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XXXIV.
Ethische Theorien.

Seit Jouffroy's »Cours de droit naturel« sind die bedeutendsten philosophischen Schriften über moralische Gegenstände neben den gelehrten und geistvollen Essais von Janet und Bersot die von Jules Simon »Ueber die Freiheit«, »Ueber die Pflicht« und »Ueber die natürliche Religion«. Jedoch hat der Verfasser derselben nicht sowohl die Absicht, die Principien der Moraltheorien zu vertiefen, welche ihm und seiner Schule eigen sind, als vielmehr die allgemeinen Regeln des Verhaltens zu entwickeln, welche aus derselben folgen, und weiter die Unabhängigkeit dieser Regeln von den Dogmen der positiven oder geoffenbarten Religion nachzuweisen.

Wir haben schon gesagt, dass gewisse Theologen die Philosophie, welche sich ganz fern von der Religion hält, getadelt und als eine »separatistische« bezeichnet haben. An der unerlässlichen Unabhängigkeit der Philosophie von jeder Autorität ausser derjenigen der Evidenz und des Beweises festhaltend, kann man doch wünschen, dass sie sich nicht, in der Absicht diese Unabhängigkeit zu sichern, gegen die im religiösen Glauben enthaltenen metaphysischen oder anderen Wahrheiten verschliesst, In der That wäre es vielleicht eine unvollständige und in vielen Hinsichten engere Moral als die des Evangeliums, des alten Testaments oder selbst des Buddhismus, die die Grenzen der »Natur« und »Vernunft« nicht überschreiten und ihre Wurzel nicht da suchen wollte, wo Natur und Vernunft die ihrige haben, in dem übernatürlichen und übervernünftigen Princip, das im religiösen und moralischen Gebiete seinen Ausdruck findet, in dem Gesetze der Liebe und Aufopferung, welches schon den Religionen des Orients bekannt war und durch das Christentum in den Vordergrund gestellt wurde.

Durch zahlreiche periodische Veröffentlichungen hat sich in der letzten Zeit eine sogenannte » unabhängige« Schule der Moral bekannt gemacht, unabhängig nicht nur von jedweder Religion, sondern auch von aller Metaphysik und jedem Glauben, z. B. an die Existenz Gottes oder ein zukünftiges Leben. Es war die Behauptung Bayle's und aller derer, die sich im 17. Jahrhundert Freidenker nannten, dass Atheismus und Moral nicht unvereinbar sind. Heute scheint man wie ehedem geneigt zu sein zu bezweifeln, dass eine Sittenlehre auf ein anderes Princip als auf die schwankende und unsichere Grundlage des materiellen Interesses gegründet werden kann, mit Ausschluss jeden Begriffes von dem sittlichen Ideal, welches das Wort Gott bezeichnet. »Die Moral als unabhängig von der Metaphysik betrachten, heisst aber, wie ein grosser Denker bemerkt hat, die Praxis als unabhängig von der Theorie ansehen.«

Die principielle Frage der Freiheit hat keine specielle Behandlung gefunden ausser vielleicht in den bereits erwähnten Studien von Lequier, die Renouvier nach dem Tode desselben herausgab. Bonifas hat in einer vor mehreren Jahren vor der Faculté des lettres zu Paris verteidigten These mit Nachdruck die menschliche Freiheit gegenüber der Einschränkung derselben, die er mit anderen im Determinismus des Leibniz findet, aufrecht erhalten. In einem Kapitel der Méditations philosophiques von Dollfus (1866) betitelt: »über den freien Willen« findet man das Beste, was vielleicht über das Verhältnis des Willens zu den Motiven gesagt worden ist, in einem Satze zusammengefasst, der Aufbewahrung verdient: »Muss man aus dem Umstande, dass der Wille immer von Motiven abhängt, die ihn bestimmen, schliessen, dass der Wille nicht frei ist? Nein; denn die Motive, welche mich bestimmen, sind meine Motive; indem ich ihnen folge, folge ich also mir, und die Freiheit besteht eben darin, nur von sich abzuhängen.«

Unter dem Titel eines »Systems der sittlichen Welt« hat Louis Lambert wesentlich eine Theorie der Unsterblichkeit entwickelt, derzufolge die Unsterblichkeit ein Vorrecht derer ist, die durch den von ihrer Freiheit gemachten Gebrauch ihrer Seele die Kraft zu einem Leben ohne Ende verschafft hätten. Dass eine solche Theorie vorgebracht und nicht ohne Beifall aufgenommen worden ist, beweist, wie sehr unter den Denkern unserer Zeit die Annahme einer geistigen und sittlichen Selbstthätigkeit in Aufnahme gekommen ist. Wenn man jedoch diese Selbstthätigkeit einmal näher untersuchen wird, so dürfte man wohl kaum mehr zugeben, dass dieselbe, eine einmal gesetzte Kraft, jemals erlöschen könne und wird mit Descartes und Leibniz glauben, dass ein Wesen, welches auch nur einen Augenblick gedacht hat, immer denken wird. Und nicht nur wird, nach Leibniz, wer einmal gedacht hat, ewig denken, sondern jeder unserer Gedanken enthält etwas von dem, was wir jemals dachten und jemals denken werden; gerade so, wie es keine Bewegung gibt, die nicht von allen je stattgefundenen Bewegungen abhinge und auf alle je stattfindenden einen Einfluss übt, so gibt es keinen Gedanken, in welchem nicht alles, was war, mehr oder weniger dunkel anklingt, und der nicht, ohne je zu erlöschen, ewig bestehen und sich gewissermassen in endlosen Wellen ausbreiten sollte. Jede Seele ist ein Spiegel, in dem sich von allen Seiten unter tausend verschiedenen Winkeln das allverbreitete Licht reflektiert; und nicht nur jede Seele, sondern jeder Gedanke, jedes Gefühl, in dem unablässig aus dem tiefsten Grunde des Unendlichen die absolute Persönlichkeit hervortritt.

In einem 1862 erschienenen Buche hat Wiart »Ueber die Principien der Moral, als Wissenschaft betrachtet« gehandelt.

In der schottischen und eklektischen Schule beschränkte man sich im allgemeinen darauf, für die Regelung des menschlichen Verhaltens auf eine gewisse Anzahl von Maximen hinzuweisen, die man als selbstverständlich betrachtete, oder noch einfacher, sich auf die Aussprüche des Gewissens zu berufen. Das ist die Lehre, welche Strada, wie wir sahen, »Evidentismus« nennt, und deren Ursprung er auf Descartes zurückführt.

So vorgehen und sich mit Uebergehung aller Beweise an den gesunden Menschenverstand, an die allgemeine Idee der Pflicht, an das Gewissen halten, heisst nach Wiart die Wissenschaft unterdrücken; und er zeigt an zahlreichen Beispielen, wie in Folge dessen Vorurteile einer bestimmten Zeit oder eines bestimmten Landes für Sittengesetze gelten können, oder auch das Individuum sein Belieben für das einzige Gesetz halten kann. Es gibt aber nach seiner Ansicht ein Princip, welches alle Vorschriften in sich enthält und für dieselben, wie für die einzelnen Handlungen den Massstab bildet, und das ist das Utilitäts-Princip. Allerdings würde dasselbe in der Form, wie es Bentham aufstellt, auf den Egoismus, den Feind aller Sittlichkeit hinauslaufen; man muss dasselbe nach Wiart mit dem Princip von Jouffroy verbinden, dass wir das Endziel der Menschheit erstreben und erstreben müssen. In der Verbindung dieser beiden Gedanken, also in der Maxime der universellen Nützlichkeit liegt das wahre Princip der Moralwissenschaft. Mit anderen Worten, die beste Handlung ist die, welche möglichst vielen möglichst nützt.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass es die besten Handlungen sind, welche das Gemeinwohl am meisten befördern, und dass also die »Nützlichkeit für Alle« ein Mittel der Kontrolle bei der sittlichen Beurteilung bietet. Aber was ist denn das Gute für den Einzelnen oder für Alle, und was also das Nützliche, das zum Guten dient? Das ist die Hauptfrage, von welcher alle anderen abhängen. Kann man mit der Antwort Kant's und der eklektischen Schule zufrieden sein, dass die Pflicht oder das Gebot der Vernunft das Gute ist? Es handelt sich ja darum zu wissen, was die Vernunft gebietet. Wenn man die Erklärung verlangt, was das Schliessen ist, so ist es keine Antwort, sondern nur die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes, gleichbedeutendes, wenn man sagt, dass sich dasselbe durch ein Schlussvermögen erklärt; ebenso heisst es Nichts sagen, oder wenigstens nicht genug sagen, wenn man die Frage: was soll man thun? damit beantwortet: was unsere Aufgabe ist. Dass sie nicht über derartige ungenügende Allgemeinheiten hinauskommt, wirft Wiart nicht ohne Grund der eklektischen Schule vor.

Es wäre etwas geschehen, um aus diesem Kreise abstrakter Ausdrücke herauszukommen, wenn man das Gute, wie es z. B. die Griechen und besonders die Stoiker thaten, durch das Schöne und weiter das Schöne als Harmonie und Einheit oder auch als die Ursache der Liebe oder selbst als Liebe definierte.

Die Religion, sagt Pascal, ist der im Herzen fühlbare Gott. Im Herzen also empfinden wir nach Pascal Gott, und hier ist der Sitz der Religion. Von nahezu demselben Gedanken ist die von Charaux vor der Faculté des lettres zu Nancy verteidigte These: »Ueber die Methode der Moral, oder die Liebe und die Tugend als notwendige Elemente jeder wahren Philosophie« erfüllt. Nachdem Charaux gezeigt hat, dass selbst die grossen Fortschritte der Mathematik und Physik dem Antriebe zu verdanken sind, welchen die sich mehr und mehr enthüllende Schönheit der Ordnung innerhalb der grössten Mannigfaltigkeit dem Willen gibt, sucht er darzuthun, dass um so mehr zur Auffindung der Wahrheiten höherer Art, welche die Philosophie beschäftigen, neben der Ausübung der intellektuellen Thätigkeit die beständige Mitwirkung moralischer Fähigkeiten erforderlich ist. Er bemerkt, dass die jetzt fast durchgehends herrschende Psychologie die sittliche Empfänglichkeit zu wenig beachtet und ihr in der Wissenschaft keinen Platz einräumt. »Und doch, sagt er, ist der Gott, den meine Vernunft als die Grundwahrheit, als das oberste Princip aller Philosophie erfasst, und mein Herz selbst Zeuge desselben; und wehe, wer diese zwei Zeugen nicht hört.«

Pascal sagt: »Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt;« und er fährt fort: »Die Logik desselben liegt nicht in Principien und Beweisen; sie besteht hauptsächlich in der beständigen Rücksichtnahme auf den Endzweck;« und weiter: »Diese Logik, welche Christus, Paulus, Augustin befolgten, ist die der Liebe.« In dieser Aeusserung Pascals in Verbindung mit seinen Bemerkungen über die Kunst zu überzeugen liegt zweifellos der Keim einer »Methode der Moral«. Wenn Charaux noch nicht versucht hat, dieselbe zu entwickeln oder auch nur sie scharf zu definieren, so hat er wenigstens das Verdienst, die Aufmerksamkeit auf die wichtige Wahrheit gelenkt zu haben, dass das Denken, welches eine Leistung oder ein Vermögen der Seele bezeichnet, zur Philosophie nicht ausreicht; dass dazu die ganze Seele gehört, oder, wenn man in derselben Teile unterscheiden will, dass der hauptsächlichste und beste Teil derselben nötig ist. Der Lehrer des Plato und durch ihn des Aristoteles erklärte, indem er sich mit den von einem falschen Wissen aufgeblähten Sophisten verglich, dass er Nichts wisse; und um zu erkennen zu geben, woher er wenigstens dies Bewusstsein seiner Unwissenheit habe, sagte er weiter: ich weiss Nichts, als was sich auf die Liebe bezieht. Nach Plato und Aristoteles findet man, wenn man den Gedanken des letzteren auf den Grund geht, in dem Begriffe des Guten und in dem der Liebe, welche sich durch das Gute erklärt, das letzte Princip aller Dinge. Und heute, wo wir nach einer so langen Forschungsarbeit und nach Aufhäufung so vieler Erfahrungen klarer als früher erkennen, dass das Innere der Dinge die Seele und das Innere der Seele der Wille ist, wie sollte man da nicht einsehen, dass in der innersten Natur des Willens der Quellpunkt aller Wissenschaft liegt?


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