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VIII.
Der Positivismus in England.

Der Positivismus fand in England noch mehr Beifall als in Frankreich; er wurde hier hauptsächlich durch Lewes eingeführt. S. Mill nahm die Principien desselben an, und man findet sie wieder bei Bain, Bailey und Spencer. In einem Briefe an Mill vom März 1842 drückte Comte die Hoffnung aus, dass seine Philosophie in England besser aufgenommen werden würde, als dies bis dahin in Frankreich geschehen sei; er fände, sagte er, bei den englischen Denkern mehr positive Bestrebungen als bei seinen Landsleuten. Und in der That haben neuere Philosophen in Gross-Britannien Ideen ausgesprochen, die den Hauptgedanken des Positivismus sehr verwandt sind. Ohne auf Baco und Locke zurückzugehen, ist Bentham demselben sehr nahe; und Macaulay hat gesagt, der Ruhm der modernen Philosophie bestehe darin, dass sie auf das Nützliche schaue und blosse Begriffe vermeide. – Die englischen Philosophen, sagt Bailey, indem er sie mit den deutschen vergleicht, sind im allgemeinen geneigt, ihre Forschungen den bei physikalischen Untersuchungen angewandten Methoden anzupassen; wenn sie noch nicht zu grossen Resultaten gekommen sind, so erklärt sich dies teils durch die traditionellen Vorurteile, mit denen sie an den Gegenstand gingen, teils dadurch, dass sie vielleicht nicht klar genug erkannten, wie man den durch die Naturwissenschaft angegebenen Weg der induktiven Forschung verfolgen muss; sie haben wenigstens allgemein die Notwendigkeit eingesehen, verständlich für den praktischen Geist ihres Publikums zu sprechen; daher findet sich viel gesunde Vernunft und klares Denken und verhältnismässig wenig Mysticismus. Der Mysticismus, sagt Stuart Mill an einer Stelle seines Systems der Logik, sei es der der Vedas oder der Platoniker oder der Hegelianer, besteht darin, objektive Existenz den subjektiven Schöpfungen des Geistes, den blossen Begriffen unseres Verstandes beizulegen.

Man sieht, dass Bailey und Mill als eine gesunde Philosophie nur die der »Söhne der Erde«, wie Plato sagt, anerkennen, »die nur das für wirklich halten wollen, was sie mit ihren Augen sehen und mit ihren Händen fühlen«. Ausser der Philosophie der Sinne scheinen sie keine andere zu kennen, als die, welche »subjektive Gebilde des Geistes« für Wirklichkeit ansieht, und nichts von der zu wissen, welche der »positive« Aristoteles gründete, Descartes und Leibniz entwickelten, und die als Princip nicht die Gebilde des Geistes, sondern den Geist selbst nimmt, den Gegenstand der unmittelbarsten und positivsten Erfahrung.

Bain, Bailey, Mill und Spencer haben eine positivistische Logik und Psychologie zu gründen versucht. Eine positivistische Psychologie gründen heisst für diese Philosophen, auf die Erforschung der vermeintlichen Fähigkeiten und Kräfte, aus denen die Gefühle und Gedanken hervorgehen sollen, verzichten und sich auf die Gefühle und Gedanken selbst beschränken; es heisst mit Hume sich, so wie es die Physiker in Bezug auf die äusseren Erscheinungen thun, auf die Bestimmung der Reihenfolge und der Begleitung der inneren Erscheinungen beschränken, also auf das, was Hume die Gesetze der Association der Ideen nannte. In einer solchen Psychologie lässt man nicht nur die metaphysischen Wesenheiten ausser Betracht, die Berkeley vor Hume so entschieden bekämpft hatte, man umgeht auch mit Hume die Grundlage und das Princip der psychischen Phänomene, das denkende Subjekt, die Seele.

Eine positivistische Logik zu begründen, war das Hauptbestreben von Mill; das Wesen dieser Logik, so wie er sie sich dachte und in seinem grossen Werk entwickelte, kann in dem schon dem Locke und Hobbes vertrauten Gedanken zusammengefasst werden, dass die Begriffe nicht aus einander abgeleitet werden, wie die Logik gewöhnlich lehrt, so dass aus einer Erkenntnis man ohne Hilfe der Erfahrung eine andere gewinnen könnte; sondern dass sie, da es zwischen ihnen nur Beziehungen der Begleitung, nicht der Abhängigkeit giebt, nur mit einander verknüpft werden können durch die Erfahrung oder die Erweiterung derselben in dem Schlusse von Aehnlichem auf Aehnliches, welche Induktion heisst. Daraus ergeben sich neue, oder vielmehr seit Locke und Hobbes erneuerte Theorien in allen Teilen der Logik. Die Definition z. B. besteht nach Mill nicht darin, dass ein Gegenstand durch wesentliche Eigenschaften bestimmt wird, aus denen alle anderen entspringen, sondern nur in der Aussage, dass diese und jene Eigenschaften sich tatsächlich mit einander vorfinden; sie ist eine blosse Beschreibung.

Die Schlussfolgerung besteht nicht darin, dass Eins aus dem Anderen entwickelt wird, sondern sie bringt einfach in Erinnerung, wie bei dem Einen das Andere angetroffen wurde, sie wiederholt das Resultat der Beobachtung und Induktion. Die Induktion selbst, in welche sich alles Schliessen auflöst, besteht nur darin, dass zu den Reihen von Thatsachen, welche die Erfahrung darbietet, andere Reihen mechanisch hinzugesetzt werden. Auf den Einwand, dass, wenn man von Aehnlichem auf Aehnliches schliesst, dies nur auf Grund eines Princips geschehen kann, welches dazu berechtigt, entgegnet Mill: keineswegs, denn dieses angebliche Princip kommt erst nach der That zum Vorschein; die Induktion ist ein instinktives Verfahren, durch welches wir von einer Thatsache zu einer anderen übergehen, ohne dass ein Grund dazu nötig wäre.

Man kann den Positivismus fragen, wie es zugeht, dass man aus den mathematischen Begriffen, obwohl sie aus der Erfahrung stammen, eine Menge von Folgerungen ziehen kann, welche die Erfahrung jedesmal nachträglich bestätigt; ebenso wird man ihn fragen, wie es möglich ist, dass die Induktion als ein grundloser Mechanismus doch so oft von den Thatsachen bestätigt wird. Ist übrigens die Bemerkung, dass wir uns niemals eines Grundes bewusst sind, ein hinlänglicher Beweis dafür, dass wir ohne eine rationelle Begründung Induktionen bilden? Hat nicht der Verfasser der »Neuen Versuche über den menschlichen Verstand« mit vollem Rechte auf eine ähnliche Behauptung Locke's erwidert, dass wir sehr oft nach Grundsätzen schliessen, deren wir uns nicht bewusst sind, oder von denen wir wenigstens nur ein dunkles und verworrenes Bewusstsein haben? Wir wissen Vieles, sagte er mit Plato, an was wir nicht denken. »Es giebt in uns, so fügt er überlegen hinzu, instinktive Wahrheiten, die man fühlt und denen man beistimmt, selbst wenn man keinen Beweis für sie hat, deren Beweis man jedoch erhält, wenn man sich Rechenschaft von jenem Instinkt giebt; so bedient man sich der Gesetze des Schliessens nach einer unklaren Erkenntnis und wie durch Instinkt, aber die Logiker decken den Grund derselben auf, ähnlich wie die Mathematiker Rechenschaft über das geben, was man, ohne daran zu denken, beim Gehen und Springen thut«. – »Es ist wahr, dass wir uns der besonderen Wahrheiten früher bewusst werden, da wir mit den am meisten zusammengesetzten und gröbsten Vorstellungen anfangen; aber das hindert nicht, dass die Ordnung der Sache mit dem Einfachsten beginnt, und dass der Grund der besonderen Wahrheiten in den allgemeineren liegt, von denen sie Beispiele sind. Und wenn man das betrachten will, was in uns virtuell und vor allem Selbstbewusstsein liegt, so hat man Recht, mit dem Einfachsten zu beginnen. Denn die allgemeinen Principien fliessen in unser Denken ein, in dem sie die Seele und das Verknüpfende sind; sie sind zum Denken notwendig wie die Muskeln und Knochen zum Gehen, obwohl man nicht an sie denkt. Der Geist stützt sich in jedem Augenblicke auf diese Principien, aber er kommt nicht so leicht dazu, sie herauszuschälen und sie sich abgesondert vorzustellen, weil dies eine grosse Aufmerksamkeit auf seine Thätigkeit erfordert, die die meisten Leute, welche wenig an Nachdenken gewöhnt sind, nicht besitzen. Haben die Chinesen nicht wie wir artikulierte Laute? Und doch haben sie sich, nachdem sie sich einmal an ein anderes Verfahren gewöhnt haben, nicht einfallen lassen, ein Alphabet aufzustellen. So besitzt man Vieles, ohne es zu wissen.« Und wenn man Leibniz endlich fragte, was denn diese angeborenen Principien seien, durch die wir, ohne daran zu denken, unsere Gedanken und Handlungen bestimmen, so antwortete er, es wären ursprüngliche Wahrheiten, die das Wesen der Vernunft darstellten.

Nach der Ansicht Mill's, die übrigens nur die kühn gezogene Folgerung des Positivismus ist, giebt es keine eigentliche Begründung, da die Erfahrung uns nur verbundene Thatsachen zeigt, und wir alles nur durch die Erfahrung erkennen, folglich auch keine Notwendigkeit, welcher Art sie sei, weder absolute noch relative, weder logische noch moralische. Es hätte sein können, dass die Wissenschaften mit einander in ganz anderen Beziehungen ständen, als den von Comte dargelegten; sie hätten auch gar keine Beziehungen zu einander haben können. Es ist möglich, dass auf anderen Planeten oder in noch unbekannten Gegenden des unsrigen es eine andere Physik, eine andere Geometrie, eine andere Logik giebt; und wer will sagen, was selbst in den bekannten Gegenden unseres Planeten Physik, Geometrie und Logik morgen sein werden? Wer weiss endlich, ob morgen es überhaupt irgend eine Wissenschaft, ob es zwei einander ähnliche Dinge, ob es überhaupt etwas geben wird?

Wenn die theologischen und scholastischen Ursachen, die der Positivismus beseitigte, den Gedanken an Gesetze und Naturwissenschaft ausschlossen, so kann bei der Voraussetzung, dass die Erscheinungen einander ohne inneren Grund folgen, noch weniger von unveränderlichen Gesetzen, von einer sicheren Ordnung und von wissenschaftlicher Gewissheit die Rede sein.

Zu gleicher Zeit also, wo die Schüler Comte's in Frankreich aus dem Positivismus als notwendige Consequenz den Materialismus folgerten, gelangte sein bedeutendster Schüler in England mit gleichem Rechte zum Skepticismus.


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