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XXVII.
Theorien der Instinkte.

Den Instinkt haben eine Anzahl beachtenswerter Arbeiten zum Gegenstande. Flourens in mehreren Artikeln des Journal des Savants und in seiner Abhandlung »über Instinkt und Intelligenz bei Tieren«; de Quatrefages in einem seiner Artikel über die Einheit des Menschengeschlechts (Rev. des D. M. 1861); Maury in seiner »Abhandlung über Schlaf und Traum«; Vulpian in der letzten seiner »Vorlesungen über Physiologie«; Michelet in »Der Vogel und das Insekt«; Durand in seiner »Elektrodynamik des Lebens« und seinen »Essais einer philosophischen Physiologie« haben die Unterschiede und Aehnlichkeiten zwischen Instinkt und Intelligenz mit einer bis dahin nicht gekannten Genauigkeit zu bestimmen gesucht.

Das allgemeinste und bemerkenswerteste Resultat dieser Untersuchungen ist die Feststellung der Thatsache, dass, wie der Mensch Instinkte und nicht bloss Intelligenz hat, auch die Tiere nicht nur Instinkte besitzen, wie man vor den Beobachtungen von Reaumur, Leroy und Huber sagte; dass man bei ihnen, besonders bei den dem Menschen am nächsten stehenden Arten, aber auch bei vielen anderen unbestreitbare Zeichen von Intelligenz antrifft, allerdings einer Intelligenz, die weit hinter der sogenannten Reflexion zurückbleibt. »Die Tiere, sagt Flourens, besitzen keine Reflexion, diese dem Menschengeiste eigentümliche höchste Gabe, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Es besteht hier eine tiefe Grenzlinie. Dieses Denken, das sich selbst beobachtet, diese Intelligenz, welche sich selbst erkennt und studiert, bilden offenbar ein wohl umgrenztes Gebiet von Erscheinungen von einer besonderen Beschaffenheit, die kein Tier erreichen kann. Der Mensch ist das einzige aller Geschöpfe, dem die Gabe verliehen ist, zu fühlen, dass er fühlt, zu erkennen, dass er erkennt, zu denken, dass er denkt,«

Schon Willis hatte gesagt: »Insuper mens humana actione reflexa se ipsam intuetur, se cogitare cogitat.« Ebenfalls sehr treffend hat sich neuerlich der schottische Metaphysiker Ferrier geäussert: »Das Sein der Tiere ist nicht von der Erkenntnis ihrer selbst begleitet, und sie werden sich nicht klar über die Vernunft, die in ihnen wirkt; dem Menschen ist es vorbehalten, dieses doppelte Leben zu leben: zu existieren und von seiner Existenz zu wissen, vernünftig' zu sein und zu wissen, dass er es ist,« Früher hatte Leibniz erklärt, indem er die Thatsache selbst und ihre Ursache noch genauer bezeichnete, dass wir im Unterschiede von den Tieren über uns selbst nachdenken können, weil wir die Begriffe des Seins, der Einheitlichkeit, der Identität und der notwendigen Wahrheit haben. Das soll heissen, dass die Bedingung der Reflexion jene Fähigkeit der Abstraktion und Vergleichung, allgemeiner der Trennung und Verknüpfung auf Grund der notwendigen Begriffe ist, welche Vernunft heisst,

Nach so vielen gelehrten und scharfsinnigen Untersuchungen, welche zahlreiche wenig bekannte Züge der Aehnlichkeit zwischen Menschen und Tieren bekannt gemacht haben, und auf Grund deren die Mehrzahl der Physiologen beide so weit genähert haben, dass sie nur eine Art aus ihnen machten, bleibt doch die Vernunft als ein wesentliches und unaufhebbares Unterscheidungszeichen des Menschen und des Tieres bestehen.

Uebrigens sind unter den wissenschaftlichen Errungenschaften unserer Zeit auch die Bemerkungen zu beachten, welche sich in den Werken verschiedener Beobachter finden, und nach denen nicht allein mehr oder weniger willkürliche Handlungen, wie schon oben angeführt wurde, sich durch häufige Wiederholung in instinktartige Gewohnheiten verwandeln, sondern diese Gewohnheiten selbst durch Vererbung in den folgenden Generationen wirkliche Instinkte werden. Lucas in seiner »Philosophischen und physiologischen Theorie der Erblichkeit« (Traité philosophique et physiologique de l'hérédité naturelle); Roulin in seinen »Untersuchungen über einige an zahmen Säugetieren nach der Versetzung aus der alten in die neue Welt beobachteten Veränderungen; de Quatrefages in seiner Schrift über »Die Einheit des Menschengeschlechts« haben zahlreiche Beispiele dieser Art gesammelt. Es sind das wichtige Beweisstücke für die Erklärung der Entstehung der Instinkte durch eine allmähliche Umformung geistiger und willkürlicher Akte; eine Lehre, die schon längst ohne genügende erfahrungsmässige Begründung von Lamarck aufgestellt und kürzlich durch Spencer und mit Aufgebot der Schätze eines reichen Wissens durch Ch. Darwin erneuert worden ist.

Durand hat in seinem »Versuche einer philosophischen Physiologie« (Essai de Physiologie philosophique, 1866) die Lehre, welche die Instinkte durch Vererbung von Gewohnheiten erklärt, verteidigt und durch zahlreiche Beweise gestützt; er zeigt, dass die Instinkthandlungen, welche ausgeführt werden, ohne dass das Wesen, dem sie angehören, ein Bewusstsein davon hat, und die Maury deshalb unbewusste nennt, trotzdem auf Intelligenz beruhen; er zeigt weiter, dass man mit diesen Handlungen die vom Rückenmark abhängigen und selbst diejenigen vergleichen kann, welche, wie die bei der Ernährung vorkommenden, von einfachen Ganglien ausgehen; er hat so dazu beigetragen die landläufige willkürliche Unterscheidung von Instinkt und Intelligenz zu modificieren und zwar mehr zu Gunsten des höheren als des niederen Princips.

»Wenn nun, so bemerkt Durand hierzu, gewisse Empfindungen und Entschliessungen ausserhalb des Bewusstseins bleiben, welches das lebende Wesen von Allem hat, das im eigentlichen Sinne von ihm ausgeht; wenn es aber andrerseits unmöglich ist, dass sie ausserhalb jedes Bewusstseins liegen, wenn es unmöglich ist, dass eine Empfindung absolut unbewusst ist, wo ist denn das Bewusstsein von denselben? Nirgends als in den besonderen Centren, von denen die instinktiven oder Reflex-Erscheinungen ausgehen; und in jedem dieser Centren muss man notwendig eine besondere Seele annehmen, in der Wirbelsäule allein eine Menge von »Wirbelseelen« (âmes spinales)«, in aller Strenge und ausnahmslos muss man nach Durand das annehmen, was Lacaze-Duthiers von den wirbellosen Tieren gesagt hat: dass jedes Wesen eine ganze Gruppe von Wesen ist. »Ein belebtes Wesen, so sagte auch Goethe, ist niemals eines, sondern es sind mehrere.« Und, wie Buchez in einer Kritik des ersten Werkes von Durand äusserte, sollte man eigentlich nach der Lehre des letzteren den Menschen nicht als eine von Organen bediente Intelligenz, sondern als eine durch niedere Intelligenzen bediente definieren.

Wie uns scheint, kann man dem Durand die Unmöglichkeit entgegenhalten, sich bei dieser Annahme ein lebendes Wesen als ein Ganzes vorzustellen, was es doch thatsächlich ist. Wenn die Physiologie nach ihren neuesten Fortschritten dazu gekommen ist, einen Organismus als eine Gesellschaft oder einen Verband einfacherer Organismen anzusehen, so muss man sich doch fragen, wie eine solche Vielheit zugleich Einheit ist. Es lässt sich in dieser Hinsicht nicht leugnen, dass man in gewissem Grade berechtigt, und dass es oft sehr nützlich ist, ein Wesen als eine Gesellschaft von Wesen zu betrachten, oder, wenn man will, als eine Mehrheit von Seelen; aber zuletzt muss man doch auf einen höheren Gesichtspunkt kommen, von dem aus eine solche Vielheit und Verschiedenartigkeit auf verschiedene Zustände desselben Princips reduziert erscheint. »Alles ist Eins, obgleich Jedes für sich ist.«


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