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VII.
Comte und der Positivismus.

Die durch August Comte unter dem Namen »Positive Philosophie« oder Positivismus gegründete Lehre hatte einen doppelten Ursprung, einerseits in den St.-Simonistischen Theorien, andererseits in denen der Phrenologen und speciell des Broussais. Comte hat sich immer mit St.-Simon als Hauptziel die Entdeckung der besten socialen Ordnung und die Begründung der von ihm sogenannten Sociologie gesetzt. Zu gleicher Zeit wollte er als Grundlage seines sociologischen Systems ein allgemeines wissenschaftliches System geben, welches in seinen Principien wenig von dem des Broussais abweicht; dabei ist indess zu bemerken, dass der letztere, in diesem Punkte wenig consequent, sich niemals weigerte, eine erste Ursache der Natur anzunehmen, während für den Autor des Positivismus die erste und Hauptaufgabe die gänzliche Beseitigung des Begriffes einer ersten Ursache war.

Comte begann als junger Mann damit, sich dem Projekt von St.-Simon anzuschliessen, um auf den Trümmern der mittelalterlichen Gesellschaft eine neue zu gründen, deren Grundlage die Industrie und deren einziges Ziel das Glück auf der Erde sein sollte. Er arbeitete mit ihm im Jahre 1825 an der Veröffentlichung des »Katechismus der Industriellen«. Nachher wich der Schüler vom Meister in dem Punkte ab, dass er, statt mit diesem der Klasse der materiellen Produzenten den Vorrang zu geben, die erste Stelle für die Wissenschaft beanspruchte. St.-Simon erteilte in seinem System dem Gefühl, auf welches er die Religion bezog, eine grosse Bedeutung; auch in diesem Punkte folgte ihm Comte nicht. Sein Meister lobte übrigens zwar die Arbeit, welche er in dem Katechismus der Industriellen unter dem Titel »System der positiven Politik« veröffentlicht hatte, fand jedoch zu bemerken, dass der Verfasser sich ausschliesslich auf den Standpunkt der physischen und mathematischen Wissenschaften gestellt hätte; er warf ihm nicht allein vor, der industriellen Thätigkeit nicht die ganze Wichtigkeit beigemessen zu haben, welche er ihr selbst zuschrieb, sondern auch, dass er in dem Gebiete der Wissenschaft die durch Aristoteles repräsentierte Richtung zu Ungunsten der Platonischen anpreise; zum Schluss sagte er: »unser Schüler hat nur den wissenschaftlichen Teil unseres Systems behandelt, aber er hat nicht den Teil über Gefühl und Religion dargestellt. Mit anderen Worten, die Ideen Comte's scheinen ihm ein ausschliesslich aus logischen und mathematischen Gesichtspunkten geschöpftes System der Erklärung zu bilden, aus dem das Gemüt gänzlich ausgeschlossen ist und das in einen »trockenen Atheismus« ausliefe. Dies war in der That der Charakter, den die Philosophie Comte's anfangs zeigte.

St.-Simon hatte eine grosse Abneigung gegen die Metaphysik. Statt dieser leeren Spekulationen seien, wie er oft wiederholte, positive Kenntnisse nötig. Dies war der Ausgangspunkt für Comte. Für ihn, wie für seinen Meister, ist das Positive oder Wirkliche der einzige Gegenstand der Wissenschaft. Unter dem Positiven versteht er die Thatsachen der Erfahrung; und diese Thatsachen selbst sind nach ihm ganz relativ. Die Metaphysik will an sich selbst existierende aus allen Beziehungen losgelöste Dinge erkennen, mit anderen Worten ein Absolutes; folglich ist sie eine illusorische Wissenschaft; »es giebt nur einen absoluten Satz, nämlich dass es nichts Absolutes giebt.«

Der Grundsatz, dass es nur Relatives giebt oder wenigstens, dass man nur dieses erkennen kann, ist kein Eigentum Comte's. Ohne von den Sophisten zu sprechen, deren ganze Philosophie jener Satz ausdrückte, ist er auch der Kern in der Philosophie Hume's; er ist ferner von Hamilton, dem bedeutenden Nachfolger von Brown auf dem Lehrstuhle von Reid Stewart, sowie seinem Schüler Mansel angenommen worden; er ist noch in der Gegenwart das erste Princip in den Systemen mehrerer Philosophen und Gelehrten Englands, bei Spencer, Bain, Bailey, Stuart Mill, Lewes.

Das Princip hat übrigens, wie S. Mill bemerkt hat, bei seinen Anhängern mehr als eine Bedeutung; bei den meisten bedeutet es, entweder, dass wir kein Objekt zu erkennen vermögen, ohne es uns selbst oder einem anderen Objekte gegen über zu stellen; oder dass alles, was von uns erkannt wird, sich nach unserer Erkenntnisfähigkeit und unseren Erkenntnismitteln richtet. So verstand insbesondere Hamilton dasselbe im Anschluss an Kant und so verstehen es Mansel, Bain, Bailey, Spencer und Mill. Was Comte betrifft, so beschäftigte ihn die Erkenntnislehre stets wenig, und er dachte vielmehr an die Dinge selbst als an ihre Beziehungen zu unserer Erkenntnisfähigkeit. Ohne dass er den Sinn des Wortes »relatif« scharf zu definieren versucht hatte, so sieht man doch, dass er darunter etwas verstand, was nur unter Voraussetzung einer anderen Sache und mit ihr zusammen existiert. Das Absolute wäre im Gegensatz dazu dasjenige, was sich selbst genügt, und dessen Begriff, wie Spinoza von der Substanz sagte, keinen anderen Begriff nötig hat. Derart wäre eine Ursache, die keine andere Ursache fordert, also eine sogenannte erste Ursache. Nun ist aber streng genommen eine erste Ursache und eine Ursache überhaupt ein und dieselbe Sache; Comte verstand also bei dem Satze, dass wir nur Relatives erkennen können, dies, dass wir keine Ursachen erkennen, sondern nur Thatsachen in Beziehung zu anderen Thatsachen und so fort ohne Ende; Thatsachen bedeuten aber Erscheinungen, so wie sie uns unsere Sinne zeigen. Fügen wir hinzu, dass er als Ursachen nicht nur die Kräfte oder Fähigkeiten verbannte, sofern man sich dieselben in scholastischer Weise als Seelen oder Geister denkt; er erklärte gleicherweise die thätigen Eigenschaften, welche die Physiologen vitale nennen, die Affinitäten der Chemiker, und selbst die imponderabelen Fluida der Physiker, ihren Aether, in die Acht, als lauter leere Hypothesen, Reste der Scholastik, Hilfsmittel, die erfunden seien, um die Thatsachen bequem zu erklären, die aber in Wahrheit nur dazu dienten, die Unwissenheit über die physischen Bedingungen dieser oder jener Thatsache zu verbergen, und die also nur verhinderten, dass man die letzteren suchte und entdeckte. Die positive Wissenschaft beschränkt sich darauf festzustellen, welches die sinnlichen Thatsachen sind, die anderen sinnlichen Thatsachen vorangehen, folgen oder sie begleiten, welche Beziehungen die einen mit den anderen in Raum und Zeit haben.

Um diese Erklärungsweise zu verstehen, muss man sie mit den verschiedenen Arten von Erklärungen vergleichen, deren man sich bedient hat. Es giebt nach Comte zwei, die theologische und die metaphysische. Im Anfang erklärt man sich die Erscheinungen der Natur durch die willkürlichen Handlungen; man betrachtet die erscheinenden Thatsachen als die Wirkungen willkürlicher Entschliessung; man setzt als ihre Ursachen Agentien ähnlich dem Menschen voraus; ja noch mehr scheinen die natürlichen Phänomene von Mächten herzurühren, die der menschlichen Macht überlegen sind, die übrigens ausserhalb des Bereiches direkter Erkenntnis liegen, und welche durch das sie umgebende Dunkel in unsern Augen noch vergrössert werden; nicht menschlichen Wesen schreibt man also diese Kräfte zu, sondern Göttern. Dies ist die roheste Philosophie, welche sich von der Religion nicht unterscheidet; es ist die theologische Philosophie.

Später bemerkt man, dass die Phänomene eine Regelmässigkeit haben, welche der Willkür des Wollens widerspricht; nunmehr denkt man sich jede dieser als Ursachen angenommenen Mächte auf eine bestimmte Klasse von Wirkungen beschränkt: eine bewegende Kraft für die Bewegung, eine vegetative für die Vegetation. Man giebt zu, dass man das Wesen dieser Kräfte an sich selbst nicht kennt, es sind verborgene, wunderbare Eigenschaften, welche nur durch ihre Wirkungen sich definieren lassen, in Wahrheit sind es nur abstrakte und zusammenfassende Bezeichnungen der Erscheinungen, sogar nur Worte, um sie im Gedächtnis zu fixieren. Dies sind die von Comte sogenannten metaphysischen Wesenheiten, deren sich in der That eine grosse Zahl von Metaphysikern bedienen, die man aber, da es nur in Gedanken bestehende Symbole sind, besser logische Wesenheiten nennen könnte; das Fehlerhafte derselben durchschaute und bewies unter den Neueren keiner so gut, als der tiefe Metaphysiker Berkeley, und im Altertum schon stellte ihnen Aristoteles, der Gründer der Metaphysik, das zugleich wahrhaft Metaphysische und Reelle entgegen. – Der Positivismus ist seinem Kern nach enthalten in dem von Comte sogenannten »Gesetz der drei Zustände«, das heisst der drei Epochen des Denkens und der Wissenschaft, einem Gesetz, in dem seine Schüler allgemein die grösste seiner Entdeckungen gesehen haben.

St.-Simon stellt schon den Erfindungen der Theologie und Metaphysik die positiven Kenntnisse entgegen, und er selbst verdankte diese Idee vielleicht Burdin, einem seiner Freunde. In einer Unterredung mit St.-Simon, welche dieser in seinen Abhandlungen über die Wissenschaft des Menschen erwähnt, und die im Jahre 1813 stattfand, sagte Burdin mit Anwendung von Ausdrücken, die seinem Freunde seitdem vertraut wurden, dass alle Wissenschaften damit anfingen, hypothetisch zu sein, und dass sie endlich alle positiv werden müssten. Die Astronomie, so erklärte er, war zuerst Astrologie, die Chemie war Alchimie, die Physiologie beginne kaum, sich auf beobachtete und untersuchte Thatsachen zu stützen, und die Psychologie, sich von den religiösen Vorurteilen, auf die sie gegründet war, loszumachen und die Physiologie zur Grundlage zu nehmen. Er setzte hinzu, was der Grundgedanke Comte's in der vergleichenden Geschichte der Wissenschaften ist, dass gewisse Wissenschaften eher als andere positiv würden, und dass das diejenigen seien, in denen man die Thatsachen in den einfachsten und wenigst zahlreichen Beziehungen betrachte. Die Astronomie wäre in Folge dessen zuerst im positiven Stadium angekommen, die Physik und Chemie nachher, zuletzt die Physiologie; die allgemeine Philosophie würde den Schluss machen.

Wenn man jedoch den ersten Ursprung dieser Ideen verfolgen will, so muss man auf einen der Philosophen zurückgehen, welche Comte, St.-Simon und Burdin als Träumer betrachteten, auf den, welcher in dem berühmten Artikel »Existenz« der Encyklopädie die höhere Philosophie auf cartesianischer Grundlage wieder aufzubauen begann. »Bevor man die Verknüpfung der physischen Wirkungen untereinander kannte, sagt Turgot in seiner Geschichte der Fortschritte des menschlichen Geistes, war nichts natürlicher als anzunehmen, dass sie durch unsichtbare intelligente Wesen hervorgebracht würden, die uns ähnlich seien. Alles was ohne Beteiligung des Menschen eintrat, hatte seinen Gott. Als die Menschen die Absurdität dieser Erfindung eingesehen hatten, ohne jedoch eine wahre Aufklärung über die Natur gefunden zu haben, bildeten sie sich ein, die Ursachen der Erscheinungen durch abstrakte Ausdrücke zu erklären, wie »Wesenheit« und »Fähigkeit«, Ausdrücke, die nichts erklärten, die man jedoch gebrauchte, als ob sie ein Wirkliches bezeichneten, neue Gottheiten an Stelle der alten … Erst sehr spät, auf Grund der Beobachtung der mechanischen Wirkung, welche die Körper auf einander ausüben, schöpfte man hieraus andere Annahmen, welche die Mathematik entwickeln und die Erfahrung bestätigen konnte.«

Das Denken geht also nach Comte durch diese drei Stadien; im ersten werden die Dinge durch übernatürliche Willensthätigkeiten erklärt, die denen des Menschen ähnlich und im allgemeinen auf den Menschen gerichtet sind; im zweiten erklärt man sie durch mangelhaft bestimmte Wesenheiten, die die abgeschwächten Bilder der übernatürlichen Ursachen des ersten Stadiums sind; im dritten beschäftigt man sich nur damit zu bestimmen, wie die Thatsachen einander folgen oder begleiten. Die erste dieser Epochen ist die religiöse, die zweite die metaphysische, die dritte ist die wissenschaftliche. In dieser letzteren Periode zieht man zur Erklärung der Erscheinungen nicht mehr die unbekannten Ursachen herbei, die man sich als Wesen für sich ohne Mass und Regel wirkend dachte, eine Vorstellung, die den Gedanken an Naturgesetze und die Wissenschaft ausschliesst, sondern man beschränkt sich auf die Erforschung der beobachtbaren physischen Umstände, unter denen die Phänomene auftreten und mit denen sie in Beziehung stehen. – Die Wissenschaft hat ja nach Comte die Aufgabe, uns zu Herren der Natur oder wenigstens unabhängig von ihr zu machen; sie muss uns in den Stand setzen, die von uns abhängigen Dinge nach Belieben zu modificieren, und die nicht von uns abhängigen muss sie uns zum mindesten vorauszubestimmen lehren, damit wir unser Verhalten danach einrichten. Für diesen doppelten Zweck aber genügt es, das zu erkennen, was wir überhaupt allein erkennen können, nämlich unter welchen Umständen die Erscheinung eintritt. Die Thatsache, dass unter diesen gegebenen Verhältnissen diese Erscheinung eintritt, nennt man in bildlichem Ausdruck ein Naturgesetz; Stuart Mill nennt dasselbe lieber, um jeden Gedanken einer notwendigen Abhängigkeit fern zu halten und besser bei den blossen Thatsachen zu bleiben, eine natürliche Gleichförmigkeit. Die Zusammenstellung der Naturgesetze für jede Klasse von Objekten macht eine einzelne Wissenschaft aus; ausserdem kann man zwischen den allgemeinsten Gesetzen, in welchen jede Wissenschaft gipfelt, Beziehungen bemerken, welche noch allgemeinere Gesetze ausmachen; und das ist nach Comte die Sache der Philosophie. Da es nach seiner Ansicht ausser den Erscheinungen keine Wirklichkeit giebt, da jedes Sein, was man sich hinter denselben denkt, heisse es nun Materie oder Geist, eine blosse Einbildung ist, da die Worte Seele oder Gott insbesondere sinnlose Ausdrücke sind, so giebt es keine Philosophie, die wie die anderen Wissenschaften besondere Objekte hätte; die Philosophie kann nur die Sammlung der allgemeinsten Wahrheiten sein, welche sich aus den Specialwissenschaften ergeben.

Das höchste Ziel des Positivismus ist also, die allgemeinsten Beziehungen der Gegenstände der verschiedenen Wissenschaften zu bestimmen. Nun bemerkt C, indem er hierbei ausschliesslich den mathematischen Gesichtspunkt anwendet, dass die Verschiedenheiten der Beziehungen sich in letzter Linie auf solche der relativen Einfachheit oder der Verwickelung reduzieren; mit der Einfachheit aber ist die Allgemeinheit verbunden. Die allgemeinsten Eigenschaften, welche der grössten Zahl von Objekten zukommen, sind naturgemäss die einfachsten; die Allgemeinheit nimmt also im umgekehrten Verhältnis der Zusammengesetztheit ab. Dies Gesetz, welches C. zuerst bewiesen zu haben glaubte, ist dasselbe wie dasjenige, dass sich eine Eigenschaft auf um so mehr Arten erstreckt, je weniger Elemente sie enthält; ein Gesetz, das die Grundlage der Logik bildet, und hier das Gesetz des umgekehrten Verhältnisses zwischen Umfang und Inhalt der Begriffe genannt wird. Aristoteles hatte dasselbe zuerst im Grossen auf die Natur angewandt, indem er zeigte, dass jede Ordnung des Wirklichen alle niederen und einfacheren Ordnungen einschliesst. Aber für jede Stufe nahm Aristoteles ausserdem, um die Gruppierung der untergeordneten Elemente zu einer neuen mehr zusammengesetzten Form zu erklären, eine besondere thätige Ursache an, oder besser gesagt, eine besondere Aeusserungsweise der allgemeinen Ursache. C. sah, wenigstens in dem ersten Abschnitte seiner Entwickelung zwischen dem Niederen und dem Höheren keinen anderen Unterschied, als den in der Zahl der Elemente, welche sie enthalten. Er liess keine anderen Principien zu, als diese einfachen Elemente, welche die Mathematiker betrachten, alles Uebrige bestand für ihn nur in Gruppierungen dieser Elemente und in Gruppierungen dieser Gruppierungen selbst; daraus folgte, dass jede Art sich ausschliesslich durch die einfacheren Verhältnisse, welche sie einschloss, erklären sollte. Alles, was die Eigentümlichkeiten des Lebens hat, hat physische und chemische Eigenschaften, aber das Umgekehrte gilt nicht; alles, was physische und chemische Eigenschaften hat, hat die mathematischen Eigenschaften der Figur und Ausdehnung, aber die Umkehrung ist nicht wahr. Die Mathematik erklärt in Folge dessen die Physik; die Physik erklärt die Chemie, die Chemie erklärt das Leben. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht darin, alles Complexe durch eine stufenweise Analyse auf die einfachsten und allgemeinsten Elemente zurückzuführen.

Wenn man die verschiedenen Wissenschaften überblickt, so bemerkt man nach Comte, dass sie naturgemäss sich so ordnen, dass die Zusammensetzung zunimmt und im selben Verhältnis der Umfang, die Allgemeinheit abnimmt. Auf der ersten Stufe steht die Mathematik, auf der letzten und höchsten die Sociologie, die Wissenschaft der menschlichen Gesellschaft. Zahl, Ausdehnung, Figur sind in der That das Einfachste, was die Natur enthält; daher die Schärfe, Genauigkeit und relative Leichtigkeit der Mathematik. Die Beziehungen der Menschen unter einander sind dagegen die verwickeltsten von allen, da alles in der Natur Enthaltene hier mitspielt; daher die Schwierigkeit, die Gesetze derselben zu entdecken. Schon in der Astronomie trifft man auf Erscheinungen, deren Elemente zu verschieden sind, als dass es leicht sein könnte, die Verhältnisse derselben genau zu beurteilen, zu definieren und also zu berechnen. Um wie viel schwerer ist dies nicht in der Chemie, in der Biologie, in der Sociologie, deren Elemente noch zahlreicher und veränderlicher sind! Trotzdem ist es nach Comte sicher, dass, wie jeder geometrische Satz in einen algebraischen übersetzt werden kann, so auch jede beliebige Wahrheit sich in Geometrie, Algebra und Arithmetik muss auflösen, und jede Qualität sich ganz auf Quantität muss reduzieren lassen. Wie weit auch die Wissenschaft von einer vollendeten Analyse noch entfernt ist und es vielleicht immer bleiben wird, so müssen doch die Erscheinungen als Transformationen ursprünglicher mathematischer Elemente betrachtet werden. Die Erscheinungen, welche uns die lebenden Körper bieten, so sagte Comte zusammenfassend, sind von keiner anderen Art als die einfachsten Phänomene der leblosen Objekte. Deshalb ist die mathematische Wissenschaft universell und bildet die Grundlage der ganzen Naturwissenschaft,

Besser gesagt, die Philosophie ist nichts Anderes als Mathematik.

Im genauen Verhältnis ihrer Einfachheit gehen übrigens die verschiedenen Wissenschaften aus ihrem Urzustande in den Endzustand über, von der theologischen Stufe auf die positive. Die Mathematik ist seit undenkbarer Zeit eine fast ganz positive Wissenschaft; Lagrange hat aus ihr die letzten Reste des metaphysischen Geistes entfernt. In der Physik und Chemie spielen gewöhnlich die metaphysischen Hypothesen noch eine Rolle unter der Bezeichnung specieller Kräfte, und besonders ist dies in der Physiologie der Fall, wo die Wissenschaft vom Menschen nicht allein mit metaphysischen, sondern sogar mit religiösen Hypothesen versetzt ist. Es wird der letzte Triumph der Wissenschaft sein, die Sociologie in die positive Verfassung zu bringen, alles in ihr auf Beziehungen von Phänomenen und die Phänomene selbst auf die einfachsten zurückzuführen.

Diese Lehre ist in dem umfangreichen »Cours de philosophie positive« auseinandergesetzt, welcher von 1830 bis 1842 veröffentlicht wurde, und fand in Frankreich Anhänger, von denen die bedeutendsten Aerzte und Physiologen waren. Obwohl ihr Urheber erklärt hatte, dass die Materie nicht Gegenstand der Erfahrung wäre, dass also der Positivismus sich nicht mit ihr zu befassen hätte, und obgleich er die Materialisten als unwissenschaftliche Geister bezeichnet hatte, so fassten ihn doch die meisten als ein System des Materialismus auf. Vielleicht besteht in der That der sogenannte Materialismus nicht sowohl in der Erklärung der Dinge durch die Materie, wobei unter Materie ein undefinierbarer Träger der sinnlichen Erscheinungen verstanden ist, eine Theorie, die den Glauben an eine wirkliche aber den Sinnen nicht wahrnehmbare Existenz einschliessen würde, und also eine Art Metaphysik wäre, sondern vielmehr in der Zurückführung aller Dinge auf sinnliche Erscheinungen und dieser selbst auf einfache mechanische Elemente.

Der gelehrte Uebersetzer des Hippokrates, Littré, der mehr als einer dazu beitrug, den Positivismus bekannt und einflussreich zu machen, erklärt sich ausdrücklich völlig gleichgültig gegen Materialismus und Spiritualismus; doch lässt sich nicht leugnen, dass er sich in der mit Robin veranstalteten Ausgabe des medicinischen Wörterbuches von Nysten über Seele, Leben, Organisation und Materie in Ausdrücken auslässt, die sich in Nichts von denen der Materialisten unterscheiden. Nach seiner Ansicht wäre aber die Behauptung, dass die Nervensubstanz denkt, nur dann materialistisch, wenn man meinte, dass sie in Folge einer besonderen Anordnung der Moleküle denkt, mit anderen Worten, wenn man sagen wollte, dass sie nicht vermöge einer besonderen Eigentümlichkeit bestimmter Substanzen, sondern vermöge rein mechanischer Bestimmungen der allgemeinen Materie denkt. Darauf wollte aber Comte hinaus, welcher, wie wir sahen, die angeblich vitalen Eigenschaften, die Littré festhält, zu den verborgenen Eigenschaften der Scholastik rechnete, und der das Lebendige als auf das Physische und das Physische als auf das Geometrische zurückführbar betrachtete; das ist aber der consequenteste und vollständigste Materialismus. Aber es heisst immer noch Materialist sein, ohne dass man sich vielleicht hinlänglich klare Rechenschaft darüber giebt, wenn man das Denken durch eine Eigenschaft der Materie erklärt, und es in irgend einer Form zu einer Funktion des Körpers macht. Uebrigens hat Littré eine Vorrede zu dem Buche geschrieben, welches Leblais 1865 unter dem Titel: »Materialismus und Spiritualismus, Studie aus der positiven Philosophie« veröffentlichte; der Autor des Buches sagt: »Wir erklären uns offen zum Materialismus«; und der Verfasser der Vorrede bemerkt, dass er in wenigen Zeilen verteidigen will, was das Buch verteidigt, und bekämpfen, was das Buch bekämpft.


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