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XXXI.
Physiognomik und Theorie der Sprache.

Ferner hängt noch mit der Frage der Beziehungen des Physischen und Geistigen und zwar vielleicht am innigsten zusammen die Frage der Zeichen, d. h. die Lehre von der Physiognomie und der Sprache. Mit beiden haben sich bemerkenswerte Arbeiten beschäftigt.

Ein Physiolog, der sich besonders durch neue und glückliche Anwendungen der Elektrizität in der Medicin bekannt gemacht hat, Duchenne hat die geniale Idee gehabt, dieselbe auch dem Studium der Physiognomik dienstbar zu machen. Er bringt den Rheophor mit verschiedenen Teilen des Gesichts in Berührung: die Muskeln ziehen sich zusammen, und das Gesicht drückt diese oder jene Gefühle, diese oder jene Leidenschaften aus. Duchenne hat nun die von ihm entdeckten Beziehungen gewisser Ausdrucksformen und gewisser Muskeln vermerkt und so einen wesentlichen Fortschritt in einem bis jetzt sehr zurückgebliebenen Teile der Physiologie zu Stande gebracht und der Kunst ein sehr wertvolles Material geliefert.

Der berühmte englische Physiolog, welcher der grossen durch Magendie gemachten Entdeckung so wesentlich vorgearbeitet hatte, dass es besondere Nerven für die Empfindung und für die Bewegung gibt, Charles Bell, hatte sich schon vor Duchenne mit der Erforschung der Gesetze der Physiognomik aber in einem ganz anderen Sinne beschäftigt. Duchenne will hauptsächlich Thatsachen sammeln und aus denselben nützliche Folgerungen für die Kunst ziehen; Bell beschäftigte sich hauptsächlich mit der Erklärung der Thatsachen. Seine Erklärung besteht darin, dass die Teile, welche dem Ausdruck dienen, auch und zwar zuerst bestimmten Funktionen, sei es des niederen oder vegetativen Lebens oder des höheren Lebens dienen. Die Bewegungen des Körpers und der Glieder, die Haltung und die Gesten drücken Empfindungen und Bewegungen aus. Ebenso verhält es sich bei näherer Betrachtung mit dem Spiel der Gesichtszüge, welches aus der Thätigkeit von Muskeln hervorgeht, die sich nicht wie die anderen unter der Haut bewegen, sondern mit derselben verbunden sind und sie mit sich ziehen. Wenn das Antlitz durch eine bestimmte Zusammenziehung eine gewisse Leidenschaft oder ein gewisses Verlangen ausdrückt, so kommt das daher, weil diese Zusammenziehung die notwendige mechanische Bedingung ist für die Befriedigung jener Leidenschaft oder jenes Begehrens. Wenn zum Beispiel die Zurückziehung der Mundwinkel den Ausdruck der Wut liefert, wie man es in stärkster Form bei den Raubtieren beobachten kann, so erklärt sich das daraus, dass dies die Bewegung ist, durch welche das Tier sich zum Ergreifen und Zerreissen seiner Beute vorbereitet.

Gratiolet, der der Wissenschaft zu früh entrissen worden ist, hat diese Theorie in geistvoller Weise weiter entwickelt. Auch Lemoine hat sie angenommen und aus derselben eine neue und beachtenswerte Folgerung gezogen, durch welche er sich von seiner Schule entfernt und einen ersten Schritt in einer neuen Richtung thut.

Reid hatte zu den ursprünglichen Fähigkeiten, welche sich nicht auf andere zurückführen lassen, auch die Fähigkeit gezählt, sich durch Zeichen auszudrücken und diese zu verstehen. Dasselbe that Jouffroy und erst recht Garnier, der überhaupt geneigt war, die angeborenen Anlagen und Neigungen zu vervielfältigen. Wenn aber die Zeichen des Ausdrucks nichts sind als die natürlichen Bewegungen zu dieser oder jener Handlung, so ist offenbar zu ihrer Erzeugung keine ursprüngliche Anlage nötig, und, wie einleuchtet, ist dann auch keine besondere Fähigkeit nötig, um sie zu verstehen. Wenn dem so ist, so ist aber ein Schlüssel zur Lösung der umstrittenen Frage nach der Entstehung der Sprache gefunden.

Ohne eine Sprache zu denken, oder wenigstens deutlich zu denken scheint unmöglich. Einige schliessen daraus, dass der Mensch, um zu denken, durch eine besondere und direkte Offenbarung die Sprache habe empfangen müssen; eine Hypothese, die hauptsächlich an den Namen Bonald geknüpft ist,

In jüngster Zeit haben die Fortschritte der Sprachwissenschaft, vorzüglich der vergleichenden Sprachwissenschaft zu der Einsicht geführt, dass die Sprache in ihren verschiedenen Formen sich wie die Wissenschaft, wie das Leben nach bestimmten und festen Naturgesetzen entwickelt hat. Renan hat in seiner Abhandlung über den »Ursprung der Sprache« diese Ansicht formuliert, indem er übereinstimmend mit Max Müller sagt, dass die Sprache das Produkt der Spontaneität des menschlichen Geistes ist. Nach diesen beiden gelehrten Sprachkennern bilden die Sprachen durch ihren grammatischen Bau ein organisches Ganzes, ein regelmässiges System, welches wie aus einem Gusse ist, und aus diesem Ergebnis der empirischen Sprachforschung, verbunden mit dem selbstverständlichen Princip, dass man nicht sprechen kann, ohne zu denken, folgern sie mit Recht, dass der Mensch von Natur aus spricht, wie er von Natur aus denkt.

Aber die Thatsache eines organischen Ganzen schliesst nicht aus, dass dasselbe in gewissem Umfange sich successiv gestaltet hat, und dass die Ursachen dieser Gestaltung sich nachweisen lassen. Man kann versuchen zu erklären, wie das Gebäude unserer Erkenntnis aufgeführt worden ist; man kann ebenso versuchen zu erklären, wie das gegenwärtig an Einzelnheiten so reiche Gebäude entstanden ist, welches eine Sprache darstellt, Dies hat nun mit Aufwand grossen Scharfsinns Lemoine gethan, indem er das Princip von Charles Bell entwickelte.

Es war bereits behauptet und recht gut erläutert worden, wie die mehr oder weniger künstlichen und conventionellen Sprachzeichen aus gewissen natürlichen Zeichen entspringen. Wir wissen ferner nach den Beobachtungen Bell's wenigstens für gewisse Fälle, worin diese Zeichen bestehen und wie sie sich erklären; somit erkennen wir desto besser, wie man absichtlich ihren Gebrauch ausdehnen, sie entwickeln, umgestalten und aus ihnen eine eigentliche Sprache gewinnen kann. Die Bedürfnisse der Athmung und verschiedene Eindrücke lassen das neugeborene Kind den Schrei ausstossen, der bewirkt, dass man ihm zu Hülfe kommt; später wird es den Gebrauch begreifen, den es von demselben machen kann; es wird ihn wiederholen und sich so selbst nachahmen. Aus dieser ersten Sprache, welche modificiert und erweitert wird, werden unter Mitwirkung der Naturanlage und des Willens die Worte der eigentlichen Sprache entstehen. Diese Worte, verknüpft mit anderen Worten, umgeformt und flektiert nach Gesetzen, die mit denen des Denkens selbst identisch sind, und deren Inbegriff die Logik ist, mit einem Worte nach den Regeln der sogenannten Grammatik behandelt, ergeben die vollkommene Sprache.

In diesen Betrachtungen scheinen die Keime einer wahrhaft philosophischen Erklärung des Ursprungs der Sprachen zu liegen. Eine hieraus sich ergebende Folgerung, die auch Lemoine nicht entgangen ist, besteht darin, dass also das Sprechen nicht dem Denken vorausgegangen und nicht die Ursache desselben ist, wie Bonald und auf Grund ganz anderer Principien Condillac dachten, sondern dass es vielmehr die Intelligenz ist, welche sich nach Massgabe ihrer eigenen Entwickelung sozusagen Organe, einen Körper schafft. Auch hier finden wir als die Grundlage aller Erzeugung die ursprüngliche Kraft des Geistes wieder. Lemoine wird daraus vielleicht auch einmal die andere Folgerung ziehen, in welcher er mit Plato, Aristoteles, Leibniz und Stahl übereinkommen würde, deren kühne Ideen bisweilen seinem nüchternen Scharfsinn anstössig sind, nämlich dass es bis in die äusserste Tiefe der instinktiven Thätigkeit und des rein natürlichen Seins hinab das Denken, der Wille ist, welcher Alles erklärt, und dass der Grund für Alles zuletzt die Vernunft ist.

Das soll nicht heissen, dass das Denken leicht des Wortes entbehren könnte. Die Sprache ist ein Spiegel, in welchem unser Denken sich selbst erkennen lernt, und ohne welchen es für sich selbst gar nicht dazusein scheinen würde. »Das Licht, sagt Emerson, durchdringt den Raum, ohne dass man es merkt; damit wir es sehen, muss es auf einen undurchsichtigen Körper treffen, der es zurückwirft, Dasselbe gilt von unserem Denken.« Aber der Spiegel ist deshalb nicht das Licht und nicht die Ursache des Lichtes.

»Wir denken nicht ohne Bilder, sagte Aristoteles, und die Worte sind Bilder«. – »Aber, so sagte Jamblichus, Dinge viel herrlicher als irgend ein Bild sind ausgedrückt durch Bilder«.

Man kann wohl von der Sprache das sagen, was Emerson vom Universum gesagt hat: »Es ist eine Veräusserlichung der Seele«; Schopenhauer sagte dasselbe vom Leibe: »Er ist sichtbar gewordener Wille; die Objektivation des Willens.«


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