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XXIX.
Untersuchungen über Irrsinn und Verantwortlichkeit.

Der Irrsinn ist der Gegenstand fast ebenso zahlreicher Schriften und nicht weniger lebhafter Diskussionen gewesen als die allgemeine Frage nach den Beziehungen des Geistigen und Physischen; und zwar hauptsächlich der Zusammenhang des Irrsinns mit der moralischen und juristischen Verantwortlichkeit.

Die Mehrzahl der Werke, welche über diesen Gegenstand handeln, sind von Physiologen ausgegangen, welche sich zu zeigen bemüht haben, dass das Denken eine Funktion des Gehirns ist, dass also der Irrsinn eine durch irgend eine materielle Verletzung bedingte Störung dieser Funktion ist, und dass also ein Irrsinniger nicht verantwortlich gemacht werden kann. Man könnte hinzusetzen, dass nach diesem System, in welchem alle Spontaneität durch einen blossen Mechanismus ersetzt ist, die sogenannten vernünftigen Leute ebenso wenig frei und verantwortlich und im Grunde ebenso wenig vernünftig sind, als die Irren.

A. Lemoine hat in seinem Buche: »Der Irre vor der Wissenschaft und in der Gesellschaft« eine entgegengesetzte These verfochten. Indem er ein vom Körper gänzlich unabhängiges Princip des Denkens anerkennt, will er nicht zugeben, dass der Irrsinn dies Princip betreffe; er gibt nicht zu, dass die Seele krank sein kann; er möchte lieber mit den Stoikern sagen, dass der Weise vom Wein ergriffen, aber niemals trunken sein kann. Er gibt zu, dass im Irrsinn das Empfindungsvermögen verwirrt und die Phantasie durch leere Phantome gestört ist; aber neben der Störung der Phantasie und der Sinne besteht nach seiner Meinung im Wahnsinn so gut wie im Traume die Vernunft weiter, und man sieht beim Irrsinnigen, wie sie die falschen Daten, welche die kranken Sinne und die kranke Phantasie liefern, aufs bestmögliche verwertet. Lemoine kommt also mit den Materialisten, deren erklärter Gegner er sonst ist, darin überein, dass er den Ursprung des Wahnsinns in Beschädigungen des Nervensystems sucht, Man wird einwenden, dass der Wahnsinn oft aus lediglich seelischen Ursachen hervorzugehen scheint; aber das kommt nach seiner Angabe daher, dass diese Ursachen eine Störung im Gehirn hervorbringen, welche auf die Sinne und die Phantasie zurückwirkt; die Vernunft könne jedoch weder ursprünglich, noch in sekundärer Weise betroffen werden.

Könnte man dann aber nicht sagen, dass, wenn nach dem System des Materialismus die sogenannten Vernünftigen nicht vernünftiger sind als die Irren, nach dem entgegengesetzten System die Wahnsinnigen im Grunde nicht weniger vernünftig sind, als diejenigen, welche den Vorteil für sich haben, unverletzte Sinne und eine gesunde Phantasie zu besitzen?

Locke hatte schon ausgesprochen, dass der Wahnsinnige des Schlussvermögens nicht beraubt ist; dass er nur auf Grund falscher Voraussetzungen schliesst; Leibniz bemerkte dazu, dass ein partiell Irrsinniger richtig von einer falschen Annahme aus schliessen könne, dass aber »ein total Irrsinniger das Urteilsvermögen fast für alle Fälle entbehrt.«

In der That scheint es, und das ist die gewöhnliche Ansicht, dass der Wahnsinn sehr unterschieden ist von einfachen Hallucinationen, die die Wirkung kranker Sinne und einer kranken Phantasie sind, und gegen welche die Vernunft sich wehren kann. Der Wahnsinn scheint vielmehr darin zu bestehen, dass man die Unregelmässigkeiten und Widersprüche, welche in den Hallucinationen liegen, nicht mehr erkennen kann, wie es beim Gebrauch der gesunden Vernunft der Fall ist; es scheint, dass der Wahnsinn eigentlich Vernunftlosigkeit ist. Könnte das seinen Grund aber nicht darin haben, dass, wenn die Vernunft auch an sich niemals krank sein kann, dies doch nicht bei Wesen gilt, welche wie wir an Bedingungen gebunden und so mit einer notwendigen Unvollkommenheit behaftet sind?

Esquirol und nach ihm Moreau haben behauptet, dass der Irrsinn in einer Störung der Aufmerksamkeit besteht. Der Wahnsinn, sagte Baillarger, ist ein geistiges Automatentum; es ist ein Zustand, in welchem der Geist statt sich selbst zu besitzen und zu leiten, das Spielzeug der Phantasien und Ideen ist, die ihn einnehmen; und Durand unterschreibt diese Definition, welche nach seiner Meinung auf die analogen Erscheinungen des Traumes und Instinktes ebenfalls passen würde. Wir haben schon bemerkt, dass Cuvier den Zustand eines vom Instinkte beherrschten und geleiteten Tieres mit dem Zustande des Somnambulismus verglichen hatte. Was nun die Verfassung des Träumenden, verglichen mit derjenigen des Irrsinnigen betrifft, so bietet sie anscheinend den wesentlichen Unterschied dar, dass der Schläfer, seinen Phantasien preisgegeben, kein Mittel der Kontrolle hat, welches dem wachenden seine Wahrnehmungen bieten, während dem Irrsinnigen dies Mittel zur Verfügung steht, nur dass ihm die Fähigkeit es zu gebrauchen fehlt. Worin besteht also diese Fähigkeit? Sie mit Esquirol und Moreau in der Aufmerksamkeit, mit Baillarger und Durand in dem Besitze seiner selbst suchen, heisst sie mit Maine de Biran im Willen suchen. Wenn es jedoch richtig ist, dass die Fähigkeit auf uns selbst zu reflektieren aus der Vernunft entspringt, kann man nicht dasselbe vom Willen sagen? Wenn der Irre »ausser sich selbst« ist, (alienus a se) kommt das nicht daher, dass er ausserhalb dessen ist, was das gemeinsame Centrum für Alle bildet?

Wenn auch die Meinung von Lemoine nicht allgemein anerkannt worden ist, so hat derselbe durch seine geistvollen Analysen dazu beigetragen klar zu machen, dass der Irre selbst in seiner äussersten Unvernunft noch einige Spuren der Vernunft besitzt. Von diesem Lichte, welches jeden in die Welt eintretenden Menschen erleuchtet, bleibt stets ein unauslöschbarer Funke übrig; und darin scheint der Wahnsinn zu bestehen, dass ein falscher Gebrauch von einem Reste von Vernunft gemacht wird, wie es das Zeichen des Blödsinns ist, keinen Gebrauch davon machen zu können.


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