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V.
Pierre Leroux und Jean Reynaud.

Bei Pierre Leroux und Jean Reynaud, die auch der socialistischen Schule angehörten, bemerkt man Zeichen einer ernsten Verfolgung der Wahrheit,

S. Simon hatte die Gesellschaft auf einer dreifachen Grundlage neu errichten wollen, auf den drei Klassen der Industriellen, der Künstler und der Gelehrten, die nach seiner Meinung den Hauptanlagen des menschlichen Geistes entsprechen. P. Leroux glaubte in der That in der menschlichen Natur drei grosse Sphären zu erkennen, welche der Industrie, Kunst und Wissenschaft entsprächen: Empfindung, Gefühl und Erkenntnis. Die Entwickelung dieser Idee macht zum grossen Teil seine »Widerlegung des Eklekticismus« aus. In seinem Buche »Ueber die Menschheit« gab er sich ausserdem Mühe zu beweisen, dass, wenn der Mensch ausser jenen drei Anlagen noch mit Vervollkommnungsfähigkeit und zwar unbegrenzter Vervollkommnungsfähigkeit ausgerüstet und dazu bestimmt sei, das Glück nicht erst nach christlicher Lehre in einem jenseitigen Leben, sondern nach St.-Simon schon in den jetzigen Verhältnissen unserer Existenz zu erreichen, dies doch nur in einer unendlichen Reihe successiver Seinsformen geschehen könne. Ihr seid, sagte er, also werdet ihr sein; denn sein heisst, an dem ewigen und unendlichen Sein teilnehmen; aber deswegen ist es nicht nötig und nicht zu bewerkstelligen, aus den Bedingungen unserer Existenz herauszutreten, welche der Menschheit wesentlich sind. Die Unsterblichkeit kann also nur darin bestehen, nach dem Tode wieder geboren zu werden, als derselbe und doch als ein ganz anderer fortzuleben in den zukünftigen Generationen, welche nach einander für alle Ewigkeit die Erde einnehmen werden. Auf den Einwand, dass man keine Erinnerung an ein früheres Leben hat, und dass die Unsterblichkeit für ein intelligentes und sittliches Wesen untrennbar von Erinnerung zu sein scheint, antwortete Leroux: »Heisst leben nicht sich ändern; ist ändern für den Geist nicht notwendig ein Vergessen?« Und er glaubte, bei Leibniz wie bei allen grossen Denkern und Theologen Bestätigungen seiner Gedanken zu finden. Aber es war vielleicht im Gegenteil der Gedanke des Leibniz, wie derjenige des Plato, Aristoteles, Plotin, Descartes, dass Leben statt mit Veränderung identisch zu sein, die Ueberwindung der Veränderung bedeute; dass leben heisse, sich in jedem Augenblick dem Tode entreissen, für den Geist also: sich wiederzuerkennen, sich zu erinnern.

Was von den Spekulationen des Leroux übrig bleiben wird, ist vor allem die Idee, die er seit J. de Maistre am entschiedensten ausdrückte, dass die Menschheit eine wirkliche, substanzielle Einheit bildet, woraus folgt, dass alle ihre Glieder zu einer engen, solidarischen Gemeinschaft verknüpft sind. Nur sieht man in dieser Einheit, nach der Beschreibung von Leroux, nichts von der Existenz der einzelnen Erscheinungen Verschiedenes, deren Beziehungen sie doch erklären soll, wenn sie nicht eine der bloss begrifflichen Wesenheiten sein soll, deren Nichtigkeit Aristoteles, Leibniz und Berkeley gezeigt hatten, und die höchstens die Bedeutung haben, welche der Geist ihnen giebt, indem er sie nach seinem eigenen Vorbilde zurechtmacht. Wenn es auch etwas giebt, worin wir alle, trotz unserer Verschiedenheiten übereinkommen, worin wir identisch sind, so genügt das doch noch nicht einmal, um über die von Cousin sogenannte unpersönliche Vernunft Rechenschaft zu geben; das Etwas, was über jeder einzelnen menschlichen Persönlichkeit stehen soll, kann nur eine höhere und vollkommenere Persönlichkeit sein. Ich bin der Weinstock, sagte Christus, und ihr seid die Zweige; ich bin das Haupt, und ihr seid die Glieder. – In jeder Unterhaltung, sagt einer unserer Zeitgenossen, der tiefe Denker Emerson, wenden sich die Sprechenden unbewusst an einen Dritten, der unsere gemeinsame Natur ist, und dieser Dritte ist Gott. Der, welcher alle Dinge und alle Personen gemacht hat, ist hinter uns immer anwesend, und uns selbst wie alle Dinge durchdringt seine furchtbare Allwissenheit.

Leroux wollte den vom Christentum so scharf ausgeprägten Unterschied zwischen Himmel und Erde verschwinden machen; das hiess nach seiner Meinung dem Christentum seinen wahren Sinn geben; denselben Gedanken hatte Jean Reynaud. Nur wollte Leroux den Himmel, den Ort der zukünftigen Existenz, auf die Erde bringen, und Reynaud wollte vielmehr die Erde zum Himmel erweitern; L. glaubte an eine zukünftige Existenz, die in einer unbegrenzten Wiederholung der irdischen Existenz ohne Identität der Person und ohne Erinnerung bestände, R. dachte sich nach dem Leben auf dieser Erde eine Reihe weiterer Leben auf anderen Planeten, ohne dass die Persönlichkeit und die Erinnerung verloren gingen.

Der Grundgedanke, welcher R. beherrschte, war der der allgemeinen Vervollkommnungsfähigkeit in seiner Anwendung auf das Schicksal der Menschen. Indem er zu dem Artikel »Zoroaster« der allgemeinen Encyklopädie die Denkmäler der Religion der Magier studierte, welche Eugène Burnouf gerade erklärte, war er betroffen von den Zügen der Aehnlichkeit dieser Religion und des Christentums; und weiter schien ihm der magische Glaube an den endlichen Sieg des Guten der Idee des allgemeinen Fortschritts mehr zu entsprechen als die christliche Lehre von der Hölle und den ewigen Strafen: daneben vermeinte er in dem, was wir von dem Glauben der alten Gallier wissen, besonders in ihrem Hauptdogma der Ewigkeit der Existenz der Seelen und der Ewigkeit ihrer Aktivität Momente anzutreffen, die zur Ergänzung und Erweiterung der christlichen Dogmatik dienen könnten. Diese Gedanken und ein lebendiger Glaube an das Gesetz des beständigen Fortschritts in allen Dingen waren die Elemente, auf welche Reynaud seine Dialoge zwischen einem Theologen und einem Philosophen, betitelt »Himmel und Erde«, aufbaute.

Nach diesem Buche ist die Erde nur der Ort einer der unzähligen Daseinsweisen, welche wir nach einander durchzumachen haben. Wenn wir hier auf der Erde leben, so haben wir bereits existiert, und wir werden noch existieren und zwar immer vollkommener in den zahllosen verschiedenen Welten, welche den Raum bevölkern. Wir werden nicht in einem Augenblicke aus einer körperlichen Verfassung in eine geistige übergehen; es giebt keine reinen, aller Körperlichkeit entkleideten Geister, wie die Mehrzahl der Theologen sieh die Engel denkt; es giebt auch in Gott kein Leben, welches streng genommen immateriell wäre. Die Unsterblichkeit besteht in einem unbegrenzten Fortschritte von einer Existenz zu anderen, die im Grunde ähnlich sind und in denen man sich mehr und mehr reinigt; in theologischer Sprache: kein Paradies, keine Hölle, sondern ein ewiges Purgatorium. Das Concil von Périgueux im Jahre 1857 billigte die Verbesserungen, welche der Verfasser von »Himmel und Erde« am Christentum anbringen wollte, durchaus nicht; es sah in denselben nur die Erneuerung alter Ketzereien, die es als dem katholischen Glauben zuwider verfluchte.

Ohne in eine theologische oder historische Erörterung einzugehen, kann man sich doch vom philosophischen Gesichtspunkte aus fragen, ob das nicht den Himmel ganz beseitigen heisst, wenn man ihn wie R. sich denkt, und bis auf den Gradunterschied mit der Erde übereinstimmen lässt; ob das nicht heisst den Fortschritt selbst aufheben, wenn man ihm sein Ziel nimmt, ob die Aufhebung des Begriffes der höchsten Vollkommenheit nicht zugleich die Aufhebung des Begriffes der Vervollkommnung bedeutet. Unter dem Himmel hat man, mochte man sich nun klare Rechenschaft davon geben oder nicht, nicht sowohl diesen oder jenen mehr oder weniger von uns entfernten Ort, sondern ein von dem Elend des jetzigen freies Leben verstanden, ein Leben ganz verschieden von demjenigen in der sinnlichen Erscheinung. In einem der Dialoge Plato's, Leroux citiert die Stelle selbst, definiert einer der Mitredner des Sokrates die Astronomie als eine Wissenschaft, welche von den Dingen hier unten den Geist auf die Dinge oben richtet; darauf sagt Sokrates: »Mir scheint es, dass, wie man die Astronomie versteht, wenn man sie zur Philosophie selbst machen will, man uns nach unten blicken lässt; werden wir denn glauben, dass die Betrachtung der Gemälde an der Decke mit erhobenem Kopfe eine Betrachtung mit den Gedanken und nicht mit den Augen ist? Nach meiner Ansicht lässt kein anderes Studium die Seele in die Höhe blicken als dasjenige, welches sich auf das Seiende und Unteilbare bezieht.« Ebenso kann man sagen, heisst es nicht von einem himmlischen Leben sprechen, wenn man von einem dem unsrigen ähnlichen auf irgend einem entfernten Gestirn spricht, selbst wenn man mit Reynaud hinzufügt, dass die Existenz da oben der unsrigen sehr überlegen ist und sich endlos vervollkommnen wird. Um den Wünschen unseres Herzens und den Forderungen unserer Vernunft zu entsprechen, ist ein vollendetes Leben nötig, welches sich nur ganz ausser der sinnlichen Sphäre, ausserhalb des Raumes und der Zeit finden kann, da wo Gott wohnt, in dem überhimmlischen wie überirdischen Gebiete des reinen Geistes.

Ueberall, wo Gott gekannt und geliebt ist, sagt Swedenborg, ist der Himmel; und vor ihm das Evangelium: In uns ist das Himmelreich. Schon in diesem Leben, auf dieser Erde können wir im Herzen und im Geiste Bürger des Himmelreiches sein; die wahre Frage der Unsterblichkeit besteht darin, zu wissen, ob wir, selbst wenn wir für eine unabsehbare Zukunft in unserer Existenz von materiellen und sinnlichen Bedingungen abhängen sollten, doch bestimmt sind, noch mehr als jetzt in dem inneren Reiche der Herrlichkeit und Seligkeit zu leben, ob wir in und mit Gott leben werden. Das Uebernatürliche, das Metaphysische abschneiden, das heisst eigentlich jeden Gedanken an einen Himmel entfernen, alles auf die Erde beschränken.

An dem Buche Reynaud's scheint indess etwas dauern zu sollen: abgesehen von den Gefühlen edler Güte und warmer Milde, durch die er trotz der Bekämpfung dieses und jenes christlichen Dogma's immer dem Geiste des Christentums nahe bleibt, ist es der allgemeine Gedanke, dass ebenso wie die übrige Welt die menschliche Seele, oder besser jede Seele in Bewegung, in Fortschritt begriffen ist, und von dem tiefen Dunkel des embryonalen Daseins an gerechnet sich trotz tausend zufälliger Irrungen beständig an Gott annähert. Diesen Gedanken, den jeder Fortschritt der Wissenschaft bestätigt, wird vielleicht die Theologie selbst eines Tages annehmen. Der, durch welchen die »frohe Botschaft«, die andere auf einen Winkel des Universums beschränken wollten, eine Botschaft für die ganze Erde wurde, hat gesagt: »Jede Kreatur seufzt nach dem Herrn«. Und wenn es wahr ist, was er ebenfalls gesagt hat, dass der Geist des Herrn selbst in uns betet mit unaussprechlichem Seufzen, muss es dann nicht ein Sehnen nach dem Herrn geben, welches nicht früher oder später erhört wird.


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