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I.
Einleitung.
Maine de Biran und Ampère.

Um den Zustand, die Bewegung und den Fortschritt der Philosophie unserer Zeit zu erklären, scheint es angemessen, kurz den Ursprung dieser Wissenschaft in Erinnerung zu bringen.

Die Philosophie stammt aus der sehr entlegenen Zeit, als man deutlich erkannte, dass es an den Dingen neben ihren verschiedenen Eigenschaften, mit welchen die einzelnen Wissenschaften zu thun haben, noch Etwas giebt, das eigentlich ihr Wesen und ihren Zusammenhalt bedingt, und das von einer einzigen Wissenschaft allgemein untersucht wird. Die höhere Philosophie ist von jenem immer noch sehr entlegenen, aber doch späteren Zeitpunkte an zu datiren, als man einsah, dass zur Erklärung jenes Wesens und Zusammenhaltes der Begriff der Materie als Desjenigen, woraus die Dinge bestehen, nicht genügt, sondern dass noch ein Element anzunehmen ist, welches der Materie eine Form, eine bestimmte Existenzweise verleiht. Dies Element glaubte der Genius der Griechen bei seiner Empfänglichkeit für Ordnung, Mass und Harmonie anfänglich in der Zahl zu finden. Das hiess jedoch, statt in den Kern der Dinge, in das Princip ihres Seins eindringen, sich gewissermassen an der äusseren Gestalt genügen lassen, in welcher dieselben uns erscheinen.

Es war dies der Charakter der pythagoreischen und platonischen Philosophie, ingleichen auch der der Kunst der Zeitgenossen des Plato, des Sophokles und Phidias, welche, erhaben wie diese Philosophie, doch mehr epische als dramatische Formen, mehr Harmonie als Leben zeigte.

Etwas später, zu der Zeit als Menander, Praxiteles und Apelles in ihren Schöpfungen bis dahin ungekannte Mächte des Lebens und der Seele auszudrücken begannen, bemerkte ein aufmerksamer Beobachter alles Wirklichen im Gebiete der Natur wie des Geistes, Aristoteles, dass alles, was ist, sein Wesen und seine Einheit aus einer Bewegung und gewissermassen einem Leben gewinnt, welches alle Teile verknüpft, indem es sie bis zum Grunde durchdringt. Er erkannte, dass die Qualitäten, die Relationen, diese Arten, wie sich die Objekte unserem Verstande darstellen, und welche seine Vorgänger für ausreichend zur Erklärung gehalten hatten, nur an einem anderen existiren können, was an sich selbst besteht und das eigentlich Seiende, die Substanz darstellt. Damit fand der Urheber der »Kategorien« die grosse Unterscheidung zwischen dem, was an sich selbst existirt, und dem, was nur an einem anderen Selbständigen besteht. – Ferner sah er, dass in Betreff der Kategorie der Substanz man einerseits die virtuelle oder mögliche Existenz, welche sozusagen nur ein Anfang des Existirens ist, und andrerseits die aktuelle Existenz, der nichts mehr hinzuzusetzen ist, welche ein Abgeschlossenes und Vollkommenes bezeichnet, unterscheiden müsse; er erkannte, dass dem Aktuellen allein die Bezeichnung als Substanz streng genommen zukomme. Endlich begriff er, was dem Plato übrigens nicht entgangen war, dass die vollkommene Aktualität diejenige des Denkens sei, von welcher also die gesamte Natur abhängig sei, und welche allein zu allem ausreicht und sich selbst genügt. Er bestimmte so den Gegenstand der »Metaphysik«, der Wissenschaft von den Bedingungen des Natürlichen und stellte ihn auf eine Höhe, die weder die Physik noch die Logik allein erreichen können, über die materielle Wirklichkeit und die Abstraktionen, durch die unser Denken sie beurtheilt.

Jedoch war mit Aristoteles die Metaphysik erst an ihrem Anfange. Die Kunst des Praxiteles und Apelles, obwohl sie der Wirklichkeit nahe kam, erreichte sie doch noch nicht. Ebenso blieb die Wissenschaft des Vaters der Metaphysik sehr oft bei Begriffen stehen, welche, obwohl der Wirklichkeit näher stehend als die Zahlen des Pythagoras und die Ideen des Plato, doch immer noch sehr weit von ihr entfernt blieben. Was soll man unter seiner »Entelechie« oder unter der »Aktualität« verstehen, die doch alles erklären sollen? Was bedeutet diese Definition des Lichtes, dass es die Aktualität des Durchscheinenden ist; die des Tones, dass er die gemeinsame Aktualität der bewegten Luft und des Gehörs ist?

Der Stoicismus setzte an die Stelle dieser so dunklen »Aktualität« im Gegensatz zu der »Trägheit« des epikureischen Materialismus »das Streben«, einen Begriff, in welchem die Bewegung und der sie hervorbringende Akt verbunden sind, und der also insofern dunkler ist als der Begriff des Aktes selbst, aber andrerseits durch die eingeschlossene Vorstellung der Anstrengung sich dem Begriffe nähert, welcher das Streben, die Anstrengung und den Akt erklärt: dem des Wollens. Nach dem Stoicismus wurde die griechische Wissenschaft und Kunst alt und mehr und mehr unfruchtbar, bis das Christenthum erschien, welches über dem physischen und selbst dem intellektuellen Leben ein sittliches Leben enthüllte, welches jene mit seinem Lichte erleuchten und mit seiner Kraft durchdringen sollte.

Dies waren die Elemente, welche das Altertum dem Mittelalter hinterliess. Dieses selbst, ein Zeitraum der Erneuerung und folglich in vielen Beziehungen der Kindheit und Schwäche, welcher überdies vom Altertum nur Trümmer besass, konnte in der Wissenschaft nicht viel weiter kommen als dieses. Geneigt ausserdem sich wie das Alterthum an einer Erklärung der Thatsachen durch ausserordentliche Thätigkeiten ohne bestimmte Bedingungen genügen zu lassen, sah es überall Kräfte, ähnlich denen, die wir in uns beobachten, mit denen man leicht, ohne sich mit Beobachtungen und Experimenten zu bemühen, von allen Naturerscheinungen Rechenschaft ablegen konnte.

Indes konnte man in Anbetracht der Regelmässigkeit, mit welcher bestimmte physische Wirkungen an bestimmte Umstände geknüpft sind, nicht daran denken ihre unmittelbaren Ursachen mit Vernunft und Freiheit auszurüsten. Man machte sich also eine verschwommene Vorstellung von denselben, ähnlich der, welche man sich noch häufig genug von den Kräften macht, nach der dieselben weder Materie noch Geist sind, sondern ein Mittelding zwischen beiden. Mit diesen geheimnissvollen »verborgenen Qualitäten,« welche ohne erkennbare Vermittelung wirken, den »substanziellen Formen,« welche selbständig schöpferisch wirken, glaubte die Scholastik alles zu erklären und erklärte Nichts. Von ihren vermeintlichen Ursachen blieb nach Abzug alles dessen, was nach Analogie mit einer absichtlichen Thätigkeit angenommen war, nichts übrig als ein allgemeiner Ausdruck der Phänomene selbst, ein logisches Zeichen; an Stelle der Lösungen von Problemen nur abstrakte Ausdrücke derselben. Indem sie so oft die »Schale des Wortes für den Kern der Sache nahm« (Leibniz), kam sie zuletzt auf jene Kunst des Raimund Lullus, welcher, indem er Ausdrücke der Wirklichkeiten als Stellvertreter dieser selbst nahm, von allem zu sprechen lehrte, ohne etwas zu wissen. Diese Kunst nannte ihr Erfinder die »Grosse Kunst«, nämlich eine Kunst der Verwandlung, in welcher die ebenso ehrgeizige als ohnmächtige Wissenschaft der Zeit die allgemeine Alchemie suchte, die aus allem alles machen sollte: leere Versprechungen einer Logik, die die Dinge in den Worten fesseln wollte! Leonardo da Vinci, der grosse Begründer des modernen Denkens, der Freund der Natur und Wirklichkeit sagte deshalb, dass die geistigen Wissenschaften trügerisch wären (le bugiarde scienze mentali).

Unter dem Schwall der Worte und Formeln liessen sich jedoch auch Dinge finden; unter dem scholastischen Schutt war Gold verborgen. In den vielen leeren Sätzen steckte auch ein gewisser Scharfsinn; aber die Zeit war nicht gekommen, dass derselbe bemerklich werden konnte.

Es erschien Descartes, bei dem mit der Schulgelehrsamkeit sich Welterfahrung und die Freiheit eines Geistes verbanden, den lange Reisen in viele Länder und der Umgang mit vielerlei Menschen von allen Vorurteilen befreit hatten. Mit einem von den Phantomen der Scholastik befreiten Geiste sah er die Wirklichkeit unverhüllt. Aus der Verwirrung nichtssagender Formeln heraus gelang es ihm, Hauptgrenzlinien zu ziehen, eine grosse Unterscheidung zu machen: zwischen dem einfachen und einheitlichen Denken, welches wir in uns deutlich erkennen, und der vielfältigen, zerstreuten Wirklichkeit der Körperlichkeit oder des Ausgedehnten, die wir ausser uns klar wahrnehmen. Die Philosophie, welche solange in der Luft zwischen Fiktionen schwebte, fasst jetzt festen Fuss und wird sachlich; sie ist nicht mehr blos eine Wissenschaft des logischen Denkens, sondern der Thatsachen, des Experiments.

Im allgemeinen hatte man geglaubt, dass die Erfahrung es nur mit den besonderen und begrenzten physischen Verhältnissen zu thun habe: jetzt bemerkte man, dass der Geist sich selbst wahrnimmt, und dass er dabei ohne einen umständlichen Aufbau von Syllogismen in einem unmittelbaren und hellen Lichte das Princip seiner selbst und des Ganzen entdeckt: ausser ihm reell und greifbar die Körper, im Innern die Seele, welche sich selbst erfasst, und in der Seele ungetrennt von ihr Gott, der noch reeller ist und mit dem man gewissermassen ganz nahe sich berührt. Dieser doppelte Realismus, so ganz entgegengesetzt dem was man den Realismus des Mittelalters und eines grossen Teils des Altertums nennen kann, war die Grundlage des cartesianischen Systems.

Das ist nicht Alles; in dem Denken, von welchem uns die Reflexion unmittelbar Kenntniss giebt, unterscheidet Cartesius die passive Intelligenz und den wesentlich aktiven Willen; während die Intelligenz immer bestimmt ist, ist der Wille, wie er bemerkt, ganz ungehindert, unendlich frei. Hiernach führt er im Anschluss an das Christenthum als ein Attribut des höheren Princips, welches sich im Denken äussert, die Unendlichkeit ein; die Unendlichkeit wird jetzt zum Wesen der Seele und umsomehr zu dem Gottes gemacht; die Unendlichkeit, welche in dem vollendeten und absoluten Willen liegt. Man dürfe sich, sagte Cartesius, die Gottheit nicht so denken, als ob sie ihre Entschlüsse nach den Angaben ihrer Intelligenz einrichte, das hiesse den antiken Jupiter wieder einführen, der dem Schicksal unterworfen ist; man müsse annehmen, dass jede göttliche Thätigkeit aus einem unendlich freien Willen als aus ihrem einzigen Principe entspringe.

Pascal sah mit seinem tiefen Blick das Unendliche in allem; er sah die göttliche Unendlichkeit sich sowohl in der Unermesslichkeit, ihrem Abbilde, bekunden, als in der Kleinheit, welche von Teilung zu Teilung bis zum Nichts herabgeht: zwei Unendlichkeiten, zwischen denen wir eingeschlossen sind. Ueberdem wies der Autor der Pensées mit dem Christentum als den Grundquell des Willens etwas nach, das sowohl über die Körper als die Geister hinausreichte: die Liebe, sagte er, ist von andrer Ordnung und übernatürlich.

In diesem Princip des Unendlichen, welches Descartes entwickelte und Pascal verallgemeinerte, entdeckte Leibniz das Princip aller Wissenschaft. Es besteht in den Dingen eine noch allgemeinere Ordnung, als Descartes sie sah, und eine noch regelmässigere als Pascal sich dachte, auf die aber ihre Principien führen; alles ist in Proportion, Analogie und Harmonie. Alles hängt zusammen in einer Verkettung, die nichts unterbricht: das ist das Gesetz der Continuität, nach dem gewisse cartesianische Regeln der Bewegung, weil sie einen Mangel an Einheit in der Natur bekunden würden, aufgehoben und verbessert werden müssen. Das Gesetz der Continuität eröffnet einerseits in der Mathematik der Infinitesimalrechnung den Weg, welche darauf sich gründet, dass, wenn dieselben Verhältnisse bei allen Werten bestehen, man sie bis in Unendlich-Kleine verfolgen kann; andrerseits lässt es die Natur sich nach jeder Richtung fortsetzen, nicht sowohl bis zu unendlicher Grösse und Kleinheit, welche physisch und numerisch undenkbar sind, aber bis zu einer über jeden bestimmten Wert gehenden Grösse und Kleinheit.

Ausserdem setzte Leibniz noch die Thatsache in ein helleres Licht als Descartes, dass, da die endlichen und relativen Existenzen dies sind durch ein in ihnen inbegriffenes materielles Element, wahrhaft unendlich, absolut nur das ganz aktive Wesen, der Geist ist.

Kant, welcher die Ideen des Descartes, Leibniz und Pascal noch weiter vertiefte, zeigte besser, als irgend ein anderer es je gethan hat, in dem freien Willen ein Princip auf, welches gänzlich unabhängig von der Verkettung der Erscheinungen ist, ein Princip, welches allein, nach ihm, ausserhalb der Bedingungen der materiellen Existenz steht, von denen die Intelligenz selbst ihm nicht ganz unabhängig zu sein schien. Ueberzeugt, dass die ganze Erfahrung den Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist, hielt er die Freiheit nicht für ein Objekt der Erfahrung; er glaubte, dass man sie nur als notwendige Consequenz aus dem Gesetz der Pflicht ableiten könne, welches das Können voraussetzt. Wie dem auch sei, keiner erkannte besser den ganz besonderen Vorzug des Willens, keiner that mehr, um zum Verständniss zu bringen, dass das Unendliche, das Vollendete, das Absolute in der intelligibelen Freiheit liegt, und dass der Grund der Dinge das moralische Princip ist.

Bevor sich die Philosophie jedoch endgültig auf die tiefe Grundlage des Unendlichen oder Absoluten stellte … musste sie, von dem Stande an gerechnet, auf welchen sie Descartes gebracht hatte, noch mehr als eine Läuterung durchmachen.

Descartes hatte die abstrakten Wesenheiten, mit denen die Scholastik die verschiedenen Phänomene erklärte, entfernt; es schien, als ob er hinter den beiden grossen Thatsachen der Ausdehnung und des Denkens noch etwas von diesen selbst Verschiedenes, Substanzen bestehen gelassen hätte. Konnte nun eine Substanz ohne Rücksicht auf die Art ihres Seins von einer anderen unterschieden werden? Die ausgedehnte und die denkende Substanz können, so sagte Spinoza, nur eine Sache sein, und es giebt unter verschiedenen Attributen nur eine Substanz. Aber, so sagte bald Berkeley, eine Substanz unterschieden von jeder Art des Seins ist nichts. Substanz, Kraft, Ursache und hauptsächlich das Sein sind mangelhafte Begriffe, Reste der Scholastik. Sein heisst dies oder das sein; das einfache Sein bedeutet nichts sein. Zweitens existirt nichts für uns als unsere Vorstellungen. Wenn man also fragt, was das Existiren bedeutet, wird man finden, dass es heisst vorgestellt werden, in einem Geiste als Gedachtes existiren. Kurz unsere Grundvorstellungen sind die sinnlichen. Sie kommen aber nicht von uns; wir machen sie nicht nach Belieben, es ist also ein anderer Geist, welcher sie in dem unsrigen erzeugt. Ein höherer Geist, mit einem Worte Gott liefert unserem Geiste seine ersten Vorstellungen; auf diesem Grunde, welcher die gesamte Wirklichkeit darstellt, schafft unser Geist durch Vergleichungen, Abstraktionen, Generalisationen, die Vielheit von Beziehungen, welche er dann oft für die Wirklichkeit hält.

Berkeley wollte so die Annahme einer ausserhalb eines jeden Geistes als nicht wahrnehmbarer Träger sinnlicher Eigenschaften vorhandenen Substanz umstürzen, einer Substanz, welche nach seiner Meinung der Materialismus statt Gottes zum Idol macht. Für den Grundstein des Materialismus hielt er die Annahme einer geistlosen, nicht denkenden und doch selbständig existirenden Substanz, aus der man dann alles mit einer jede Freiheit also auch die Moralität ausschliessenden Notwendigkeit hervorgehen liesse. Wäre dieser Grundstein weggenommen, so würde das ganze Gebäude der Gottlosigkeit einstürzen. Er wollte nun umsomehr die denkenden Wesen des Descartes festhalten, also die endlichen Geister und den unendlichen Geist, welcher sie erleuchtet; bahnte jedoch gleichzeitig wider seinen Willen dem Skepticismus den Weg, welcher auch diese beseitigt.

Descartes hatte drei Arten Ideen unterschieden, die aufgenommenen, welche uns von aussen durch die Sinne kommen, die gemachten, welche wir durch Bearbeitung der ersteren hervorbringen, und die angeborenen, welche der Geist im Bewusstsein seiner selbst findet. Malebranche gab schon nicht mehr zu, dass die Seele eine Idee von sich hätte; er schrieb ihr nur ein Gefühl zu. Locke hatte wohl gemerkt, dass es ausser den Wahrnehmungen in uns eine Reflexion gäbe, durch welche wir sowohl von jenen selbst als von unseren geistigen Thätigkeiten ein Bewusstsein haben; aber er hatte in ihr, wie Leibniz ihm vorwarf, keine selbständige Quelle von Erkenntnissen gesehen. Berkeley erkannte wenigstens in seinen ersten Schriften, welche dem Treatise on human nature von Hume vorangingen, als eigentliche Vorstellungen nur die sinnlichen an; von den Thätigkeiten unseres Geistes und von unserem Geiste selbst hätten wir, so dachte er damals, eine dunkle und trübe Auffassung, für die er die Bezeichnung Begriff (notion statt idea) vorschlug.

Hume ging einen grossen Schritt weiter. Die von B. geschonten immateriellen Substanzen unterdrückte er; und in der That, wenn man von dem Geiste nur eine so schwache und dunkle Erkenntniss hätte, sei denn das noch eine Kenntniss? Sei es nicht vielmehr ein letztes Vorurtheil, eine letzte Einbildung? – Es ist nach Hume eine der grössten Entdeckungen, mit denen die Wissenschaft bereichert worden ist, dass den abstrakten und allgemeinen Vorstellungen nichts Wirkliches entspricht; es bleiben nur die Consequenzen daraus zu ziehen. Berkeley hatte zugestanden, dass die eigentlichen Erkenntnisse die sinnlichen wären; geht man in der Analyse weiter, sagt Hume, so findet man, dass unsere Erkenntnisse in zwei Elemente zerfallen: die eigentliche Empfindung (impression) und die Vorstellung (idea), welche nur die von der Empfindung zurückgelassene Spur ist, die abgeschwächte und fortdauernde Empfindung. Zuerst Eindrücke, dann Vorstellungen als ihre Copien, das ist alles, was für uns existirt. Mehr vorauszusetzen, sei es ausser uns, sei es in uns, Substanzen, Ursachen oder Kräfte, ist reine Einbildung.

Berkeley hatte schon gezeigt, dass wir durch die Sinne, die einzige Quelle unserer Vorstellungen, nichts dergleichen wie eine Ursache wahrnehmen; dass wir Thatsachen beobachten, aber kein Band, welches sie verknüpft, keine Kraft, welche sie aneinander kettet. Die Natur besteht nur aus Phänomenen, welche sich mit einer gewissen Gleichförmigkeit begleiten, Akten des höchsten Geistes, welche von einander unabhängig sind, und deren Ordnung er nach Belieben geregelt hat. In uns jedoch schien Berkeley eine Causalität anzunehmen. Nach Hume giebt es weder ausser uns noch in uns eine solche. Alle Vorstellungen entstehen aus Eindrücken; aus welchem Eindruck aber sollte diejenige einer Ursache stammen? In uns wie ausser uns zeigt uns die Erfahrung gewisse Thatsachen, welche einander begleiten; gewöhnt sie verbunden zu sehen, wird es uns schwer, sie zu trennen, sie erscheinen uns jetzt notwendig verknüpft: das meinen wir, wenn wir sagen, dass sie Ursachen von einander sind. Ausser uns wie in uns giebt es aber keine notwendige Verknüpfung, keine Ursachen, keine Gründe. Wenn wir aber keine Ursachen im Felde der Erfahrung antreffen, so erst recht keine Substanzen, alles reduzirt sich auf Eindrücke und Ideen, welche sich in uns folgen. Man stelle sich, wenn man die Welt Hume's sich denken will, Eindrücke und Ideen vor, die nach einander wie in der Luft oder im leeren Raume schweben.

Indem man mit Aufgebung alles Eingebildeten und Gemachten sich an das Reelle der Erfahrung, an die positiven Thatsachen halten wollte, fand man sich so zuletzt auf blosse mannigfaltige und zerstreute Phänomene beschränkt; das war in neuer Form die Lehre der Sophisten und Epikureer, welche man die Lehre der allgemeinen Auflösung nennen könnte.

Der Theorie Hume's setzte Reid, ohne von den Widersprüchen derselben zu sprechen, die Ueberzeugungen entgegen, die wir von Natur haben, und von denen eine solche Erklärung der Vorstellungen keine Rechenschaft giebt, Ueberzeugungen, auf Grund deren uns die ausser dem Bereich des Sinnlichen liegenden höheren Realitäten garantirt sind, welche den Gegenstand der Metaphysik bilden. Die Leistung Reid's und seiner Schule bestand darin, über der sinnlichen Ordnung der Dinge die intellektuelle und moralische Ordnung wieder aufzurichten, aber ohne irgend einen Zusammenhang zwischen dem Höheren und Niederen zu zeigen.

Kant begnügte sich nicht, zur Widerlegung Hume's zu zeigen, dass es in uns Begriffe giebt, welche die Wahrnehmung nicht erklärt. Er zeigte, dass diese Begriffe die Formen sind, durch welche allein das Material der Erfahrung Zusammenhang und Gestalt gewinnt, und dass sie also notwendige Bedingungen der Wahrnehmung sind. Was diese Formen selbst betrifft, so sind sie verschiedene Aeusserungen einer Thätigkeit, welche eben das Erkennen ausmacht, einer Thätigkeit, durch die wir den mannigfaltigen und zerstreuten Stoff, den die Sinne liefern, in eine Einheit verbinden.

Ist nun diese verbindende Thätigkeit ein Phänomen, wie die anderen? Nein, weil jedes Phänomen des Bewusstseins nur durch sie möglich ist. Der Maxime der Scholastik, welche Hobbes und Locke wiederholten, »dass nichts im Verstande sei, was nicht zuvor in den Sinnen war«, fügte Leibniz hinzu: »ausser die Intelligenz selbst«, und Kant sagte: »In den Sinnen ist der ganze Stoff unserer Erkenntniss, aber die Intelligenz giebt ihr die Form.« Der reine Empirist, so könnte man die Sache erläutern, ist ein Physiolog, welcher die Ernährung nur durch die Nahrungsmittel erklärt und das vergisst, was sie umwandelt, den Magen, oder der die Atmung durch die Luft allein erklärt und die Lungen übersieht.

In Frankreich hatte Condillac, indem er das System Locke's annahm, wie Hume aus diesem System alles entfernt, was seine Consequenz störte, nämlich die Idee der Reflexion oder des Bewusstseins des Geistes von seinen eigenen Thätigkeiten. Wie Hume hatte Condillac gelehrt, dass unsere Erkenntnisse nur umgewandelte Sinnesempfindungen wären. Indes schloss weder er noch sein Hauptschüler Destut de Tracy mit Hume, dass es nichts Anderes für uns gäbe, und dass wir selbst nichts Anderes wären, als Reihen sinnlicher Erscheinungen. Und zwar deshalb, weil unter diesen Reihen von Empfindungen ein Element anfangs dunkel, aber immer deutlicher hervortrat, welches hinter dem veränderlichen Schauspiel der Phänomene etwas von dem Wechsel der Erscheinungen Unabhängiges, Constantes und Absolutes verriet. Dies von der wesentlich passiven und unwillkürlichen Empfindung ganz verschiedene Element war die Selbstthätigkeit, das Wollen.

Wie können wir etwas ausser unseren Empfindungen kennen? Dies ist, sagt Condillac in der zweiten Auflage seines Traité des sensations, eine Aufgabe, die ich in meiner ersten Ausgabe schlecht gelöst hatte. Er erklärt nun, entgegen seinem eigenen System, dass wir durch den Widerstand, den wir erfahren, die Existenz von Körpern ausser uns kennen lernen; aber diese Gegenwirkung von Aussen bringt uns nur unsere eigene Thätigkeit zum Bewusstsein. Das Princip der Bewegung, so äusserte fast gleichzeitig Destut de Tracy, ist der Wille, und der Wille ist die Person, ist der Mensch selbst. In dem Strome der Empfindungen giebt es nur Erscheinung, weder ein Ich noch ein Nicht-Ich; durch das Bewusstsein unseres Wollens erkennen wir zugleich uns selbst und etwas von uns Verschiedenes; daher giebt es über die Empfindungen hinaus eine Innenwelt und eine Aussenwelt. zwei einander entgegengesetzte Wirklichkeiten, welche im Akt der Wechselwirkung sich berühren und durchdringen.

Neben der Passivität der Empfindungen, welche seit Hume alles zu erklären schien, die Aktivität wiederfinden, das hiess unter dem Materiellen den Geist wieder entdecken. Gestärkt durch diese Entdeckung sollte die Philosophie sich bald von der Physik unabhängig machen, durch welche Locke, Hume und Condillac selbst sie erdrückt hatten. Zwei Männer halfen hierzu vorzüglich, Maine de Biran und Ampère.

Die schottischen Philosophen hatten den Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und unseren unmittelbaren Annahmen klargestellt. Kant hatte gezeigt, dass es ausser den Empfindungen in uns noch verschiedene Arten ihrer Verknüpfung oder Synthese giebt, und dass hierdurch erst die Erkenntniss entsteht. Maine de Biran bemerkte, dass die Operation des Erkennens, welche Kant der »Spontaneität des Verstandes« zuschrieb, identisch sei mit der Selbsttätigkeit, der Anstrengung, dem Wollen; das Wollen war es, in dem Condillac und Destut de Tracy uns wieder gefunden hatten. Unsere Erkenntnisse, unsere Gedanken sind also nach Maine de Biran wie die Bewegungen der Glieder die Wirkungen unseres Willens, und ebenso alles, was zu unserem Ich gehört. Durch diesen Willen bringen wir alles, was von uns ausgeht, zum Sein, und in ihm erkennen wir unser eigenes Wesen. Descartes hatte gesagt: ich denke, also bin ich; man kann noch besser sagen: ich will, also bin ich. Wollen heisst in der That nicht bloss eine Erscheinung sein, welche entsteht und in demselben Augenblicke vergeht; in jedem meiner Entschlüsse, bemerkte M. de B., erkenne ich mich als die Ursache, welche der Wirkung vorangeht und sie überdauern wird; ich erkenne mich als ausserhalb der Bewegung, die ich hervorbringe, bestehend und als unabhängig von der Zeit; daher werde ich nicht, sondern ich bin im strengen und absoluten Sinne. Allein von diesem Gesichtspunkte der freien Persönlichkeit, die ausser den Bedingungen der Natur steht, hätte Spinoza sagen können: wir fühlen und erfahren, dass wir unsterblich sind. – Und dies ist, so geht M. de B. weiter, das einzige Muster, nach welchem wir uns Ursachen ausser uns denken; wir denken sie als Aeusserungen eines Wollens. Sein, Wirken, Wollen ist dieselbe Sache mit verschiedenen Namen.

Man wird sehen, welche Folgen diese Gedanken getragen haben.

Zu derselben Zeit, in welcher M. de B. die Grundthatsache auffand, durch welche wir uns selbst als ein ausserhalb des Laufes der Natur stehendes Wesen erkennen, und die uns einsehen lässt, dass jedes wahrhaft Existirende derselben Art ist, alles Uebrige aber, was Raum und selbst die Zeit ausfüllt, nur Erscheinung, beleuchtete ein anderer Denker, der sich später durch bedeutende Entdeckungen in den exakten Wissenschaften auszeichnen sollte, in Briefen und Denkschriften, welche erst kürzlich (1867) veröffentlicht worden sind, einen anderen Theil unserer Natur, welchen Condillac und B. noch im Dunkeln gelassen lassen; nämlich die Fähigkeit zu vergleichen, durch welche wir die einfachen Elemente, die die intuitiven Fähigkeiten uns liefern, in Verhältnisse bringen und so verknüpfen, die Fähigkeit des Schliessens, die Vernunft. Erkennen, so lehrte Kant, ist Verknüpfen; es ist Verknüpfen durch einen Akt, ein Wollen, sagte Biran; es ist Verknüpfen mittelst einer Beziehung fügte Ampère hinzu. Er, der in allen Wissensgebieten so viele Proben wahren Genie's gab, definirte das Genie durch die Fähigkeit Beziehungen zu bemerken. Mancher, so sagte er, erkennt zahlreiche Beziehungen, wo ein andrer keine sieht, und die Fortschritte der Wissenschaften in den letzten Jahrhunderten haben nicht sowohl die Entdeckung neuer Thatsachen zur Ursache als die Kunst, die Beziehungen der Thatsachen zu ihren Gründen und Folgen zu durchschauen. Die Bedeutung der Fähigkeit, Beziehungen zu beobachten ins rechte Licht gestellt zu haben, ist der Anteil, den A. sich selbst an der Erneuerung der Philosophie zuschreibt; M. de B. hatte gewissermassen den Willen entdeckt, A. die Vernunft.

Nur ist zu bemerken, dass M. de B., wenn er sich auch häufig bei der Analyse des Wollens an specielle Erscheinungen hielt, welche dem Ganzen der sinnlichen Erfahrung angehören, doch immer den von den empirischen Bedingungen unabhängigen Kern des Willens betonte; A. ging bei der Analyse der Vernunft nicht soweit. Bei seiner Betrachtung der Beziehungen scheint er nicht versucht zu haben, sie auf einfache Grund-Elemente zurückzuführen, und nicht nachgeforscht, ob die Vernunft, indem sie dieselben bestimmt, sich auf eine Einheit bezieht, welche ihr als Vorbild dient; sonst wäre er vielleicht auf das übersinnliche und wahrhaft metaphysische Princip geführt worden, zu dem das Denken seines Freundes hinleitete. Im Gegentheil; soviel wir nach dem veröffentlichten Teile seiner Schriften urteilen können, glaubte A. jenen vielmehr in seinem Fortschreiten aufhalten und ihn in der Sphäre des phänomenalen und empirischen Bewusstseins festhalten zu sollen; in Bezug auf metaphysische Gegenstände traute er nur dem Räsonnement.

Die drei Elemente Empfindung, Willen und Vernunft, welche durch die drei Psychologen Condillac, Maine de Biran und Ampère studirt worden waren, verknüpfte Royer-Collard zu einer Theorie der Erkenntniss, welche wesentlich von derjenigen der Schotten beeinflusst war und die zur Hauptaufgabe die Rechtfertigung der unmittelbaren Ueberzeugungen des gemeinen Menschenverstandes gegenüber dem Skepticismus, der aus dem strengen Empirismus hervorgegangen war, hatte. Er machte diese Theorie zum Gegenstande einer zwar nur kurzen öffentlichen Lehrthätigkeit, die aber doch der ausschliesslichen Herrschaft der aus den Theorien Condillac's hervorgegangenen Ideologie ein Ende machte. Aus diesem Unterrichte ging diejenige Lehre hervor, welche seitdem fast ausschliesslich auf allen Schulen unseres Landes geherrscht hat, die Lehre, welche der bedeutende Nachfolger Royer-Collards auf dem Lehrstuhl der Geschichte der Philosophie verkündigte und Eklekticismus nannte.


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