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XVI.
Religiöse Reaktion gegen Materialismus und Skepticismus: Gratry.

Mehrere Theologen der katholischen Kirche haben die Mehrzahl der bis jetzt behandelten Theorien als unverträglich mit den Dogmen des Christentums und selbst mit Naturreligion und Moral bekämpft. Es liegt nicht im Plane dieses Buches, auf die Gedanken derer einzugehen, welche sich in erster Linie auf den theologischen Standpunkt stellen. Doch kann man dies von den Schriften des P. Gratry vom »Oratoire« nicht sagen. Gratry hat in einem Begriffe der neueren deutschen Philosophie das Princip alles Irrtums in den modernen Theorien und in dem entgegengesetzten Begriffe das Princip aller Wahrheit zu entdecken vermeint. Er stellt so ein ganz philosophisches System auf.

Noch vor wenigen Jahren glaubte man in allen Systemen der neueren Philosophie, den Eklekticismus mit eingeschlossen, die Lehre zu erkennen, welche Gott mit allen Dingen identisch setzt, den Pantheismus; eine Ansicht, die vorzüglich durch den Abbé Maret, späteren Bischof von Sura, in seinem »Essai über den Pantheismus«, dann durch den Abbé Bautain und weiter durch mehrere andere der katholischen Kirche angehörige Schriftsteller entwickelt wurde. A. Franck hat von einem anderen Gesichtspunkte aus ähnliche Anschauungen über die verschiedenen neueren Systeme geäussert. Nach Gratry liegt die Quelle der Irrtümer unserer Zeit nicht im Pantheismus: der Pantheismus sei nur die Folge eines philosophischen Lehrsatzes von Hegel, den dieser selbst den Sophisten des Altertums nachgesprochen habe, des Satzes nämlich, dass im Grunde alles Identisch ist, und dass also Bejahung und Verneinung, Sein und Nichtsein ein und dasselbe sind. Diesem alle Vernunft auflösenden Princip und der aus ihm sich ergebenden Methode stellt Gratry ein Princip und eine Methode entgegen, die nach seiner Meinung geeignet sind, alles das zu sichern, was die »moderne Sophistik« bedroht. Dies ist der Gegenstand der verschiedenen Schriften, welche er von 1851-64 veröffentlicht hat; nämlich: Etude sur les sophistes contemporains ou Lettre à M. Vacherot; Traité de la connaissance de Dieu; Traité de la connaissance de l' âme; Logique; Les Sophistes et la Critique, Entgegnung auf das Leben Jesu von Renan.

Die Autoren, welche Gratry vorzugsweise im Auge hat, Vacherot, Renan, Scherer haben sich in verschiedener Hinsicht günstig über den Hegelianismus geäussert; man findet in ihren Schriften gewisse Tendenzen und Resultate, welche den Tendenzen und Resultaten der Hegel'schen Philosophie entsprechen; aber man sieht nicht, dass sie seine Principien angenommen und seine Methode befolgt hätten; hauptsächlich sieht man nicht, dass sie nach dem Vorgange Hegels die Identität des Widersprechenden, die Aufhebung des Princips vom Widerspruch, zur Regel gemacht hätten.

Vacherot unterscheidet, wie wir sahen, das Wirkliche und das Ideale, ja er bringt sie in Gegensatz zu einander, und spricht in Folge dessen Gott die Realität ab. Hegel sagte gerade im Gegenteil: Das Vernünftige ist auch wirklich, und das Wirkliche ist vernünftig; er betrachtet die Lehre, dass die Vollkommenheit des Idealen ein Hinderniss für seine Wirklichkeit wäre, als oberflächlich und falsch. Gott ist nach seiner Erklärung, die hier mit der des Leibniz zusammentrifft, die höchste und streng genommen die einzige Realität. Es fehlt also viel, dass man die Philosophie Vacherot's und Hegel's als übereinstimmend ansehen könnte. Auch sehen wir nicht, dass Vacherot sich irgend auf das Hegel'sche Princip der Identität der Gegensätze beruft und dasselbe benutzt, dass er sich also selbst zu den Anhängern des Systems der absoluten Notwendigkeit rechnete oder dazu gerechnet werden könnte.

Das Gleiche gilt von Scherer. In einem Artikel der Revue des Deux Mondes (1862) mit dem Titel: »Hegel und der Hegelianismus« äussert er zwar eine hohe Bewunderung für die Grösse des Systems und die geistige Kraft seines Urhebers, erklärt jedoch, dass nach seiner Meinung der Hegelianismus ein in seinem Wesen und seinen Ausdrücken widerspruchsvolles System und im Ganzen genommen unfruchtbar sei. Wenn er die dem deutschen Philosophen zugeschriebene Meinung, dass eine Behauptung nicht mehr Wahrheit enthält als die entgegengesetzte, billigt, so versteht er sie in dem Sinne, dass der Widerspruch entgegengesetzter Begriffe immer zu einer höheren Synthese führt; und jede derartige Synthese beruht nach seiner Ansicht auf dem Princip, dass »die absoluten Urteile falsch sind, weil alles relativ ist«. Das ist ein gemeinsamer Grundsatz von Scherer und Renan und, wie wir gesehen haben, das Princip der positivistischen Schule. Aber liegt dies nicht weit ab von dem Gedanken Hegel's.

Es ist also zweifelhaft, ob der P. Gratry berechtigt ist, den Hegelianismus als die gemeinsame Quelle der Lehren Vacherot's, Renan's und Scherer's zu bezeichnen und zu sagen, dass das Hegel'sche Princip der Identität der Widersprüche der Schlüssel zu dem ist, was er die moderne Sophistik nennt.

Was das allgemeine Princip betrifft, in welchem Gr. den Kern der Lehre Hegel's zu finden glaubt, so ist es wohl, um dasselbe zu würdigen, nicht ausreichend, es mit ähnlichen Sätzen der alten Sophisten zu vergleichen. Hegel hat selbst in seiner Geschichte der Philosophie diese Aehnlichkeit angedeutet; aber, wie er auch bemerkt, ist es, um zwei Systeme zu identificieren, nicht genügend, zwei, wenn auch wichtige Sätze herauszuheben, die ähnlich in ihnen sind; man muss noch prüfen, woraus sie hervorgehen, und wohin sie zielen. Videndum est, sagt Cicero, non modo quid quisque loquatur, sed etiam quid quisque sentiat, atque etiam qua de causa quisque sentiat. Trotz dessen, was die Methode Hegel's anscheinend oder in Wirklichkeit Sophistisches hat, ist es kaum möglich, die neue Lehre, in der alles auf den Gedanken hinausläuft, mit dem Sensualismus des Protagoras und Gorgias zu verwechseln. Die Ansicht Hegel's ist im Grunde, dass die Gegensätze und selbst die Widersprüche, welche die niederen Grade des Seins und Erkennens enthalten, auf einer höheren Stufe ihre Versöhnung und Einheit finden; und weiter, dass es die Hauptaufgabe des Denkens in seiner höchsten Vollendung ist, diese Aussöhnung und innere Ausgleichung der Gegensätze zu bewirken. Ist eine derartige Anschauungsweise, die durch Schelling und Fichte bis auf Kant zurückweist, und die den schärfsten Gegnern der Sophisten im Altertum nicht fremd war, nur verächtlich? Ohne Zweifel ist noch zu untersuchen, welches das Princip dieser von Hegel verschieden formulierten Abwechselung von Widerspruch und Versöhnung ist; und vielleicht hat er Unrecht gehabt, die Form für das Wesen zu halten und alles auf die Logik, auf das rein Vernünftige zurückzuführen. Doch wird ihm das Verdienst bleiben, mit einer ihm eigentümlichen Schärfe und einer seltenen Umsicht die logische Verknüpfung der Bedingungen aufgezeigt zu haben, welche in gewissem Sinne den Mechanismus der geistigen Welt bildet.

Der P. Gratry glaubt einen inneren Zusammenhang zwischen dem Hegel'schen System der allgemeinen Identität und der deduktiven Methode zu finden. In der That besteht, nach seiner Ansicht, diese Methode in einer Reihe von Umformungen, durch welche man, indem man einen Begriff nur entwickelt, ohne etwas hinzuzusetzen sich in Identitäten bewegt. Man lernt also dadurch Nichts Neues; denn Lernen heisst vielmehr einem Begriffe einen andern hinzufügen, der nicht in ihm enthalten ist; dazu aber kommt man durch die Methode der »Transcendenz«.

Diese, der Deduktion entgegengesetzte Methode sei die Induktion. Und die Induktion, identisch nach Gratry mit der platonischen Dialektik, hätte ihre vollendetste Form in dem Rechnungsverfahren gefunden, welches den höchsten Teil der Mathematik bildet, nämlich der Differential- und Integral-Rechnung, der sogenannten Infinitesimal-Analyse. Die wahre philosophische Methode, der Methode der Deduktion und der Identität genau entgegengesetzt, wäre also die Methode des Unendlichen angewandt auf die Metaphysik und die natürliche Theologie.

Das grosse Problem der Philosophie, sagt Gratry, ist, das Unendliche, das ist Gott zu erreichen. Die deduktive Methode muss, da sie vom Endlichen ausgeht, um zum Unendlichen zu gelangen, das Unendliche und Endliche identifizieren; das ist der Pantheismus. Die Infinitesimal-Methode, die auf dem Wege der Induktion sich vom Endlichen zum Unendlichen erhebt, ist also zugleich die Methode, um das Grundproblem der Philosophie zu lösen. »Was thut man, wenn man von den endlichen Vollkommenheiten, welche sich in uns finden, vom Willen und der Intelligenz, auf dem durch Descartes vorgezeichneten Wege auf unendliche Vollkommenheiten in Gott schliesst? Man geht, wie in der Infinitesimalrechnung, vom Endlichen zum Unendlichen. Also ist die Methode der Infinitesimalrechnung zugleich die, mit welcher man die Existenz und Natur Gottes beweist. Die natürliche Theologie geht genau wie die höhere Mathematik vor; auf beiden Seiten derselbe Gang, dieselbe Sicherheit.«

In Bezug auf den Zusammenhang zwischen der deduktiven Methode und dem System der Identität, welchen der gelehrte und redegewandte Verfasser behauptet, ist vielleicht zu bemerken, dass, wenn die Deduktion auch darin besteht, den Inhalt eines Begriffes nur zu entwickeln, indem man Folgerungen aus ihm zieht, und also zu zeigen, dass jede Folgerung das Princip selbst ist, und wenn sogar jede regelrechte Deduktion auf einer Definition, also einem identischen und umkehrbaren Satze beruht, und wenn ferner die Axiome, welche die allgemeinen Regeln für alle Deduktionen enthalten, nur identische Wahrheiten sind, daraus doch nicht folgt, dass alle Begriffe, welche für verschiedene Reihen von Deduktionen die besonderen Principien bilden, dieselben sind, und dass also Alles identisch ist.

Wenn andrerseits der P. Gratry, um der allgemeinen Identität aus dem Wege zu gehen, zu welcher der Gebrauch der Deduktion führen soll, die ausschliessliche Anwendung der Induktion in der Philosophie wünscht, die mit einem Begriffe einen neuen Begriff verbindet wie die Erfahrung (ein Gedanke, in welchem er mit allen übereinkommt, die die Beobachtung der Phänomene als einzigen Ausgangspunkt nehmen), so ist zu bemerken, dass die Induktion, nach dem Nachweis von Claude Bernard, selbst zuletzt auf Deduktion beruht; nur auf einer hypothetischen und provisorischen Deduktion, die mit der Erfahrung in Verbindung gebracht wird. Und weiter darf man wohl mit Rücksicht auf den provisorischen und hypothetischen Charakter der Induktion und der blossen Wahrscheinlichkeit ihrer Schlüsse bezweifeln, ob es möglich ist, sie mit der Analyse und speciell der Infinitesimal-Analyse zu vergleichen. Der gelehrte Verfasser glaubt sich in dieser Beziehung auf bedeutende Autoritäten wie Wallis, Newton und Laplace stützen zu können. Wenn man indes die von ihm angezogenen Stellen dieser grossen Denker näher ansieht, kann man kaum seiner Deutung derselben zustimmen. Wallis macht starken Gebrauch von der Induktion in seiner Arithmetik des Unendlichen, durch welche er der Differentialrechnung in ihrer Anwendung auf die Zahlen den Weg bahnte, wie es Cavalieri für die geometrische Anwendung gethan hatte. Er sah in derselben ein ausgezeichnetes Hilfsmittel der Untersuchung und in manchen Fällen ein genügendes Beweisverfahren. Nirgends aber verwechselt er sie mit der Analyse, welche streng beweisend sein kann. – Laplace hat Wallis gegen Fermat verteidigt, der überall statt Induktionen strenge Beweise nach der geometrischen Methode der Alten sehen wollte; er billigte die Anwendung der Induktion zum Zwecke der Forschung und oft sogar zum Beweis, doch hat er nicht behauptet, dass Induktion und Analysis dasselbe wären. – Newton hat auf den letzten Seiten seiner »Philosophiae naturalis principia mathematica« erklärt, dass das Verfahren zur Entdeckung der Naturgesetze die Induktion wäre, die Analogien sammelt und die zusammengesetzten Thatsachen auf einfachere, also allgemeinere Thatsachen zurückführt. Aber er hat so gut wie irgend Jemand eingesehen und auf denselben Seiten deutlich genug ausgesprochen, dass die Induktion nur eine kleinere oder grössere Wahrscheinlichkeit giebt, nach Massgabe der Zahl der Erfahrungen. Man wird, täusche ich mich nicht, nirgends finden, dass er die Induktion und Analysis gleich gesetzt hätte.

Der P. Gratry hat besonders häufig den Gedanken wiederholt und entwickelt, dass man durch die Methode der Infinitesimalrechnung sich von der endlichen Creatur zur Unendlichkeit Gottes erhebt. Bis jetzt hat er in diesem Punkte mehr Widerspruch als Beifall gefunden. In der That gründet sich die Infinitesimal-Methode auf das Princip, welches von ihrem Hauptbegründer ausgesprochen wurde, »dass die Verhältnisse des Endlichen auch noch im Unendlichen bestehen«; sie schliesst von dem Werte des Verhältnisses zweier in gesetzlicher Abhängigkeit von einander stehender Grössen auf den Grenzwert desselben, wenn die beiden Grössen unter jeden angebbaren Betrag heruntersinken; sie bestimmt also auf Grund der Verhältnisse endlicher Grössen diejenigen ihrer unendlich kleinen Elemente, und gelangt so durch das Gesetz der Erzeugung dieser Grössen zur Entdeckung einer grossen Zahl von Eigenschaften derselben, die der gewöhnlichen Analysis und Geometrie unzugänglich sein würden. Aber das Infinitesimale, welches der Mathematiker so berechnet, ist nur ein Begriff, vergleichbar, wie der Begründer der Differentialrechnung sagt, mit den imaginären Wurzeln der Algebra. Kann die Methode, welche uns zu demselben führt, wohl dieselbe sein, durch welche man zu dem absoluten Realen, dem Unendlichen der Metaphysik und Theologie gelangt? Wenn das Niedere dazu dienen kann, uns zu dem Höheren hinzuführen, das Sinnliche z. B. dazu, um zu dem Begrifflichen zu gelangen, so dient es doch nicht eigentlich dazu, das Höhere zu begreifen und zu beweisen, sondern im Gegenteil wird das Niedere durch das Höhere begriffen; ebenso kann das mathematisch-Unendliche, welches nur eine Zahl ist, nicht zum wissenschaftlichen Beweise des wahrhaft Unendlichen dienen, des Gegenstandes der Metaphysik; vielmehr wird durch das wahrhaft Unendliche das Infinitesimale des Mathematikers begreiflich.

Descartes durfte behaupten, dass unser Geist sich von der Betrachtung seiner beschränkten Vollkommenheiten zu den unbeschränkten Gottes erhebt; er wusste dabei sehr wohl, dass wir vor allem die innere Erkenntnis des wahrhaft Unendlichen besitzen. Wie sollten wir es sonst in dieser oder jener Form, dieser oder jener Beschränkung erkennen? Das Unendliche ist das innere Licht, durch welches wir es selbst und alles Andere ursprünglich erkennen. Umsoweniger können wir aber durch das Infinitesimale der Mathematiker eine bessere Erkenntnis und einen schärferen Beweis der Unendlichkeit Gottes gewinnen.

Die Methodenlehre Gratry's, der er ein ihm eigentümliches Gepräge gegeben hat, wurzelt in dem seit dem vorigen Jahrhundert allgemein angenommenen Satze, dass wir direkt nur die Erscheinungen, die Objekte der Erfahrung kennen; daraus folgt, dass wir zu Principien von anderer Natur nur gelangen können, indem wir uns von dieser sinnlichen Welt, die gewissermassen den festen Boden für uns abgiebt, in die höhere Welt des rein Intelligibeln emporschwingen. Ein scharfer Kritiker Gratry's E. Saisset ist in diesem Punkte ganz mit ihm einig; er missbilligt nur den Versuch desselben, auf metaphysische Gegenstände die Methode der Differentialrechnung anzuwenden, aber er erhebt keinen Zweifel darüber, dass man vom Endlichen zum Unendlichen, vom Sinnlichen zum Intelligibeln nur durch eine Art Sprung gelangen kann.

Aber ebenso, wie der Eklekticismus die auf eine Methode der Transcendenz (mit Gratry zu reden) lange Zeit hindurch gesetzten Hoffnungen mehr und mehr fallen Hess und schliesslich dazu neigte, an Stelle jener Methode eine unmittelbare Anschauung des Intelligibeln zu setzen (wie man besonders in der Religionsphilosophie Saisset's es sieht), so versuchte Gratry, obwohl immer noch an seiner allgemeinen Lehre festhaltend, im Anschluss an einen anderen bedeutenden Denker aus dem alten Oratoire, Thomassin, die Behauptung zu begründen, dass wir Gott nicht nur denken, sondern im wahren Sinne des Wortes fühlen und erfahren. Es besteht in der Seele, so sagt er mit Thomassin, ein verborgener Sinn, durch den sie Gott mehr berührt, als ihn sieht oder hört; man kann sogar, so meint er, das berühmte Axiom wieder aufstellen: Nichts ist im Verstände, was nicht zuvor im Sinne war; man kann daran festhalten, dass alle Erkenntnis aus der Sinnlichkeit stammt. Die Erfahrung hat in der Naturwissenschaft den scholastischen Rationalismus verdrängt, welcher mit Hilfe abstrakter Grundsätze die Natur apriori construieren wollte, und welcher bei Hegel wiedererscheint, der mit der sinnlichen Welt im Namen der Vernunft »wie der Schöpfer mit dem Geschöpf umgeht. Die Erfahrung wird den Rationalismus einst auch aus der Wissenschaft von der Seele und von Gott vertreiben; dann wird das geschehen, wenn wir, statt uns auf die Verbindung und Trennung abstrakter Begriffe und allgemeiner Sätze zu beschränken, lernen werden, in unserem Bewusstsein das höhere in ihm reflectierte Princip wiederzufinden, und im Grunde unserer selbst das zu empfinden, was höher ist als wir selbst.

Gratry sagt noch: »Gott selbst ist die erste Quelle unserer Freiheit. In Gott schöpfen wir die Kraft zu wollen und das Gute zu wollen; wir schöpfen diese Kraft in Gott durch die Liebe. – Aber was heisst lieben? Es heisst sich vereinigen, sich anpassen. Die Hingabe ist die Grundlage der Moral; die Hingabe ist der einzige Weg, auf dem wir uns Gott nähern; sie ist das notwendige Verhältnis des endlichen Lebens zum unendlichen. Die freie Handlung der Hingabe, welche Gott über das Selbst stellt, nähert uns Gott, vermehrt die Freiheit; während die entgegengesetzte Handlung, mit der keine Hingabe verbunden ist, die das Ich über Gott stellt, die Freiheit vermindert.« Wie das Evangelium sagt: »Wer sein Leben retten will, verliert es, und wer es freiwillig hingiebt, rettet es.«

Durch die vom reinsten Geiste des Christentums erfüllte Entwickelung dieser erhabenen Grundsätze hat sich Gratry vielleicht mehr als durch seine geistvollen aber bestreitbaren Lehren über die Methode um die Philosophie und die natürliche Theologie verdient gemacht.


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