Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.
Littré.

Littré folgte, wie wir gesehen haben, Comte in der zweiten Hälfte seiner Entwickelung nicht mehr; er wollte auf dem Punkte stehen bleiben, welchen dieser überschritten hatte, und noch strenger als Mill die Begriffe des einfachen Positivismus festhalten. Auch ihm gelang es jedoch nicht, sich an dieselben zu binden.

Wir sehen, dass Spencer, obwohl er die berühmte Lehre des Positivismus, dass wir nur Relatives erkennen, predigt, doch über dieses Relative hinaus eine absolute Existenz annimmt, von der wir zwar keine wahre Erkenntnis, aber doch wenigstens eine dunkle Vorstellung haben; ein Gedanke, durch den er beinahe auf die Anschauungen der schottischen Schule, Kants und der Eklektiker zurückkam. Stuart Mill macht in seinem 1865 erschienenen Buche »Aug. Comte und der Positivismus« Comte einen Vorwurf daraus, dass er, statt sich allein an die Erfahrung zu halten, wie es der Positivismus vorschreibt, dieselbe durch eine verneinende Behauptung überschreitet, da er jede Vorstellung eines Anfanges der Dinge und einer schöpferischen Ursache für unmöglich erklärt. S. Mill möchte, dass man sich zwar beim Studium der Welt an die positive Methode hält und die Natur nur als ein Gewebe von Erscheinungen betrachtet, die einander folgen und sich begleiten, daneben aber irgend ein übernatürliches Princip als ein Antecedens des Universums, von dem das Weltganze die Wirkung wäre, zulässt; man soll ferner es für möglich halten, dass dieses Princip eine Intelligenz ist; mit einem Worte: man soll, wenn nicht die Wirklichkeit so doch die Möglichkeit Gottes zugeben. Der zweite Vorwurf, den Mill gegen Comte erhebt, besteht darin, dass dieser niemals eine Psychologie unabhängig von der Physiologie habe zulassen wollen, kein direktes Studium der Gefühle, Gedanken und Willensregungen, die die positivistische Schule mit dem der deutschen Philosophie entlehnten Ausdrucke, in der Regel als »Subjektives Gebiet« bezeichnet.

Littré schliesst sich keinem dieser beiden Einwände an. Auf den ersten antwortete er (Revue des Deux Mondes 1866), dass man bei Annahme der Principien des Positivismus die Frage der Existenz einer schöpferischen Ursache, einer schaffenden und leitenden Intelligenz, eines Gottes oder einer Vorsehung nicht mehr als eine offene betrachten könne, wie Mill meinte, in Betreff des zweiten räumt er zwar ein, dass die subjektiven Erscheinungen Gegenstand eines direkten Studiums sein und den Stoff für besondere Wissenschaften bilden können: nur hält er daran fest, dass es Erscheinungen des Gehirns sind, welche demnach in das Bereich der Physiologie fallen. Aber auf Grund des Umstandes schon, dass die subjektiven Erscheinungen als solche Gegenstand einer besonderen Erkenntnisweise des sogenannten Selbstbewusstseins sind, leuchtet ein, dass sie nicht ihrem ganzen Wesen nach Modifikationen des Gehirns sind, welche durch den Gesichts- und Tastsinn erkannt werden, sondern dass diese nur die Bedingungen für dieselben bilden. Thatsachen aber gänzlich durch das erklären, was nur ihre Bedingung ist, heisst das Höhere durch das Niedere erklären; das heisst aber nach der tiefsinnigen Anschauung Comte's, eine nur materielle also ungenügende Erklärung geben, welche Ansicht man übrigens auch über die Materie haben mag und selbst, wenn man den Begriff derselben nicht gelten lässt.

Sind nun der Atheismus und der Materialismus die ganze Weisheit Littré's, wie man gesagt hat?

Wir haben gesehen, dass der Begründer des Positivismus dem Organismus und dem Leben gegenüber in mehr oder weniger deutlichen Ausdrücken die Realität des Begriffes der Ursache und zwar der Zweckursache anerkannte. Littré hat in anderen Ausdrücken dasselbe Zugeständnis gemacht.

Es ist seit Epikur die übliche Behauptung der Materialisten, dass die Flügel nicht gemacht worden sind des Fliegens wegen, wie die annehmen, welche in der Natur Zeichen von Zweckmässigkeit finden, sondern dass die Vögel fliegen, weil sie Flügel haben; mit anderen Worten, dass nicht die Funktionen die Organe, sondern umgekehrt die Organe die Funktionen erklären. Littré gehörte einst zu denen, die nicht zugeben, dass die Organe für die Funktionen gemacht sind, und er hatte in der Revue des Deux Mondes einen Aufsatz ausdrücklich gegen die Lehre von den Zweckursachen geschrieben. Zu dieser Zeit war er noch nicht Anhänger der positivistischen Philosophie. Diese konnte seine Abneigung gegen eine Lehre, deren Umsturz die erste Handlung des Positivismus gewesen war, zunächst nur verstärken. In der Folge kam er, vielleicht beeinflusst durch einige der späteren Ideen Comte's, vielleicht auch in Folge eigenen Nachdenkens, auf einen anderen Standpunkt, indem er dasjenige unserer Organe näher betrachtete, welches durch die Zusammengesetztheit und die gleichzeitige Einheitlichkeit seines Baues den Teleologen stets die meisten Beweisgründe lieferte, das Auge nämlich, erkannte er, dass in diesem Organe eine unbestreitbare Anpassung einer Mehrzahl von Mitteln an einen Zweck vorliege. Eine ähnliche mehr oder minder deutliche erkannte er im ganzen Organismus an; und die Lehre der allgemeinen Zweckmässigkeit, die er einst bekämpfte, wurde jetzt die seinige.

Indem er dieselbe jedoch annahm, gedachte Littré dem Positivismus nicht untreu zu sein, wie Paul Janet ihm in seiner »Krisis der Philosophie« (1865) vorgeworfen hat. Ich wäre es, sagt Littré, wenn ich die Zusammenstimmung der Mittel zum Zwecke durch eine Seele oder eine Vorsehung oder durch eine allgemeine Eigenschaft der Materie erklärte; aber sagen, dass die organisierte Materie nach Zwecken eingerichtet ist, heisst eine Thatsache aussprechen, ohne nach ihrem Grunde zu forschen, heisst sich an die unmittelbare Erscheinung halten. »Man kannte die Thatsachen, sagt Littré, dass das lebende Gewebe die Eigenschaft des Wachstums, das Muskelgewebe diejenige der Zusammenziehbarkeit hat: es ist eine noch weiter hinzuzufügende Thatsache, dass die organisierte Materie die Eigenschaft hat, sich nach Zwecken zu gestalten«. – Man kann jedoch bemerken, dass, wenn die Zusammenziehung der Muskeln, das Wachstum der Organe durch die Sinne bezeugte Thatsachen der Erfahrung sind, es doch mit der Zusammenstimmung materieller Teile zu einem Zwecke nicht ebenso steht. Die Sinne bezeugen uns, dass diese und jene Organe diese oder jene Form oder Lage annehmen; dass dies aber zu einem Zwecke geschieht, ist ein Urteil unseres Verstandes und dieses Urteil setzt voraus, dass in unserem Körper ein wenn auch noch so dunkles Gefühl eines Zweckes seiner Bewegungen vorhanden ist. »Zu einem Zwecke wirken« und »einen Zweck verfolgen« sind gleichbedeutende Ausdrücke; wenn man also sagt, wie Littré in seiner Vorrede zu dem Buche von Leblais, dass die Organe gerade entstehen, wie durch eine Anpassung der organisierten Natur an Zwecke oder nach einer solchen, so schreibt man der lebenden Natur Absichts-Bewegungen zu, man räumt, ein, dass das Leben ein Denken in sich begreift.

Ohne Zweifel ist diese, nach dem Ausdrucke von Leibniz und Cudworth, in die Materie eingetauchte Intelligenz sich nicht selbst genug; ist sie auch vielleicht die zureichende Ursache der Lebenserscheinungen, so muss man für dieselbe doch mit den Metaphysikern und besonders mit Aristoteles eine höhere Ursache in einer vollbewussten Intelligenz annehmen. Nach dem Ausdrucke, den ein junger Lehrer (Lachelier), der später mit dem philosophischen Unterrichte in der Ecole normale betraut wurde, in einer Vorlesung über die Beweise des Daseins Gottes anwandte, muss man sagen, dass die Natur gewissermassen ein Denken ohne Bewusstsein ist, welches einem Denken mit Bewusstsein untergeordnet ist. Aber ohne soweit zu gehen, oder auch nur soweit als Comte, so bedeutet das Zugeständnis, dass nichts in der lebenden Natur sich ohne den Zweck, also ohne ein Denken begreifen lässt, doch schon eine bedeutende Abweichung von dem Grundgedanken des Positivismus; es bedeutet die Wiedereinführung, wenn auch noch nicht in alle Rechte, desjenigen höheren Elementes, welches der Positivismus unterdrückte, statt den Begriff desselben zu studieren und zu vertiefen.

Es ist kaum zu glauben, dass der gelehrte Littré in der Richtung, in welcher ihm der Mann voranging, welchen er für seinen Lehrer erklärt, nicht weiter fortgeschritten ist; eine Richtung, in welcher die bedeutendsten der anderen Schüler des Meisters gefolgt sind, und in der Littré selbst einen so bedeutsamen Schritt gethan hat.


 << zurück weiter >>