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XIX.
Versuch einer neuen Metaphysik von »Strada«.

Ein Schriftsteller, der unter dem Pseudonym Strada schon verschiedene Werke in Prosa und Poesie veröffentlicht hatte, liess 1865 einen: »Essai d'un Ultimum organon, ou Constitution de la méthode, I. série, Bases de la metaphysique, erscheinen, worin er Ideen entwickelt, die im Grunde denen der Ontologisten nicht unähnlich sind, aber von einem ganz anderen Gesichtspunkte ausgehen und die grösste Geistesfreiheit verraten. Wenn man in der oft ungewöhnlichen sprachlichen Form des Autors seine Gedanken hervorsucht, so sieht man, dass er den Tendenzen, welche in der Gegenwart zu herrschen scheinen, zum Trotz die Metaphysik, die Wissenschaft des Uebernatürlichen wiederherstellen will.

»Das Uebel unserer Zeit, sagt er, besteht darin, dass das von Anstrengungen ermüdete und des Ruhepunktes entbehrende Denken sich an die materielle Wirklichkeit klammert und sich bei derselben beruhigt. Die Wahrheit existiert nicht mehr und mit ihr sterben die höheren Gedanken. Des Kriteriums der Wahrheit und der Methode zu ihrer Auffindung beraubt, dreht sich das Denken gewissermassen im Wirbel herum und stürzt sich endlich in den atheistischen Materialismus.«

Strada hält sich wenig bei der Kritik der zu handgreiflich unvollständigen und oberflächlichen Theorien auf, die alles auf die Materie und auf die Sinne zurückführen, und die er mit einem Namen, der beibehalten zu werden verdient, pseudopositivistische nennt; sondern er zeigt, wie sich in die Metaphysik selbst ein sie störendes physisches Element eingeschlichen hat.

»Gegenstand der Erkenntnis, sagt er, ist das Sein; aber das Sein hat, unter welcher Form es sich auch darstellen mag, gewisse wesentliche Eigenschaften, die also für jedes Wirkliche, in dem das Sein realisiert ist, Bedingungen, Gesetze bedeuten. Deshalb lässt sich alles ableiten und beweisen.« Abweichend von der Mehrzahl derjenigen, welche in der letzten Zeit die Metaphysik gegen ihre Gegner verteidigt haben, und die aus oben angegebenen Gründen im allgemeinen wenig Vertrauen auf ein regelrechtes Denken zeigen, sondern ihm eine sprungweis vorgehende Induktion oder die unerklärlichen Offenbarungen einer geheimnisvollen Vernunft vorziehen, hält Strada daran fest, dass es Nichts giebt, worauf das logische Denken sich nicht erstrecken liesse. Die notwendigen Eigenschaften des Seins können nun nach seiner Ansicht auf die drei folgenden zurückgeführt werden: die Bestimmbarkeit durch die sich ausbreitende Kraft, die Beharrung oder die Identität in der Zeit, und das Wesen, in dem die beiden ersteren sich vereinigen. Die notwendigen und constitutiven Eigenschaften bilden, so erklärt er, den Gegenstand des Denkens; die zufälligen Verwirklichungen derselben den Gegenstand der Erfahrung; jede zufällige Verwirklichung schliesst aber notwendig die constitutiven Eigenschaften ein: wenn wir also einen Gegenstand sinnlich wahrnehmen, so denken wir ihn zugleich durch einen Begriff.

Vielleicht sollte man mit Bossuet und Kant hinzufügen, dass wir uns ihn noch ausserdem in der Phantasie vorstellen. Man kennt die Theorie Kants, nach welcher die Elemente der Sinnlichkeit zunächst durch die Phantasie zu einem Ganzen verbunden werden, so dass erst auf das Resultat der Synthesis in der Phantasie die höhere Synthesis des Verstandes angewandt wird. Auch Bossuet hatte schon bemerkt, dass wir Nichts sinnlich wahrnehmen, ohne es sofort in der Phantasie uns vorzustellen.

Bei Betrachtung dieses Mittelgliedes zwischen Sinnlichkeit und Denken hätte Strada vielleicht die von ihm aufgestellte Lehre noch genauer begründen können, dass den Eigenschaften der Dinge drei Erkenntnismittel entsprechen: dem Reellen die Erfahrung; dem Numerischen die Rechnung; dem Begrifflichen der Syllogismus; eine Lehre, die an die platonische und aristotelische Dreiteilung der Wissenschaft in Physik, Mathematik und Philosophie erinnert. In der That könnte man vielleicht bei Verbindung der Ideen dieser Denker des Altertums mit denen von Leibniz und Kant sagen, dass die Quantität, der eigentliche Gegenstand der Mathematik, die Welt der Imagination bezeichnet, welche in der Mitte zwischen dem Gebiete der Sinne und dem des reinen Verstandes liegt. Wie dem auch sei, nach Strada ist die Sache so, dass wir durch unabhängige Fähigkeiten gleichzeitig die Erkenntnis der verschiedenen Teile der Dinge gewinnen, ohne dass es uns möglich ist, die eine aus der anderen abzuleiten, und gestützt auf die eine unserer Erkenntnisweisen die anderen zu entbehren. Vergebens wird sich der Materialist bemühen, durch das Sinnliche das Intellektuelle zu erklären; aber vergebens werden auch die Spiritualisten versuchen, die Natur apriori mit Hilfe blosser Gedanken zu construieren. Wenn es bisweilen scheint, als ob dies gelingen möchte, wie bei Hegel, so sind im Voraus die sinnlichen Eigenschaften in das Begriffliche hineingelegt worden, welche man dann aus demselben zu entwickeln vermeint. Auch muss Hegel in der Natur eine Menge Einzelheiten antreffen, von denen seine ganze Logik nicht die geringste Erklärung zu geben vermag, und die er höchstens ignorieren kann.

Wir fassen alle, sagt Strada, mit den zufälligen einzelnen Wirklichkeiten die notwendigen Eigenschaften auf, die darin liegen; wir fassen sie aber nicht alle im gleichen Grade auf. In den zufälligen Dingen die notwendigen Eigenschaften zu erkennen, ist das Wesen des Genie's. Indem es sich über die äusseren Verhältnisse oder das »Milieu«, an welchem die gewöhnliche Intelligenz haften bleibt, erhebt, »taucht das Genie direkt und ohne Umschweif in das Absolute, und deshalb ist seine Leistung für alle Orte und alle Zeiten giltig.« Es ist also immer das Genie, welches entdeckt, weil es in unmittelbarer Berührung zum Absoluten, Göttlichen steht; die Menge folgt nur.

Indes es genügt nicht in jedem Gegen stände der Erfahrung das eingeschlossene rein ideale Element aufzuzeigen; um die Metaphysik zu begründen, ist noch zu beweisen, dass das Ideale, das Absolute unabhängig vom Physischen, Sinnlichen und Zufälligen ist. Die Mehrzahl der Zeitgenossen haben aber vielmehr das niedere Element auf das Höhere mit einwirken lassen, die Physik auf die Metaphysik. Kant erkannte sehr genau, dass alles in der Natur sich in Form von Gegensätzen, Antinomien darstellt, da Alles in derselben aus Gegensätzen gebildet ist. Hegel ging weiter; er trug die Antinomien bis in den Schoss des Absoluten und betrachtete sie als die Elemente seines inneren Gefüges. Man hat diese beiden grossen Denker, besonders den letzteren, der Verwegenheit geziehen. Weit gefehlt, sagt Strada, man muss sie der metaphysischen Feigheit bezichtigen; »das grosse Schauspiel der Antinomien hat ihnen zu sehr imponiert«: sie nehmen dieselben aus der Erfahrung und erklären sie für allgemeine und notwendige Principien; ihre Philosophie besteht also darin, dass das Metaphysische physisch betrachtet wird. Dasselbe gilt umsomehr von den Spiritualisten, welche in Gott getrennte Begriffe annehmen; indem sie die Vielheit in ihn hineinbringen, machen sie ihn selbst endlich.

Die Philosophie, so sagt der Verfasser des Ultimum Organum, beschäftigt sich mit den Antinomien; aber sie sollte begreifen, dass dieselben erst an zweiter Stelle kommen, nächst dem Absoluten, welches von ihnen frei ist. Ohne Zweifel wird dem Negativen gegenüber und von ihm beschränkt das Positive selbst negativ: und es scheint, dass das Eine wie das Andere nur unter der Bedingung seines Gegenteils und in Beziehung auf dasselbe besteht. Das sagen, wie wir gesehen haben, nicht allein Hegel, der nach Strada's Ansicht wenigstens das Gefühl der Unzulänglichkeit dieses Standpunktes hat, und nach der Auflösung seiner Antinomien strebt, sondern auch Kant, Hamilton und alle Diejenigen, welche den Gegensatz und die Relativität zum allgemeinen Princip machen. Jedoch, so erklärt Strada weiter, sind das Negative und das Positive, die in jedem Dinge vorkommen, nur mathematisch gleichwertig, d. h. so wie die abstrakten Einheiten in einer Zahl gleich sind, welcher Realität sie auch entsprechen mögen. Das Negative hat alle seine Wirklichkeit vom Positiven; die Negation ist eine Ableitung der Position; die Position hat an sich keine Negation nötig. »Eine Position ist gegeben; ich leugne sie, meine Negation verleiht sofort meiner Position den Charakter als Negation der Negation. Aber ist denn die Position an sich Negation? Nein; sie ist es durch eine Negation.« Vergeblich also die Negation und das Nichtsein bis zur Gleichheit mit dem Sein und der Position zu steigern. Da jede Negation ihre Berechtigung nur in und durch eine Wirklichkeit findet, so ist das Negative sekundär, das Positive ursprünglich. »Das Positive verhält sich zum Negativen wie 1 zu 0, wie die Wirklichkeit zum Nichts.« »Es wird ein Tag kommen, sagt Strada, wo eine metaphysische Erklärung aus der Vereinigung des Nichtseins mit dem Sein ebenso kindisch erscheinen wird, wie es heute eine physikalische Erklärung aus dem leeren Räume in Verbindung mit der Materie wäre. Es ist Zeit, dass man begreift, dass, wenn auch in der Natur das Wirkliche sich überall begrenzt zeigt, die Begrenzung deshalb doch nicht zu seinem Wesen gehört.« Der metaphysische Geist besteht also nach seiner Ansicht darin, zu begreifen, dass es über der Sphäre der Antinomien und der Widersprüche, d. h. der Sphäre, in der die Natur ist und in der auch wir uns bis zu einem gewissen Grade befinden, eine Sphäre des Absoluten giebt, in der die Negation, welche uns jetzt als die Bedingung aller Existenz erscheint, keinen Platz findet, und in der es nur Realität giebt; das ist das eigentliche Gebiet des Seins.

Das Sein ist der Gegenstand des Verstandes. Durch das Sein gereizt, eignet sich der Verstand dasselbe in einer ganz freien und doch notwendigen Art an, durch »Abstraktion und Extraktion.« Das Sein dient dem Verstände wie die Nahrung dem Magen, wie die Luft den Lungen. Da der Verstand also dem Sein entspricht, so entsprechen auch den verschiedenen Eigenschaften des Seins die verschiedenen Funktionen des Verstandes. In jedem Wirklichen finden sich, wenn auch in verschiedenen Verhältnissen alle Qualitäten des Seins. »Der Mensch versteht Gott in aller und jeder Thatsache; er ist wie betäubt von dem Rauschen und den ewigen und unablässigen Lauten des Absoluten«; ebenso finden sich in jedem geistigen Akte, im ersten und einfachsten in verschiedenen Stufen der Entwickelung alle Fähigkeiten des Geistes thätig. Keine Wahrnehmung, so elementar sie auch sei, die nicht das ganze Vernunftvermögen, die ganze Methode zur Anwendung brächte. Es bleibt noch zu wissen, in welcher Weise, mit anderen Worten, welche Methode aus diesen Principien sich ergiebt.

Die Methode bezeichnet für Strada die Bewegung, den Gang des Geistes; jedes Individuum, jedes Volk hat seine Methode, welche von jedem erfinderischen und begründenden Genie ausgeht, und die viel mehr als die äusseren Umstände des Ortes und der Zeit seine Geschichte erklärt. Die Menschheit entwickelt sich gleichzeitig in Richtungen, welche verschieden wie unsere Fähigkeiten und bis zu einem gewissen Grade von einander unabhängig sind: in Religion, Kunst, Wissenschaft, socialen und politischen Einrichtungen; sowie Lungen, Herz und Gehirn in gewissem Grade unabhängig von einander leben. Diese freien und doch harmonisierenden Entwickelungen haben ein Princip, aus dem sie Zusammenhang und Einheit gewinnen, das ist die Methode, der Gedanke. »Eine als wahr erkannte Idee ist die Grundlage und das Band jeder menschlichen Gemeinschaft. Man hat oft gefragt, wo ist das Vaterland: Da ist es.« Der Grund ist, weil die Methode die Entwickelung der notwendigen Gesetze im menschlichen Geiste ist, die sich gleichzeitig in den Dingen entwickeln. »Gott und der Mensch machen die Geschichte: Gott durch die notwendigen Gesetze, der Mensch durch seine Methode; dergestalt, dass die Intelligenz durch ihre Constitution, welche die Methode giebt, durch ihre Erkenntnis, die aus den notwendigen Gesetzen sich ableitet, diese ganze Welt materieller Vorgänge erzeugt, welche nur eine Form der Einkleidung ist … Der Geist ist die Geschichte, Die Ursache der Veränderungen in Religion, Institutionen, in der Philosophie ist der Geist, welcher nach der Methode sucht.«

Die Methode ihrerseits führt auf den Begriff des Kriteriums. Das Kriterium ist das Princip, nach dem wir das Wahre beurteilen, das absolute Princip der Gewissheit, Wenn Methoden die tiefste Grundlage der Geschichte bilden, so liegen den Methoden Kriterien zu Grunde, Quellen der Ueberzeugungen und Interessen. Die Nationen suchen das Kriterium; im Verfolge desselben gehen sie von Veränderungen zu Veränderungen über. »Was bedingt die Beweglichkeit des Menschen? Sein Suchen nach dem Absoluten; seine Leidenschaften wie seine Vernunft treiben ihn auf dasselbe hin, so dass der Mensch nur veränderlich ist, weil er bestrebt ist, es nicht mehr zu sein.«

Mehrere Kriterien, mehrere vermeintliche Principien der Gewissheit haben nach einander ablösend geherrscht: bei den Urvölkern die Kraft; bei den Griechen die Beobachtung und das Denken; im Mittelalter der Glaube, seit Descartes die Evidenz; alle sind unvollständig, ungenügend. Die Kraft ist dem Geiste fremd; Beobachtung und Denken bedürfen der Principien; der Glaube braucht Beweise; die Evidenz macht das Individuum zum höchsten Richter. In der Gegenwart herrschen Kämpfe der Vernichtung zwischen den einander feindseligen Kriterien. »So erklären sich diese widerspruchsvollen Erscheinungen, welche ungelöste Probleme geblieben sind: der zunehmende Materialismus in einer Gesellschaft, welche nach dem Absoluten strebt: die Freiheit, welche in dem für Unabhängigkeit glühenden Zeitalter nicht gesichert werden kann; das Absterben der Metaphysik und die Zerrüttung des höheren wissenschaftlichen Denkens. Schon schaudert man, alle Bestrebungen unserer Zeit nur auf eine tiefe Unsittlichkeit und auf die Sklaverei des Altertums hinauslaufen zu sehen. Befinden wir uns also auf den Trümmern des Geistes und der Freiheit? Ist es nichts als Staub, was die Jahrhunderte gebracht haben? Soll der Sturm der Verzweiflung alle menschlichen Dinge, alle Gedanken der Genie's, die nach absoluter Wahrheit trachteten, fortfegen?«

Nein, sagt Strada. Ein Kriterium bleibt zu finden und ist fast gefunden, welches die Widersprüche auflösen, der Unsicherheit ein Ende machen wird. Dieses Kriterium, welches mit der Begründung einer definitiven Methode der Wissenschaft und der Civilisation eine neue haltbare Unterlage schaffen soll, dieses untrügliche Kriterium ist das Thatsächliche.

In Bezug auf die Objekte ist es ein Irrtum, an dem niederen Gesichtspunkte der Antinomien festzuhalten; ein ähnlicher Irrtum in Betreff des Verhältnisses des Geistes zu den Objekten ist es, sich an die speciellen Kriterien zu halten, welche bis jetzt geherrscht haben, und durch die das beschränkte Individuum sich Princip und Regel schafft; besonders gilt dies von denjenigen, welche seit Descartes von Einfluss sind, Glaube und logische Evidenz, zu deren Gunsten man die Spekulation aufgegeben hat. Sich auf den Glauben berufen heisst an ein Gefühl appellieren, über welches man keine Rechenschaft giebt; ebenso ist es mit der Evidenz, ein Begriff, der vom Sehen hergenommen ist; sich ganz der Evidenz anvertrauen, heisst sich auf Geisteszustände stützen ohne andere Garantien als diese selbst. Auch sucht der Glaube im Grunde eine äussere Stütze: »Glaube findet nur statt, wenn zwar nicht alle Behauptungen einer Lehre, aber wenigstens die allgemeine Wahrheit derselben evident ist: und was die Evidenz betrifft, so wird sie, wenn bestritten, auf einen Grund zurückgeführt.« Also beruhen Glaube und Evidenz auf Begründung, selbst wenn man ohne Grund glaubt und ohne Ueberlegung sieht. Der heil. Augustin fühlte diese Wahrheit, als er sagte: »Wir könnten nicht einmal glauben, wenn wir nicht vernünftige Seelen hätten, die des Nachdenkens fähig sind.« Es sind also die Vernunft und die Vernunftthätigkeiten, d. h. Erfahrung, Rechnung und Syllogismus, welche den Glauben wie das Wissen möglich machen.

Strada bemerkt weiter: »Ich habe also Recht, wenn ich behaupte, dass Descartes den Geist in einer antimethodischen, dem Glauben ähnlichen Verfassung lässt. Aber während der Glaube den Menschen an Gott knüpfte, lässt ihn die Evidenz sich nur auf sich selbst stützen; Descartes lässt den Menschen in dem trüglichsten, dem kindischen und unmöglichen Glauben an sich selbst. Die Consequenzen davon sind handgreiflich in der menschlichen Gesellschaft: das Mittelalter hatte das erhebende Bewusstsein des unmittelbaren und lebendigen Zusammenhangs mit seinem Gotte; die Neuzeit hat ausgeartete Formen des Individualismus und der persönlichen Selbstherrlichkeit; sie sagt mit Protagoras: der Mensch ist das Mass der Dinge. Ein Gemeinplatz ohne tiefere Begründung.« – »Was heisst das übrigens, wenn man vom Geiste sagt, dass er durch Evidenz erkennt? Man besagt, dass er sieht, weil er sieht, Es ist in der That sehr bequem, den ganzen schönen und verborgenen Mechanismus des Denkens, seine Uebereinstimmung mit dem Sein und seine wunderbare Anpassungsfähigkeit an jede Form des Seins auf sich beruhen zu lassen, und, als ob man dem Geheimnis näher gekommen wäre, mit den Worten abschliessen: Ich sehe, weil ich das Vermögen zu sehen habe.«

Als Descartes der syllogistischen Methode des Mittelalters, welche aus wenig zuverlässigen Principien endlose Reihen unnützer Folgerungen zog, das einfache Licht der Evidenz gegenüberstellte, worauf später auch der »gesunde Verstand« der schottischen Philosophie hindeutete, hatte Leibniz scharfsinnig bemerkt, dass das ein sehr summarisches Verfahren wäre, welches an Stelle der Wissenschaft das Willkürliche setzte. Läge auch der Grund in einer Evidenz, so müsste man sich doch Rechenschaft geben, ob man dieselbe erreicht habe. Nichts wäre thatsächlich evident als die identischen Sätze, welche das Wesen der Vernunft selbst darstellen; alle scheinbare Wahrheit müsste, um beurteilt und nach ihrem eigentlichen Werte geschätzt zu werden, durch Analyse auf diese Identitäten zurückgeführt werden.

»Alles lässt sich beweisen, sagt Strada in einem ähnlichen Sinne, wenn auch nicht durch jede Wissenschaft. Die abgeleiteten Wissenschaften nehmen die Begriffe, auf welche sie sich stützen ohne Definition aus den Grundwissenschaften. So definiert die Metaphysik die Begriffe der Zeit, des Raumes u. s. w. und überlässt sie der Geometrie, welche sie mit geschlossenen Augen empfängt, sodann ihre Axiome, Definitionen und Hypothesen aufstellt und mit den geeigneten methodischen Hilfsmitteln bis zum Beweise weitergeht; so dass in dem Gesamtgebiete des Wissens alles definiert und bewiesen wird.« Noch mehr: nichts ruht so auf Vernunftgründen als die Axiome; sie sind die Ergebnisse eines so notwendigen und so häufig wiederholten Räsonnements, dass man dasselbe nicht mehr bemerkt; gerade so, wie wir ohne Aufmerksamkeit und Bewusstsein die Luft athmen.

Mit Anwendung aller unserer Fähigkeiten, also des Räsonnements in Verbindung mit der Rechnung und Wahrnehmung bilden wir in notwendiger und zugleich freier Weise unsere Erkenntnisse und vor allem die einfachsten Elemente der Erkenntnis.

Im Namen und auf Grund welches Princips? Im Namen und auf Grund der Thatsächlichkeit.

Für Strada ist das Thatsächliche nicht blos der Gegenstand der Sinne; es ist das Wirkliche, wende es sich an die Sinne oder an den Verstand. Sein beständiges Bestreben ist der Gewissheit ein Princip zu schaffen, welches ebenso über der Materialität steht, die Nichts für sich bedeutet, wie über der Individualität, die allein auch Nichts ist. Er findet dies Princip in der vollen Thatsächlichkeit, welche die sogenannten notwendigen Qualitäten und das Absolute mit einschliesst. »Das Thatsächliche, sagt er, ist die Verknüpfung des Natürlichen und des Uebernatürlichen. Man will jedes Wunder leugnen: das Leben des Gedankens ist ein beständiges Wunder; Gott wird Natur in jeder Thatsache; der unendliche Geist wird in jedem Begriffe endlicher Geist; in jeder Thatsache besitzt der Geist Gott,«

Kriterium ist das Thatsächliche; deshalb ist Gott das Kriterium. »Gott als Kriterium, greifbar im Thatsächlichen, darin liegt Alles: das ist die Grundlage jeder Lehre und der ganzen methodologischen Umwälzung. An dem Tage, wo der Mensch diese Wahrheit begreifen wird, wird er einsehen, dass ihm nichts, was ihm nötig wäre, fehlt.« – »Seitdem ich sie verstanden habe, sagt unser Autor, besitze ich Klarheit und Ruhe, denn jede Thatsache bekundet Gott, und ich sehe den Menschen sich durch das Thatsächliche an der göttlichen Substanz nähren; und darum empfinde ich seine Gegenwart im Herzen und im Geiste. Man muss ihn gleichzeitig lieben, während man ihn studiert. Nicht schöne Syllogismen oder schöne Beobachtungen bilden die Grundlage der Wissenschaft, sondern die Gemeinschaft mit dem Sein und mit Gott in dem tiefinneren Herzschlag, welchen der Kunstgegenstand, der wissenschaftliche Begriff und die tugendhafte That in uns erregen; es ist ein Leben zu zweien, welches sich nur in der Erkenntnis und Liebe abspielt. Das ist die Seele der Methode: Erfahrung, Glaube, Syllogismus bilden ihr Aeusseres.

Der Geist fängt dem Thatsächlichen gegenübergestellt und in seinem Eifer es zu besitzen an, es sich apriori, durch Hypothese zu erklären; das ist der erste Schritt der Wissenschaft; dann kommt das Aposteriori, die Bestätigung, der Beweis, damit der Besitz. Dies ist der notwendige Gang der Methode: Hypothese, unendliches Verlangen, Gewissheit, Beruhigung und Glück ohne Ende. Methode ist Leben; das Leben die Assimilation und völlige Transsubstantiation des Seins in das Denken.

Zur Schilderung dieser Vereinigung, dieses Liebesbundes des Seins und des Geistes findet Strada begeisterte Ausdrücke. Sein Werk endet mit einer Hymne der Hymnen über Wissenschaft und Metaphysik und schliesst mit dieser feurigen Anrufung: »Gott, der du bist Wärme, Gott, der du bist Gedanke, Gott, der du bist Blut, Gott, der du bist das Wort, die Wahrheit und das Leben, Gott du ewiger und allgegenwärtiger Zeuge, erscheine uns. Der Mensch ruft dich; seine Schwäche dürstet nach deiner Stärke, seine Unwissenheit nach deinem Wissen, seine Kleinheit nach deiner Unendlichkeit, sein Irrtum nach deiner Gewissheit, seine Verneinung nach deiner Bejahung. Komm, denn der Mensch kann nicht aufsteigen zu dir ohne dich, der du immer im Thatsächlichen anwesend bist. Komme, und eins mit dir durch das Denken, welches du erweckst, durch die Liebe, welche du erregst, mögen wir eingehen in die Gemeinschaft des Absoluten, welche das Leben in der Wissenschaft, in der Kunst und der Tugend ist.«

Und zum Schluss wendet er sich in einem kurzen Nachwort an die Philosophen der Gegenwart und sagt: »Ich habe Euch alle angegriffen. Ich bin die lebendige Reaction gegen Eure Methoden. Ich habe Euch gesagt: Ihr seid alle im Irrtum … Ich habe Euch alle angegriffen und keiner von Euch wird mir widerstehen. Wollt Ihr sprechen, Theokraten? Ich bekämpfe Euch. Ihr Physiker? Ich bekämpfe Euch. Ihr Evidentisten? Ich bekämpfe Euch. Ich bekämpfe Euch, aber um Euch zu versöhnen. Ich bekämpfe Euch, weil ich den Menschen bekämpfe und Gott verteidige. Ich bin der am meisten realistische aller Philosophen, denn ich gehe soweit zu behaupten, was keiner gewagt hat: dass die Thatsächlichkeit das Kriterium ist. Ich bin der grösste Spiritualist, denn es bleibt bewiesen, dass der Mensch, welcher nach dem Thatsächlichen als seinem Kriterium urteilt, nach Gott urteilt. Die alten Gegensätze werden fallen, wenn man das Thatsächliche und seinen Zusammenhang mit dem Sein, d. h. mit der absoluten Wahrheit begriffen haben wird, deren beständige, immer gegenwärtige Offenbarung es ist. Wenn ich dunkel gewesen bin, so werde ich mich erklären; wenn Lücken bestehen, so werde ich sie ausfüllen nach dem Mass meiner Kräfte.« Er ruft nun alle zu sich, die mit ihm eine »Schule des Seins mit dem Thatsächlichen als Basis, Mittel und Kriterium der Erkenntnis gründen wollen; die Schule der umfassenden Realität des Seins, die Schule, deren Methode Gott, und deren Kriterium das Thatsächliche ist.«

Wie dunkel oft auch Strada ist, durch sein Bemühen, seinen Gedanken mehr Nachdruck zu verleihen als sie aufzuklären, und sein Bestreben, ihren Glanz mehr nach allen Seiten ausstrahlen zu lassen als die in ihnen enthaltenen Elemente geordnet zu entwickeln, so sieht man wenigstens deutlich das Ziel, welches er verfolgt, und dies ist: die Wissenschaft aus dem engen Kreise herauszubringen, in welchen sie durch die ausschliessliche Betrachtung vom Gesichtspunkte der Natur oder des Menschen eingeschlossen wird, und sie auf das Uebernatürliche hinzuweisen, welches durch alle die Wolken hindurchscheint, auf das Absolute und Unendliche, von dem nach dem Ausdrucke des Leibniz alle endlichen und bedingten Dinge nur Ausstrahlungen sind.

Aber mit diesem so begeisterungsvoll gemachten Versuche steht er vielleicht nicht so allein da, als er meint. Wenn wir die Vergangenheit betrachten, so werden wir finden, dass die grössten Naturforscher gewusst haben, dass, wie nützlich und notwendig auch die Erfahrung sei, doch der Vernunft allein das letzte Urteil zusteht; im Beginn der Renaissancezeit schon vor Galilei bezeugt das Leonardo da Vinci; »Wir sind gezwungen, so sagt er, von der Beobachtung zu den Gründen aufzusteigen, aber die Natur geht von dem Grunde zur Erscheinung«; auch die grössten Theologen haben anerkannt, dass der Glauben das Wissen als Princip und als Ziel hat, das bezeugt Anselm in seiner ersten Schrift: »Der Glaube, der zu begreifen sucht«; und was die Philosophen anlangt, so hat Descartes, wenn er auch dem Missbrauch einer inhaltsleeren Syllogistik gegenüber der einfachen Evidenz zu viel Gewicht beizulegen und die Wissenschaft so von einem angeblichen »natürlichen« Verstände abhängig zu machen scheint, doch erklärt, dass das wahre Kriterium, um jede Wahrheit zu beurteilen und jede Gewissheit zu begründen, die Idee Gottes ist, und dass alle Wahrheiten von dieser obersten Wahrheit an gerechnet auseinander folgen und zusammenhängen.

Was die Gegenwart anlangt, so ergibt sich aus der Gesamtheit der Arbeiten über Metaphysik und Philosophie im allgemeinen, die wir besprochen haben, dass die Geister zwar scheinbar zwischen den pseudo-positivistischen Theorien, die zum Materialismus neigen, und den halb-spiritualistischen geteilt sind, nach denen es kein höheres Princip gibt, als einen einfachen allgemeinen Begriff, aus dem sich keine ihrer Folgerungen ableiten lässt, oder ein beinahe ebenso ungenügendes Gefühl; in Wahrheit zeigt sich aber dem aufmerksamen Betrachter eine Lehre, welche einige allerdings kaum noch in ihrem ganzen Umfange erfasst haben, von der aber alle jene Systeme im Verborgenen beeinflusst werden und der sie sich mehr oder weniger aber immer in fortschreitendem Masse nähern. Das ist die Theorie, welche den Dingen ein gleichzeitig intellektuelles und reelles Princip gibt, das sowohl über den äusseren, sinnlichen Erscheinungen steht, an denen der Pseudo-Positivismus sich genügen lässt, als auch über den Abstraktionen, die sich der Geist zur Erklärung derselben bildet, dasselbe Princip, welches der Verfasser des Ultimum organon und die ontologische Schule unter der noch unvollständigen und dunklen Bezeichnung des »Seins« im Auge haben. Diese Behauptung wird sich bestätigen durch die noch zu gebende Uebersicht über die wichtigsten Arbeiten, welche sich in der vorliegenden Periode mit den einzelnen Teilen der Philosophie und den darauf bezüglichen Fragen beschäftigten.


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