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XXX.
Vergleiche zwischen Wahnsinn und Genie.

Eine Nebenfrage, die auch beachtenswerte Arbeiten veranlasst hat, beschäftigt sich damit, in welcher Beziehung die hohen Aeusserungen der Intelligenz mit Vernunft und Wahnsinn stehen.

Ein Mann von Geist und Gelehrsamkeit, Lélut, machte sich zuerst durch ein Buch über den »Dämon des Sokrates« bekannt, in welchem er durch das Beispiel des Sokrates, des Pascal und anderer zu beweisen gedachte, dass das Genie immer mit einer Unregelmässigkeit im Geiste verbunden ist. Moreau ging noch weiter: er wollte in seiner »Psychologie morbide« nachweisen, dass die grossen Ideen aus derselben Quelle wie der Irrsinn und der Instinkt entsprängen, dass die Genialität eine Neurose wäre.

Lemoine in »Geist und Körper«, Janet in »Gehirn und Denken« haben erklärt, was an den von Lélut und Moreau angeführten Thatsachen Wahres ist, welche Irrtümer sich hineingemischt haben, und worauf das Paradoxon von Moreau zurückzuführen ist.

Was nach diesen Analysen und Kritiken zurückbleibt, ist die Thatsache, dass geistige Fähigkeiten hohen Grades mit Affektionen des Nervensystems und selbst mit willkürlichen geistigen Störungen nicht unverträglich sind. Dass aber Genie sich öfter als Mittelmässigkeit mit solchen Störungen verbunden fände, dass es aus derselben Quelle wie die geistige Störung entspränge und nur eine Form derselben sei, das sind ganz andere Behauptungen, welche Lemoine und Janet in einer Weise widerlegt haben, die den Widerspruch ausschliesst. Janet sagt zusammenfassend: »Was das Genie ausmacht, ist nicht der Enthusiasmus, denn derselbe kann in den mittelmässigsten und leersten Geistern stattfinden, es ist die überlegene Vernunft. Ein Genie ist der, welcher klarer sieht, als die Anderen, der ein grösseres Gebiet des Wahren auffasst und eine grössere Menge einzelner Thatsachen unter einer allgemeinen Idee zusammenfassen kann; der alle Teile eines Ganzen unter ein allgemeines Gesetz bringt und selbst in seiner schöpferischen Thätigkeit, wie in der Poesie, nur mittelst der Phantasie die von seinem Verstände durchdrungene Idee gestaltet.«

Indess wäre die Definition von Janet vielleicht annehmbar, wenn man das Wort Vernunft in seinem weitesten, wenn auch nicht seinem gewöhnlichsten Sinne versteht. Wir besitzen nach Cicero, der hierin das Echo der griechischen Philosophie ist, zwei Hauptfähigkeiten: die Fähigkeit zu urteilen und die zu erfinden, und in der Erfindung zeigt sich hauptsächlich die Stärke und Grösse des Geistes, welche man Genie nennt. Poesie ist aber wesentlich eine schöpferische Thätigkeit: Dichter heisst Schöpfer. Nun ist die Poesie nach einem bekannten Kritiker die Sprache des erregten Gefühls. Man erfindet in der That nicht ohne die Phantasie, und die Phantasie wird nicht fruchtbar ohne eine Erregung des Gefühls.

Wenn es also kein wahres Genie gibt ohne Vernunft, d. h. ohne Urteil, so verlangt das Genie doch noch mehr, da die Erfindung, das Schaffen mehr erfordert, als die Fähigkeit zu urteilen, mehr also als blosse Vernunft. Wenn die Vernunft der eigentliche Charakter des Menschen ist, so enthält also das Genie noch etwas, was über das Menschliche hinausgeht, etwas, das man immer als göttlich bezeichnet hat. Nicht ohne Sinn hat Plato gesagt, dass der Dichter geheiligt ist, und dass er, um schöpferisch zu sein, gewissermassen ausser sich selbst in einer Art Raserei sich befinden muss. Die Inspiration, der Enthusiasmus gehören wesentlich zur schöpferischen Thätigkeit, zur Poesie, zum wahren Genie, und der Enthusiasmus hat gemeinsame Züge mit dem Wahnsinn. Soll das heissen, dass die Theorie von Moreau wahr ist, und dass Genie und Wahnsinn dasselbe sind? Doch nur, dass wir, ebenso wie wir ausser uns selbst sein können, indem wir durch Krankheit oder rohe Leidenschaft unter uns herabsinken, so auch durch den höheren Aufschwung unseres Geistes über uns selbst hinausgetragen werden können. Was in uns ist und höher ist als wir selbst, das ist nach Plato jene nach oben strebende Liebe, während die gemeine Liebe nach unten strebt. Die Liebe, welche gewissermassen einen Gott im Menschen darstellt, die Liebe, welche das Denken emporträgt, die macht vielleicht das, was man Genie nennt oder Genie nennen sollte.


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