und Liebe, dies sind die drei wesentlichen Elemente, welche die göttliche Natur ausmachen; es sind die Elemente der christlichen Dreieinigkeit,

Also ist das göttliche Wesen nicht eines; es findet sich in ihm zugleich ein Princip der Trennung und Vielheit. Unendlich, wie es ist, hat das Endliche in ihm seine Wurzel: daher die Möglichkeit dreier verschiedener Elemente in der Einfachheit der Substanz. Aehnlich ist in dem zweiten dieser Elemente, durch welches die sich selbst bestimmende Substanz Form gewinnt, eine Unendlichkeit von Verschiedenheiten möglich, die nämlich, durch welche sich alle Formen, in denen sich das Princip der Form verwirklichen kann, alle Ideen, welche die Intelligenz umfassen kann, unterscheiden: das ist die Welt der Gedanken, welche der Platonismus und die christliche Theologie in der Einheit des Wortes eingeschlossen zeigten.

Die Besonderung vollzieht sich, die Unterschiede werden bestimmt im Uebergange vom Möglichen zum Wirklichen durch die Schöpfung. Die Schöpfung, sagte der tiefe Mystiker Olier, ist der wahrnehmbar gewordene Gott. Für Lamennais ist die Schöpfung die successive Offenbarung alles dessen, was in Gott ist, im Raume und der Zeit; sie ist die göttliche Einheit, welche durch eine Art von Aufopferung, zur Raumausbreitung und dann durch Entfaltung der göttlichen Kräfte in verschiedenen Abstufungen der Verschmelzung von Vielheit und Einheit zu unorganischen Objekten, organisierten Wesen und endlich zu intelligenten und freien Persönlichkeiten sich entäussert. Auf allen Stufen dieser fortschreitenden Entwickelung finden sich in jedem Dinge die entgegengesetzten Elemente wieder, welche das absolute Wesen einschliesst; jedes Ding gehört zum Endlichen durch seine Bestimmungen und zum Unendlichen durch den Grund seines Wesens.

Das Begrenzende, die eigentliche Schranke, welche überall Teilung und Vielheit bedingt, und die man nur durch die Negation ihres Gegenteils versteht, ist nach den Gedanken von Plato, Plotin und Leibniz das, was wir Materie nennen. Das, was sie hemmt und unterbricht, und was an sich schrankenlos, unendlich ist, ist die Intelligenz, der Geist. Materie und Geist setzen alles Wirkliche zusammen. Auf den niederen Stufen der Schöpfung herrscht die Materie, und mit ihr die Notwendigkeit, auf den höheren der Geist und mit ihm die Freiheit. Aus diesen in verschiedenen Verhältnissen verbundenen Bestandteilen entspringen im Fortschritt der Schöpfung die verschiedenen immer vollkommeneren Wiederholungen der drei göttlichen Kräfte, so dass in jedem Wesen etwas von Gott ist. Die Materie hat als wesentliche Eigenschaften erstens Raumausdehnung oder Undurchdringlichkeit; zweitens Figur, drittens die Verbindung der Teile durch Attraktion, da ohne einen Grad von Cohäsion keine Figur möglich ist. Die Undurchdringlichkeit ist die Verwirklichung der Kraft in der physischen Welt; die Figur die der Form oder der Intelligenz; die Attraktion die des Lebens oder der Liebe. – Kant hatte in seinen »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« eine allgemeine Erklärung der Constitution der Körper und der Phänomene durch zwei einander entgegenwirkende Kräfte gegeben, wie die Centrifugal- und Centripetal-Kraft der Sterne es sind, nämlich eine Kraft der Ausdehnung, welche die Undurchdringlichkeit und Elasticität hervorbringt, und eine Kraft der Anziehung, ein Princip der Cohäsion und aller Arten von Affinität, indem er Ideen, die fast so alt als die Philosophie selbst sind, wieder in Gebrauch brachte und mit einer neuen Schärfe bestimmte; Rémusat hat in einem Kapitel seiner Essays diese Begriffe angenommen und eine durchsichtige Erläuterung derselben gegeben. Es sind fast dieselben, welche Lam. entwickelte, indem er sie nur auf den Begriff von Grundeigenschaften des Seins als auf ihr erstes Princip bezog. – Wenn man von der Metaphysik der Natur zur Natur selbst übergeht, so findet man nach Lam. als die Grundsubstanz, aus der die Körper bestehen, den Aether. Im Beginn der Dinge war ein grenzenloses Aethermeer. Im Schoss der Aethersubstanz stellt eine dreifache Thätigkeit die Wirksamkeit der drei ersten Principien dar und wiederholt dieselbe: die Thätigkeit der Electricität, des Lichtes und der Wärme. Aus der durch diese drei Agentien bearbeiteten Aethersubstanz bilden sich die elementaren Gase, deren Verdichtungen und Verbindungen alle Körper hervorgebracht haben; zuerst Nebelmassen, wie wir sie noch in gewissen Sterngegenden in Bildung sehen; es entwickelt sich ein dichterer Kern, analog dem Kern der Zelle, um ihn herum eine Atmosphäre, welche eine äussere Hülle begrenzt. So entstanden die Welten, welche Schritt für Schritt in immer weiterem Raume die grenzenlose Unendlichkeit zur Darstellung brachten; ebenso kommen alle Ordnungen von Geschöpfen zu Stande, welche in ihrem immer reicheren und vollendeteren Aufbau die unerschöpfliche Unendlichkeit des Seins veranschaulichen; und in jeder Ordnung herrscht ein neuer, höherer Grad der Grundkräfte, der Repräsentanten der Elemente des Absoluten. Während es bei dem nicht organisierten Objekte nur eine Anhäufung gleichartiger Teile giebt, ohne wahre Einheit und ohne Bewusstsein, bilden die Organismen Individuen mit einer gewissen Erkenntnis des Bedingten und einem dunklen Selbstbewusstsein; die intelligenten Wesen bilden mit ihrer Erkenntnis dessen, was sie sind, und ihrer Beziehung zum Absoluten nach dem Muster des Absoluten selbst Personen. In den unorganisierten Objekten herrscht das Princip der Endlichkeit oder der Materie, also das der Teilung; in den intelligenten und freien Persönlichkeiten herrscht mit der Einheit, welche über die vielgestaltigste Mannigfaltigkeit siegt, das Unendliche. Wenn dem entsprechend in den leblosen Dingen die erste der drei Anlagen des absoluten Wesens, die Kraft vorwiegt, so ist dies bei den denkenden und fühlenden Wesen, den Persönlichkeiten, die dritte und höchste Anlage, die Liebe.

Das absolute Wesen giebt den Dingen ihren Ursprung, indem es sich gewissermassen durch ein fortwährendes Opfer den Bedingungen der endlichen Existenz unterwirft. Die Schöpfung ist nichts als eine beständige Hingabe seiner selbst, und das Ende jedes seiner Geschöpfe ist die Auflösung, um zu einer neuen Schöpfung zu dienen: damit alle leben, muss ein jeder sterben. Die eigentümliche und wesentliche Bestimmung der intelligenten und freien Creaturen aber ist es, sich selbst den Zwecken der gesamten Schöpfung und in letzter Linie dem Unendlichen zu opfern. So schliesst sich durch die Liebe der Kreis, den die Liebe begann. Gott schuf die Welt, indem er sich hingab; nach dem Beispiel des Schöpfers macht sich alles allem dienstbar; jedes Ding lebt von anderen und dient seinerseits anderen zum Leben. Die Schöpfung ist wie ein Schmauss, wo alle sich allen zur Nahrung geben, und da alle Substanz von Gott ist, so leben und nähren sich schliesslich alle von Gott. Aber der Intelligenz und dem Willen allein, welche in sich frei sind von den Schranken und Unvollkommenheiten der Materie, teilt sich in direkter Weise das immaterielle Wesen mit, das Unendlichkeit und Vollkommenheit bedeutet, und von der intelligenten und freien Seele kann man ohne Einschränkung sagen, dass sie sich von Gott nährt.

Wenn man von der Betrachtung des Wirklichen zu derjenigen der Erkenntnis übergeht, so zeigt sich derselbe Fortschritt, dieselbe Ordnung. Durch die Sinne erkennt man die Thatsächlichkeit der einzelnen beschränkten und veränderlichen Dinge, durch die Intelligenz allein das Wahre und Unveränderliche, mit einem Worte das Unendliche und Absolute, welches aber Ursache und Grund alles Uebrigen ist. Die einzelnen Dinge sind in der That nur Anwendungen intelligibeler Typen, welche sich schliesslich aus den verschiedenen möglichen Combinationen der Eigenschaften des unendlichen und absoluten Wesens ableiten. Begreifen, erkennen, sagt Lam., heisst über die Phänomene hinausgehend in den Grund derselben eindringen und sie mit einem Blicke umfassen; der Grundzug der Intelligenz ist also die Auffassung des Unendlichen oder die direkte Anschauung des einen Wesens, welches mit den ewigen Musterbildern der Dinge ihr Gesetz, ihre Ordnung, ihre wahrhafte Ursache in sich einschliesst. So wird das Thatsächliche durch die Idee, die Beobachtung durch das Denken, die Erfahrung durch die Theorie, die Wissenschaft durch die Philosophie ergänzt.

Ebenso endlich beginnt bei der Entfaltung seiner aktiven Fähigkeiten der Mensch mit der Arbeit, welche die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse erfordert: das ist die sogenannte industrielle Arbeit; der Industrie fügt er dann die Kunst hinzu, also dem Nützlichen das Schöne. Das Schöne aber ist die Offenbarung des Unendlichen im Endlichen, des Absoluten im Relativen, des Geistigen im Materiellen.

Auf Grund dieser Ideen, welche auf die Hauptgebiete der Wissenschaft und speciell der Naturwissenschaft wie auf die bedeutendsten Zweige der Kunst Anwendung finden, stellt L. in vielfach lichtvollen und fast immer edel und lebendig ausgedrückten Sätzen eine Menge besonderer Lehren auf, und die allgemeine Philosophie der Wissenschaft und Kunst muss ihm in mehr als einer Hinsicht dankbar sein.

An der »Skizze einer Philosophie« ist am meisten zu bedauern, dass die Principien, von denen alles Uebrige abhängt oder abhängen sollte, vielleicht nicht aus ihrer wahren Quelle geschöpft und nicht wissenschaftlich abgeleitet sind; diesem Uebelstande sind grossenteils die beständigen Wiederholungen, Zeichen einer unregelmässigen, öfters neu begonnenen Arbeit, zuzuschreiben. In seiner ersten berühmten Schrift über die »Indifferenz«, welche der Unsicherheit der Wissenschaft die Sicherheit der Religion gegenüberstellt, hatte Lam. die übrigens mehreren Schriftstellern seiner Zeit gemeinsame Anschauung ausgesprochen, dass mit der Vernunft, die er die individuelle Vernunft nannte, nichts ausgemacht werden könnte, und dass wir die Grundwahrheiten, von denen alle anderen im Gebiete der sittlichen Ordnung abhingen, nur durch die allgemeine Tradition erhalten könnten, welche von einer ursprünglichen Offenbarung abstammte, und deren Schatz der katholischen Kirche anvertraut wäre, die zugleich dazu berufen sei, ihn für immer unverfälscht zu erhalten. Nachdem diese Lehre grossen Beifall bei den Theologen gefunden hatte, wurde sie zuletzt durch die Kirche selbst verworfen und verdammt als Traditionalismus, der die notwendigen Rechte der Vernunft beschränkte. Auf den ersten Seiten seiner »Skizzen«, die ohne Zweifel aus einer früheren Zeit stammen als die Abhandlung über die Indifferenz, wiederholt L., dass der Philosoph, seinem individuellen Gefühl überlassen, aus willkürlichen Hypothesen und Trugschlüssen nicht herauskommt, dass er also seine Principien den allgemeinen Glaubensüberzeugungen entlehnen muss, und dass die katholische Kirche allein die authentische Ueberlieferung derselben hegt. Demzufolge schöpft er aus der christlichen Lehre von Gott und dem Dogma der Dreieinigkeit die Grundvorstellungen, welche zur Welterklärung dienen sollen, die Grundvorstellungen über die göttliche Natur. Diese vom Glauben ihm überlieferten Elemente unterwirft er nur einer oberflächlichen Analyse, einer flüchtigen und ungenügenden Kritik; und nachdem die Principien unvollkommen bestimmt sind, tragen alle Anwendungen und Folgerungen denselben Charakter und bleiben ebenso unbegründet; daher zeigt sich wenig wissenschaftliche Strenge und an die Stelle einer Kette von Schlüssen tritt eine Reihe von Analogien, welche bisweilen nur scheinbare sind. Wenn L. seine Arbeit weiter geführt, wenn er mit dem Studium der physischen Welt, die seinen Hauptgegenstand bildet, eine besondere und gründliche Untersuchung der intellektuellen und sittlichen Welt verbunden hätte, die er doch höher als jene stellt, so hätte er vielleicht den wahren Ursprung der Principien erkannt, die er anfangs der theologischen Tradition entlehnen zu müssen glaubte; vielleicht hätten sich ihm dann diese Principien in einem helleren Lichte und in bestimmterer Form dargestellt, und er hätte strengere und enger verknüpfte Folgerungen aus ihnen gezogen.

Im vierten und letzten Bande der Skizze, welcher erst 1846 veröffentlicht wurde, zu einer Zeit, wo L. aus jeder religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen, sich um so enger an die Philosophie anschliessen musste, erwähnt er nichts von Traditionen und Theologie; er giebt als den Prüfstein der Begriffe des Geistes die natürlichen Phänomene, und als Prüfstein für diese die Begriffe des Geistes an; dergestalt dass, wie er sagt, die wahre Wissenschaft weder einfach die Kenntnis der Erscheinungen ist, das wäre ein blosser Materialismus, der auf Sinneseindrücke ohne wissenschaftlichen Zusammenhang beschränkt sein würde, noch auch die Kenntnis des Wesens oder der absoluten Ursachen allein, das wäre ein Spiritualismus, der nur unbestätigte logische Hypothesen einschlösse; die Wissenschaft sei vielmehr sinnlich und geistig zugleich. Von dieser noch unsicheren und selbst widerspruchsvollen Lehre geht er dann weiterhin zu einer anderen über, in der von den beiden entgegengesetzten Elementen, zwischen denen sein Denken schwankte, das spirituelle endlich den Sieg davonträgt; nach dieser Lehre entspringt die höchste Gewissheit unmittelbar aus der Vernunft.

Wenn endlich in den beiden ersten Bänden die göttliche Natur bisweilen als das Sein im allgemeinen gedacht und definiert zu sein scheint, welches sich von den einzelnen Dingen nicht wirklich unterscheidet, so wie sie etwa Rosmini versteht; wenn ausserdem in denselben das Endliche, der Bestand der einzelnen Dinge, bisweilen als ein notwendiges und dem Unendlichen ebenbürtiges Element dargestellt wird, und wenn man also die in diesen Bänden enthaltene Lehre hat beschuldigen können, dass sie den Weg wieder öffnet, den der Spinozismus gebahnt hatte, und dass sie zur Gleichsetzung der Schöpfung und des Schöpfers führe, so erklärt L. in den letzten Büchern mit mehr Bestimmtheit, wie nach seiner Ansicht zwar das Princip der Scheidung und Beschränkung der göttlichen Natur innewohne, aber doch nur durch einen göttlichen Willensakt aus einem bloss idealen zum realen werde, und so die Schöpfung beginne; dem Unendlichen, dem Absoluten allein komme die notwendige Existenz zu, und die wahrhafte Unendlichkeit schliesse mit der Fülle alles Seins Intelligenz, Wille und Persönlichkeit ein. Wie sollten in der Welt Intelligenz und Wille entstehen, wenn sie nicht aus jener kämen? Hieraus folgt dann, da Gott, wie jede Intelligenz nur zu einem Zwecke handelt, dass die Schöpfung, wenn sie auch in ihrer Entwicklung notwendigen Gesetzen unterworfen ist, welche aus den Gesetzen der göttlichen Natur fliessen, doch nicht weniger eine freie That ist, und dass der Zweck oder das Gute, wie Plato und Aristoteles gesagt hatten, der letzte Grund aller Dinge ist.


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