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IV.
Die Socialisten: Saint-Simon, Fourier, Proudhon.

Lamennais wollte die nach seiner Meinung ganz unfruchtbare Psychologie der eklektischen Schule durch eine Metaphysik ersetzen, aus welcher die allgemeinen Gesetze der Physik hervorgehen sollten, und die mitzubegründen, die höchste Aufgabe der Physik sei. Eine ganz andere Bewegung brachte, wenn auch in neuen Formen, die Philosophie wieder in den Vordergrund, deren Uebergewicht die Arbeiten von Maine de Biran und Ampère und der Unterricht von Royer-Collard und Cousin zerstört hatten, und die Lamennais mit ihnen verwarf, die Philosophie nämlich, welche alles durch die Sinne erklärt und alles zuletzt auf das Physische zurückführt. Der Ursprung dieser Bewegung kann in den Systemen gesucht werden, durch welche man mitten in den Ruinen des durch die Revolution gestürzten Mittelalters die Grundlagen einer neuen Verfassung der Gesellschaft zu legen suchte, Systeme, welche man demgemäss als sociale bezeichnet hat.

Während unter dem vorwiegenden Einflusse der Dogmen, die das Christentum anfänglich der Verderbnis des entarteten Altertums entgegengestellt hatte, das Mittelalter von dem Gedanken eines höheren Reiches, zu dem das irdische Reich, die Welt, fast nur Gegensätze bot, beherrscht war, und während also der allgemeine Charakter der sittlichen Theorien ein die Dinge der Erde oft übermässig verachtender Mysticismus gewesen war, war es die herrschende und ausschliessliche Idee des Socialismus, hienieden die vollendete Weltordnung und das Glück zu verwirklichen, welche das Mittelalter einem übernatürlichen Dasein zuwies: die Erde statt des Himmels! Man hat oft in der Idee eines allgemeinen Fortschritts einen Grundgedanken der Philosophie unserer Zeit gesehen und denselben auf Condorcet zurückgeführt. Indes gehört diese Ehre Denkern von höherem Range, dem Pascal und Leibniz. Pascal sagte, dass die Menschheit wie ein Mensch betrachtet werden müsste, der immer fortlebt und beständig zulernt; Leibniz äussert eine noch umfassendere Anschauung: »Was der Schönheit und Vollkommenheit der göttlichen Werke die Krone aufsetzt, ist der Umstand, dass das Universum beständig und in ganz freier Bewegung zu einer immer vollständigeren Ordnung fortschreitet«. Selbst in der himmlischen Seligkeit soll Bewegung und Fortschritt stattfinden: »Unser Glück wird niemals und darf niemals in einem vollen Geniessen bestehen, das nichts mehr zu wünschen lässt und unseren Geist abstumpfen würde, sondern in einem beständigen Fortschritt zu neuen Genüssen und neuer Vollkommenheit.« Condorcet, der von den Principien einer halb-materialistischen Philosophie erfüllt war, that nichts, als dass er den Gedanken des allgemeinen Fortschrittes, indem er ihn auseinandersetzte, zugleich auf die Bedingungen der natürlichen und irdischen Existenz beschränkte. Das Gleiche gilt von den Socialisten und zunächst von dem ersten in unserem Zeitraume, Henri de Saint-Simon.

Nach St.-Simon hatte das Christentum im Namen eines ganz geistigen Gottes das Fleisch mit einem ungerechten Fluche beladen; das Mittelalter hatte es verachtet und unterdrückt; die Neuzeit sollte es wieder zu seinem Rechte bringen. Indem es das Fleisch und die Materie verachtete, hatte das Mittelalter ferner auch die gering geschätzt, welche im Ganzen der menschlichen Gesellschaft vorzüglich mit materiellen und fleischlichen Dingen beschäftigt waren, mit anderen Worten das Volk, und diejenigen verherrlicht, welche sich mit geistigen Dingen befassten. Die Neuzeit sollte dem Volke sein Recht verschaffen: ihre Aufgabe wäre nach einer von St.-Simon dem Condorcet entlehnten Formel, an der Verbesserung des Loses der zahlreichsten und ärmsten Klasse zu arbeiten. Dies waren die allgemeinen Gedanken von beinahe philosophischem Anstrich, welche der Lehre, die sich nach ihrem Urheber die St.-Simon'sche nannte, zur Grundlage dienten. Enfantin vermehrte dieselbe mit Auseinandersetzungen, in denen man oft anstössige Spuren einer Art von Cultus derjenigen Funktionen findet, durch die sich der Mensch am wenigsten vom Tier unterscheidet.

Das Ziel des Begründers des Systems der Phalansterien, des Charles Fourier, war dasselbe, wie dasjenige St.-Simon's: auf dieser Erde für alle die Glückseligkeit zu gründen, welche das Christentum den Auserwählten für ein anderes Leben verspricht: nur dass Fourier dasjenige, was St.-Simon von einer fast absoluten Autorität erwartet, von der absoluten Freiheit aller erwartet, einer Freiheit, die nach seiner Ansicht die zwanglose Befriedigung aller Neigungen sein soll. Die physische Welt, sagte F., erklärt sich nach Newton durch die gegenseitige Attraktion aller Teile der Materie; die geistige Welt muss durch die Anziehung der Neigung erklärt werden, welche Individuen von übereinstimmender und harmonischer Richtung einander nähert und verknüpft. Alles Elend, alle Vergehen sind das Ergebnis gehemmter Neigungen. Man lasse also allen Neigungen aller freien Lauf, und wie die Moleküle der physischen Welt sich nach ihren Verwandtschaften von selbst ordnen, so werden sich, nach dem Lieblingsausdruck Fourier's, alle Individuen, die die Moleküle der socialen Welt vorstellen, in Harmonie kommen, indem sie sich in freie Phalangen ordnen und so friedliche und glückliche Phalansterien bilden.

Eine solche Ansicht setzte mehr oder weniger neue Anschauungen über die Natur der Neigung und Leidenschaft und überhaupt der menschlichen Natur voraus; darin liegt der Anteil des Fourier'schen Systems an der philosophischen Arbeit seiner Zeit. Aber dieser Anteil war gering; das System zeichnete sich vielmehr durch seltsame und schwach begründete Hypothesen über die Zukunft der Welt und der Menschheit als durch richtige und nützliche Beobachtungen aus.

Dies Urteil wird die Zukunft allem Anschein nach auch über die Ideen von Pierre Joseph Proudhon fällen. P. wird sicher immer eine hervorragende Stelle unter den Schriftstellern unserer Zeit einnehmen, aber vielleicht nicht unter den Denkern. Es ist kein Beweis von Verstand – so äusserte ein Mann, der ein besserer Beurteiler in Sachen der Wissenschaft und des Denkens war, als man meist weiss, nämlich Swedenborg – dass man alles aussprechen kann, was man will; sondern die Fähigkeit Wahres und Falsches zu erkennen, ist das Kennzeichen der Intelligenz. Für die Philosophie genügt jedoch die Intelligenz im allgemeinen Sinne nicht einmal. Es ist hier die Art von Intelligenz nötig, welche sich in dem Zusammenhange und der logischen Folge der Gedanken bekundet; und diese bemerkt man bei Proudhon nicht. Auch kann man nicht sagen, dass er irgendwo etwas dargelegt oder auch nur angedeutet hätte, was man eine Philosophie nennen kann, obwohl er oft in seinen Schriften philosophische Gegenstände berührt. Ueberhaupt wenn die Kühnheit der Paradoxien, durch die er sich zunächst bekannt machte, verbunden mit seinem litterarischen Talente ihm einen grossen Ruf verschaffte, so verdankt ihm doch die Wissenschaft wenig, und man darf bezweifeln, ob er ernstlich daran dachte, ihr zu dienen.


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