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XXVI.
Fortschritte der Gehirn-Physiologie.

Die Frage über das Verhältnis des Physischen zum Geistigen tritt uns in ihrer präcisesten Form beim Studium des Nervensystems und speciell des Gehirns entgegen.

Wir haben berichtet, dass die Phrenologie, welche das Seelenleben durch die Funktionen verschiedener von einander unabhängiger Teile des Gehirns erklärte, endgültig aus der Wissenschaft verschwunden ist. Eine in der letzten Zeit durch Vulpian festgestellte Grundthatsache hat die Lehre von der Lokalisation der Fähigkeiten von Grund aus vernichtet: es ist die Thatsache, dass die verschiedenen Teile des Gehirns einander vertreten können, und dass es nur eines sehr kleinen Teils der Gehirn-Substanz bedarf, um die Gesamtheit der Funktionen zu erfüllen; Vulpian konnte also die summarische Darlegung der phrenologischen Lehre und ihrer Geschichte mit den Worten schliessen: »Einerseits giebt es noch immer keine Thatsachen, welche ernstlich für diese Lehre sprächen, andrerseits sind experimentelle Ergebnisse und eine grosse Zahl pathologischer Beobachtungen gegen die Dislokation der Fähigkeiten und ihre Verteilung auf getrennte Gebiete der grauen Substanz. Gall und seine Schüler, sowie die Philosophen, welche diese Art Gehirngeographie zu begründen gesucht haben, haben eine zwar mehr oder minder geistreiche Leistung vollbracht, die aber der strengen Begründung entbehrt und folglich aus der positiven Biologie, die sich nur auf Thatsachen des Experiments und der Beobachtung stützt, fernzuhalten ist. Experiment und Beobachtung lehren uns, dass die verschiedenen Teile der Hirn – Hemisphären und besonders die der grauen Substanz einander vertreten können; dass ein minimaler Teil besonders bei Tieren die Funktionen des Ganzen übernehmen kann; und folglich hat, wie ich wiederhole, die Lehre von der Lokalisation der Fähigkeiten des Instinkts, des Intellekts und des Gefühls keinerlei Berechtigung.«

Nachdem die Phrenologie beseitigt ist, bleibt zu bestimmen, was man über die Beziehungen des Geistigen zum Gehirn und den anderen Teilen des Nervensystems weiss oder zu lernen im Begriff ist.

Was das eigentliche Gehirn anlangt, so ist festgestellt worden, dass dieser Apparat oder diese Zusammenstellung von Apparaten zur Empfindung, zum Phantasieren und selbst in gewissem Sinne und gewissem Grade zum Denken dient. Das ist das Resultat der Arbeiten von Vicq-d'Azyr, Cuvier, Gall, Müller u. A. Bemerken wir nur, dass, wenn bewiesen ist, dass alle Antecedentien und Bedingungen des Denkens, Empfindung, Reproduktion u. s. w. nicht ohne das Gehirn sein können, nicht bewiesen ist, dass das Denken selbst in seiner centralen und notwendig einfachen Wirkungsweise in irgend einer Art von demselben abhängt. Dies innere Forum hat Nichts zu thun mit Materie, mit einem Körper, Nichts mit allem, was ausgedehnt und vielfach ist. Man denkt ohne Organ, sagt Aristoteles; dieser bedeutende Satz ist unerschüttert geblieben und wird wahrscheinlich für den, welcher ihn versteht, niemals erschüttert werden. Bemerken wir zweitens, dass, wenn die verschiedenen geistigen Thätigkeiten nach der Zerstörung oder auch nur nach eingreifender Verletzung des Gehirns auch aufhören, sie trotzdem, wenn nur das Leben fortbesteht, nach längerer oder kürzerer Zeit wieder auftreten. Das ist eins der wichtigsten Resultate der Versuche von Flourens. Nach diesen Versuchen treten für die Hirn-Hemisphären, welche die Hauptmasse des Central-Organs darstellen, die gestreiften Körper ein, welche die unmittelbar an das Gehirn sich anschliessende Verdickung des Rückenmarks darstellen und normalerweise den unwillkürlichen Thätigkeiten dienen.

Es hat sich also nicht nur gezeigt, dass ein kleiner Teil des Gehirns alle Funktionen desselben vollständig übernimmt, es hat sich auch gezeigt, dass das ganze Gehirn in Bezug auf die höheren Funktionen, die ihm eigentlich zufallen, durch die Teile des Nervensystems ersetzt werden kann, welche im gesunden und normalen Zustande nur den nächst niederen Funktionen dienen. Also ist nicht das Organ die Ursache der Funktion, wie der Materialismus behauptet, sondern es ist die Funktion, welche sich unter gewissen physischen Bedingungen das Organ unterwirft und dienstbar macht.

Der obere Teil des Rückenmarks, welcher in die Schädelhöhle sich erstreckt und verlängertes Mark heisst, ist der physiologische Sitz der Empfindungen und unwillkürlichen Bewegungen. Während durch das Gehirn sich die Thätigkeiten vollziehen, durch welche die Wahrnehmungen und willkürlichen Bewegungsantriebe erzeugt werden, ist das verlängerte Mark das Organ der eigentlichen Empfindungen und der instinktiven Bewegungen. Kurz, nach dem Zustande unserer Kenntnis, der in dem Werke von Vulpian zur Darstellung gekommen ist, pflanzen sich die Empfindungen durch die Nerven, und das Rückenmark fort und gewinnen im verlängerten Mark ihren specifischen und unterschiedenen Charakter; aber nur im Gehirn, oder vermittelst des Gehirns findet die Umarbeitung derselben zu Wahrnehmungen und Gedanken statt. Ebenso geht umgekehrt vom Gehirn der Wille aus, welcher im verlängerten Mark den Bewegungsantrieb auslöst, der endlich durch Vermittelung des Rückenmarks und der von ihm auslaufenden motorischen Nerven die Bewegung der Muskeln veranlasst. Mag dies nun die normale Ordnung sein, so ist es doch nach Müller wahr, dass bei Zerstörung des Gehirns das verlängerte Mark das Centrum von Funktionen der Empfindung und Bewegung wird, die ganz analog den Gehirnfunktionen sind.

Die Erfahrung hat dazu geführt, dem verlängerten Mark die Bewegungen der Nachahmung und der Sprache, der Zirkulation und der Atmung zuzuweisen. Ist es nicht klar, dass bei diesen Bewegungen eine Vermischung und innige Verschmelzung des Instinktiven und Willkürlichen stattfindet?

Wenn man nun vom verlängerten Mark zum Rückenmark übergeht, so steigt man, wie es scheint ohne die Möglichkeit einer Rückkehr, aus dem Gebiete der Thätigkeiten, auf welche sich der reflektierende Wille oder wenigstens das Bewusstsein erstreckt, in dasjenige der rein mechanischen und blinden Thätigkeiten hinab.

Seit den Arbeiten von Whyte, Prochaska, Legallois und besonders von Marshall Hall hat man beim Tier Bewegungen anerkannt, welche einfache Reaktionen auf einen äusseren Eindruck sind, Reaktionen, bei denen Gehirn und verlängertes Mark nicht beteiligt sind, und die vom Rückenmark ausgehen. Diese Bewegungen, die man als eine Art von Rückstoss oder unmittelbarer Reflexion betrachtet, die unbewusst und scheinbar ganz mechanisch erfolgt, hat man in der Folge Reflexthätigkeiten genannt.

Bei den Versuchen selbst jedoch, die zuletzt von Vulpian so gut beschrieben worden sind, sieht man Tiere, denen vom Cerebro-Spinalsystem nur das Rückenmark geblieben ist, oder sogar nur ein Teil desselben, nicht nur mit Bewegungen auf äussere Reize reagieren, sondern Bewegungen verschiedener Teile zweckmässig zur Abwehr eines Angriffes verbinden. Ist man nicht berechtigt mit Whyte, Prochaska, Paton und Pflüger in so verbundenen Bewegungen Aeusserungen eines gewissen Vermögens der Empfindung, der Wahrnehmung und weiter der Zwecksetzung zu erblicken, und sieht man also nicht in der dunkelsten Tiefe des Lebens noch einen Schimmer eines erkennenden und wollenden Princips? Die Philosophie scheint hieraus wie bei der Frage des Organicismus, des Vitalismus und des Animismus, welche sich von der vorliegenden nicht unterscheidet, schliessen zu können, dass im Grunde Alles auf ein und dasselbe Princip hindeutet, welches allerdings unter Bedingungen stehen kann, die es von der Stufe aus betrachtet, auf welcher es im Besitze bewusster Selbstbestimmung ist, mehr und mehr veräusserlicht erscheinen lassen.

Wie Claude Bernard in einem Teile seiner physiologischen Lehre den Gedanken aussprach, dass man alle Erscheinungen der lebenden Wesen als demselben Mechanismus unterworfen ansehen müsste, der im unorganischen Gebiete zu herrschen scheint, ebenso äussert Vulpian von der Betrachtung der Reflexthätigkeiten ausgehend, die er als ganz mechanische betrachtet, obwohl uns der Mechanismus derselben unbekannt ist, die Ansicht, dass dieselbe Erklärung immer weiter auf die instinktiven Erscheinungen und weiter auch auf das Gebiet des Intellekts und des Willens auszudehnen sei. Er bemerkt, dass, wenn die Reflexthätigkeiten durch Eindrücke bestimmt sind, die willkürlichen ebenso durch Vorstellungen bestimmt werden. Ohne zu prüfen, ob der sich nach Vorstellungen bestimmende Wille Spontaneität nicht nur nicht ausschliesst, sondern einschliesst, glaubt Vulpian, indem er sich ausserdem auf die Hypothese stützt, dass die Reflexthätigkeiten auf einem Mechanismus beruhen, diesen Mechanismus auch auf den Willen ausdehnen zu können. »Von diesem Gesichtspunkte aus, der der einzig wahre ist, sagt er, können und müssen die Willenshandlungen, wie einige neuere Physiologen annehmen, als Erscheinungen der Reflexwirkung im Gehirn angesehen werden.« An anderem Orte: »Wenn man Schritt für Schritt, von Erscheinung zu Erscheinung übergeht, so ist man überrascht, sich schliesslich vor die Frage gestellt zu sehen: Was ist in Wahrheit eine willkürliche Erscheinung? Und man kann sagen, dass bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft sehr wenige Physiologen der Art, wie die meisten Philosophen den Willen betrachten, beistimmen würden.« Vulpian will damit sagen, dass der Stand der Wissenschaft den Glauben an die Freiheit des Willens nicht mehr zulässt.

In der That, wenn man dem Faden der Analogie folgt und von der Voraussetzung eines blossen Mechanismus bei den Erscheinungen tieferer Stufe ausgehend dieselbe Erklärung von Stufe zu Stufe auf die höheren Erscheinungen ausdehnt, so ist es klar, dass man notwendig schliesslich alle Spontaneität aus ihnen entfernen wird. Doch scheint es, obwohl Vulpian die Metaphysik noch geringer schätzt als Bernard, dass seine Untersuchungen und Entdeckungen schliesslich zum Beweise des Satzes führen, in dem die ganze Metaphysik eingeschlossen liegt, dass Denken und Wollen Allem zu Grunde liegen, dass die Natur uns nur Verkümmerungen dieser Thätigkeiten zeigt, dass die Lebenserscheinungen in allen ihren Abstufungen sich zuletzt als Brechungen eines universellen Lichtes in Medien von verschiedener Trübung erklären lassen.

Wenn wir von dem höheren oder centralen Nervensystem zu dem niederen übergehen, welches aus jenen zerstreuten Nervencentren besteht, die man Ganglien nennt, und die die niederen Lebensfunktionen beherrschen, so begegnen wir ganz neuen Entdeckungen der Physiologie, welche die Schlüsse zu bestätigen und sogar zu verallgemeinern scheinen, zu denen wir uns durch die jetzigen Kenntnisse von dem Central-System berechtigt fanden; und es hat sich ein Philosoph gefunden, der sie nahezu in diesem Sinne ausgelegt hat.

Bichat entwickelte einen zuerst von Grimaud ausgesprochenen Gedanken und unterschied mit Anwendung übrigens wenig passender Bezeichnungen ein animalisches und ein vegetatives Leben; d. h. ein höheres Leben, das im allgemeinen mit Willen und Bewusstsein verknüpft ist, und ein niederes, das im allgemeinen unbewusst und unwillkürlich stattfindet. Buisson (ein Verwandter von Bichat) beobachtete, dass es zwischen den Aeusserungen der ersten Art des Lebens und denjenigen der zweiten Uebergangserscheinungen gibt, nämlich diejenigen der Zirkulation und der Atmung, der Lunge und des Herzens, bei denen das Unwillkürliche sich mit dem Willkürlichen mischt. Buisson fand so das Verbindungsglied zwischen den beiden extremen Aeusserungen des Lebens.

Schon die oberflächlichste Beobachtung konnte dies erkennen, und die exakte Forschung sollte es bald bestätigen.

Stets hatte man den menschlichen Körper in drei Hauptabschnitte eingeteilt: Kopf, Brust und Bauch. Der Kopf mit dem Gehirn, die Brust mit Herz und Lunge, der Bauch mit dem Magen und den Eingeweiden. »Gehirn, Herz und Magen«, so sagte Buisson, »sind der Dreifuss, auf dem das Leben ruht«. Es ist das eine Einteilung, welche die Pathologie rechtfertigt und deren hohe Bedeutung die neueren Entdeckungen der Embryologie in unzweideutiger Weise bewiesen haben. Coste und Bischoff haben gezeigt, dass, sobald man im Ei die erste Anlage des Embryo unterscheiden kann, drei Blätter zu bemerken sind, aus denen die drei Hauptteile des Körpers hervorgehen: ein inneres Blatt, welches sich zu den inneren Organen gestaltet, ein äusseres Blatt, aus dem die peripherischen Organe, die Wirbelsäule mit ihren Anhängen entstehen, und ein mittleres Blatt für Herz, Gefässe und Lunge. Wenn man nun von der Betrachtung der Abschnitte des Organismus zum Nervensystem übergeht, so findet man, dass die höheren Lebensfunktionen von Gehirn und Rückenmark, die Funktionen der Ernährung und Fortpflanzung hauptsächlich von den Ganglien, welche das sogenannte grosse sympathische System bilden, und dass die mittleren Funktionen der Atmung und Zirkulation von einem mittleren Nervensystem abhängen, welches früher das kleine sympathische, jetzt dagegen das pneumo-gastrische heisst; es besteht aus dem zehnten Nervenpaar des Schädels und hängt mit dem oberen Teile der Wirbelsäule in dem von Flourens sogenannten Lebensknoten zusammen, den man in der That nicht verletzen darf, ohne dass sofort durch Unterbrechung der Atmung das Leben erlischt; ein mittleres System ist es, insofern es einerseits im Kopfe mitten im Cerebro-Spinalsystem entspringt, und andrerseits in seinen Endigungen im Herzen und der Lunge ganglienartig wird.

So gibt es also zwischen den von Bichat gegenübergestellten Extremen ein Zwischenglied; Zwischenglied ist es selbst nach seiner Lage zwischen Kopf und Bauch; Zwischenglied ist es in seinen Funktionen, in denen Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit sich mischen; Zwischenglied ist es endlich sowohl nach seinem anatomischen Bau als nach den Funktionen desjenigen Teils des Nervensystems, von welchem diese Organe abhängen. Durch ihre specifischen vermittelnden Funktionen bewirken aber die Organe der Brust beständige und innige Beziehungen zwischen denen des Gehirns und des Bauches. Ueberall also und in jeder Weise herrscht im Organismus und im Leben Verknüpfung und Continuität.

Einen Teil dieser Thatsachen und Bemerkungen, besonders soweit sie den pneumo-gastrischen Nerven betreffen, hat nun P. Gratry in seiner »Wissenschaft der Seele« gesammelt, verglichen und so erklärt, dass die dreigliedrige Einheit des Organismus in ein helles Licht gesetzt wird. Sein Zweck dabei war hauptsächlich den Körper als ein Abbild der Seele darzustellen, und die Seele als Abbild der göttlichen Natur, wie sie durch das Dogma der Dreieinigkeit bestimmt wird. Man kann bezweifeln, ob dieser Versuch, der abgesehen von dem massgebenden theologischen Vorurteil einen durch die platonische Philosophie aufgestellten Gedanken verfolgt, ein gelungener im Sinne der Forderungen strenger Wissenschaft ist; aber seine Gedanken über die Beziehungen der organischen Funktionen und die Folgerungen, welche er aus denselben zieht zum Beweise, dass im Grunde ein und dasselbe Princip im lebenden Wesen alles wirkt, dürften von dauerndem Wert sein als Anfänge einer Theorie (die nach dem vorher Gesagten im Begriff ist sich zu bilden) über die Einheitlichkeit des Lebens und seine durchgängige Abhängigkeit von der Macht der Seele.

»Im Grunde sagt P. Gratry ist es immer die Seele, welche fühlt und durch die Nerven bewegt und Alles im Körper wirkt. Es ist das die Lehre des heil. Thomas und des Aristoteles, die nur durch den Irrtum derer bekämpft wird, welche annehmen, dass die Seele Nichts wirkt, in sich selbst oder im Körper, ausser was sie will und weiss«. Bemerken wir nur noch, dass, wenn die Seele das Wirkende in den Lebensfunktionen ist, dies, da die Seele denkendes Wesen ist, nur durch Denken und Wollen geschehen kann, wenn auch vielleicht durch solches Denken und Wollen, das ihr selbst entgeht und bei dem sie sich nach aussen verbreitend fast ganz aus dem Bewusstsein heraustritt.


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