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Die Tagesansicht Gustav Theodor Fechners

Ein Naturforscher von anerkannter Größe der Persönlichkeit und der Erfolge, der Gott mit derselben Hingebung sucht, mit der er den Naturgesetzen nachforschte, und mit noch größerer, und der seinen Gottesglauben mit hingebender Offenheit bekennt, ist in Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine so seltne Erscheinung, daß er sich auch aus mächtigern Umgebungen als der seiner Fachgenossen abhöbe, strahlend für einige, dunkel für viele. Er ist überhaupt im Geistesleben dieses Zeitalters und bis in die Gegenwart herein eine seltne Erscheinung. Wenn auch nicht bei allen Völkern eine materialistische, jedes Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Wesen und einer Welt über dem, was greifbar und zeitlich ist, als Schwäche verhöhnende Strömung so mächtig geworden ist wie in Deutschland, so durchdringt doch ein Widerwille, zu glauben, die ganze Kultur, an der das neunzehnte Jahrhundert gebaut hat. Wohl hat es Männer von anerkannten Leistungen in der Naturwissenschaft gegeben, ich nenne nur Karl Ernst von Baer und Louis Agassiz, die sich nicht gescheut haben, in der Natur, die sie so erfolgreich durchforschten, das Werk eines höhern Wesens zu verehren, das ihnen hoch über die Sphäre hinausreichte, wo sich ihre Arbeiten bewegen. Aber so wie Gustav Theodor Fechner hat sich von diesen und ihren Geistesverwandten keiner in das Wesen Gottes und des Jenseits vertieft. Gerade darum kann sich an Fechner eine Weltanschauung anschließen, die Gott in der Welt und die Welt in Gott sieht und zu glauben wagt, ohne das Kleinste von dem aufzugeben, was die Wissenschaft weiß und noch erfahren wird. Diese Weltanschauung ist im Heraufdämmern, ihre Strahlen sind schon in manche Seele gedrungen und werden eines Tages mächtig durch eine Menschheit fluten, die sich nicht auf die Dauer mit der Verneinung von allem zufrieden geben kann, was außer diesem schwachen Menschengeiste ist. Nach vollendeter »Aufklärung« das schwankende Licht unsers eignen Bewußtseins in einer trostlosen Nacht flackern zu sehen, wird doch immer mehreren wie ein törichter Verzicht auf das Beste erscheinen, das wir in der Welt überhaupt haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte Wissenschaft wird in ihrer Unfähigkeit erkannt werden und endlich auch sich selbst erkennen, den Bereich unsers Geistes auch nur von ferne auszufüllen.

Zumal wenn in weitere Kreise die Überzeugung gedrungen sein wird, daß sich diese Wissenschaft über die Weite und Tiefe ihres Werkes gewaltig täuscht, wird man ihren Versuchen entschiedner entgegentreten, alles zu zerstören, was sie nicht begreift. Eine Geologie und eine Biologie, die über die elementarsten Voraussetzungen ihrer eignen Denkarbeit in schweren Irrtümern befangen sind – ich erinnere nur an ihre Unklarheit über die entscheidende Frage der erdgeschichtlichen Perspektive –, hat nicht das Recht, uns über die Stellung des Menschen in der Welt und zu Gott zu belehren. Ihre hochklingenden Erörterungen über Schöpfung, Geist, Stoff, Kraft usw. machen nur allzu oft den Eindruck der Gedanken eines zünftigen Handwerkers, dessen Welt eine dumpfe Werkstatt ist, gegenüber den Werken des künstlerischen Genius. Dieser Schuster mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel, vor der er arbeitet, sei eine Sonne; uns andern seine blöde Kurzsichtigkeit aufdrängen zu wollen, ist Vermessenheit, die man zu lange denkträg ertragen hat.

Manches mag sich nun an Fechners Weltansicht unvollkommen erweisen, einiges kann man schon jetzt als unhaltbar erkennen. In der Hauptsache ist sie ein großartiger Versuch, das uns zugängliche Schöpfungswerk mit Anerkennung und Verwendung alles dessen, was tatsächlich bekannt ist, so nachzudenken und nachzubilden, daß dem Geiste sein Recht gewahrt bleibt, und daß die Lücken des Wissens so ergänzt werden, daß nicht das der Kurzsichtigkeit bequeme Leichtverständliche bevorzugt, sondern alles in dem großen Stil eines Werks ausgedacht wird, in dessen Zusammenhang die ganze Erde selbst nur ein verschwindendes Teilchen ist. Fechner, der Denker und Dichter, dessen Glaubensbedürfnis im tiefsten Herzen erlebt ist, und der aus eignen Erfahrungen seine im höchsten Sinne praktische Auffassung der Religion schöpft, hat in seiner Tagesansicht kein wissenschaftliches System aufbauen, sondern eine Weltanschauung bieten wollen, die vom Erkannten ausgehend die Rätsel des Daseins erhellt und aus dem vollen Verständnisse dessen, was die Menschenseele braucht, wenn sie nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, das Wissens- und Glaubensbedürfnis zugleich zu sättigen unternimmt. Keine neue große Entdeckung, wie wir sie ihm in der Psychophysik verdanken, kein Neubau auf den Trümmern eines niedergerissenen alten will das sein. Die dichterischen, naturbeseelenden Weltbilder vergangner Zeiten werden ausdrücklich als die Vorgänger der Tagesansicht anerkannt, die sich in schroffen Gegensatz überhaupt nur zu einer Geistesrichtung stellt, nämlich zu der Überhebung, die uns verbieten will, zu glauben, wo für sie das Denken mit dem Wissen aufhört.

Fechner hat uns selbst erzählt, wie ihm die Anregung zu der letzten, erschöpfenden Darstellung seiner »Tagesansicht« im Leipziger Rosental aufkeimte, als er von einer Bank, die wir in der Nähe der Stelle denken dürfen, wo sich heute sein Denkmal erhebt, durch eine Lücke im Gebüsch auf die große Wiese hinausschaute, um seine kranken Augen an ihrem Grün zu erquicken. »Die Sonne schien hell und warm, die Blumen schauten bunt und lustig aus dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgenkonzert drangen die Klänge in mein Ohr.« Aus diesen Eindrücken schweiften seine Gedanken zu dem ab, was nach der gewöhnlichen Ansicht hinter ihnen liegt. Nacht und Stille, keine Farbe, die du siehst, kein Ton, an dem du dich erfreust, ist wirklich; die Sonne fängt erst hinter deinem Auge zu leuchten an, draußen vor deinem Bewußtsein sind Farben und Töne nur blinde, stumme Wellenzüge. Aber nie war ihm diese im Widerspruch mit der natürlichen Ansicht der Dinge stehende »Nachtansicht« so unerbaulich und so unwahrscheinlich erschienen als in dieser Stunde. Nicht zum erstenmal regte sich in dieser sonnigen Stunde der Widerspruch gegen die »hadesgleiche Welt« voll Finsternis, über die einige zur Not noch einen Gott setzen, von dem sie aber selbst nicht verstehn, wie er eine solche Welt schaffen konnte; jedenfalls kann er nur fremd und fern über ihr schweben. Aber der Widerspruch regte sich damals mit neuer Triebkraft, verstärkt durch die Forderung des Herzens, auch für sich aus dem Blick in eine helle, sonnige Ferne die Befriedigung der Sehnsucht nach dem Sicheinswissen mit einem Wesen zu gewinnen, das die Leiden und die Freuden aller seiner Geschöpfe zu den seinen hat: »Zwei Herzen, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du, daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird, so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen.« Fechner hatte schon früher in einem Lied von wunderbarer Innigkeit dieser Zuversicht in einer Auslegung des Spruchs im ersten Korintherbrief: »Es sind mancherlei Kräfte, aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allem,« Worte geliehen:

In Gott ruht meine Seele,
Weil Gott lebt, lebe ich,
Denn er allein hat Leben,
Ich kann nicht stehn daneben;
Er kann nicht lassen mich.

Nun führt er aus, wie in dem angeblichen Fortschritt des menschlichen Geistes, der doch nur einseitige Entwicklung ist, Gott, aus der entgötterten Natur heraus und hoch über sie gehoben, angeblich um ihn vor seiner eignen Zersplitterung zu retten, der Welt fern und fremd, und diese Welt ein toter, abdestillierter Rückstand geworden sei. Das ist der Ursprung und Anfang aller Nachtansicht. Die heidnische Vielgötterei, die der Welt ihren Geist und ihr Göttliches im einzelnen ließ, war eine Tagesansicht gewesen, aber freilich eine Ansicht nur von Bruchstücken. Die reifere Tagesansicht, die Fechner bringen wollte, erschließt den Blick über diese Bruchstücke hinaus ins All und will Klarheit über ihr Verhältnis zum All geben, also den Reichtum jener frühern Ansicht in die erhabenste Anschauung aufheben, die heute möglich ist. Sie ist sich klar bewußt, daß auch ihr Ausgangspunkt, die Annahme, daß die sinnliche Erscheinung kein Trugbild sei, sondern über die empfindenden Einzelgeschöpfe hinaus durch die Welt reiche, Hypothese bleiben wird, so gut wie die Annahme der Nachtansicht, daß die Welt finster und stumm zwischen den Einzelgeschöpfen liege. Aber die Tagesansicht ist nicht bloß ein erbaulicherer Glaube, sondern auch ein besserer Boden zu weiten und hohen Entwicklungen positiver Bestimmungen; und hauptsächlich stimmt sie besser mit der natürlichen Auffassung der Dinge überein. Die Tagesansicht bringt uns mit dem Glauben, daß die sinnliche Welt außer uns nicht bloß Schein sei, den höhern Glauben an ein Zugehören unsers bewußten Lebens zu einem allgemeinen, worin es samt der ganzen Welt umschlossen ist. So wie uns unser Körper als ein Teil der Stoffwelt außer uns erscheint, so ist dann unser selbst sich erscheinender Geist Teil des nicht minder selbst sich erscheinenden geistigen Wesens, das zum Weltganzen gehört. Die Einheit des menschlichen Geistes ist dann nur ein untergeordneter Bruchteil der Einheit des göttlichen Geistes. Die Tagesansicht macht uns das schöne Wort zur folgenreichen Wahrheit, daß wir in Gott leben, weben und sind, und er um uns, und daß er um unsre Gedanken weiß, wie wir selbst. Damit ist also unser »Ein- und Untertansein« gegenüber Gott kein äußeres, wie Teil gegen Teil, Stufe gegen Stufe, sondern ein inneres, wie Teil gegen Ganzes, Stufe gegen Treppe. Und dann ist uns auch Gottes Wesen nicht mehr unfaßlich, da wir selbst eine Stufe, eine Probe, ein Hauch davon sind, sondern von den innern Verhältnissen des göttlichen Wesens ist uns unmittelbar etwas zugänglich in unsern eignen innern Verhältnissen. Wir werden nicht Gottes Dasein erschöpfen, wohl aber in der Erkenntnis seiner Daseinsweise und seiner Beziehungen zu uns und zu allen andern Wesen höher aufzusteigen und weiter vorzudringen vermögen durch Verallgemeinerung, Analogie, Abstufung. Und mit diesen Schlüssen werden sich Schlüsse auf unsre jenseitige Daseinsweise ergeben; denn wenn unser jetziges Dasein nur eine untere Stufe unsers in Gott beschlossenen Daseins ist, hat es auch darin seine Fortsetzung zu suchen. Und wenn endlich die ganze Welt über uns hinaus zur göttlich beseelten geworden ist, erweitert sich auch der Kreis und erhebt sich der Stufenbau individuell beseelter Wesen über uns hinaus und hinauf.

Dem Vorwurf, daß sie sich vom sichern Boden der Naturforschung entfernt, wird die Tagesansicht nicht entgehn. Warum soll aber die Durchforschung der materiellen Welt ihre bisherigen sichern Wege verlassen, wenn sie aufhört, sich dem sich darüber aufbauenden Glauben in geistigen Dingen zu widersetzen? Dieser Widerspruch hat nur eine geschichtliche, also vorübergehende Berechtigung in dem alten Streit zwischen Kirche und Wissenschaft, der auf eine Zeit zurückgeht, wo die Priester Gott und die Welt zugleich erklärten, wo die Mythologie einen großen Teil des Gebiets beherrschte, das später die Wissenschaft sich zu eigen gemacht hat. Aber dieser Streit ist nicht notwendig. Die mosaische Schöpfungsgeschichte hat im Grunde nichts mit Religion zu tun, und ob der Leib des Menschen aus dem der Affen hervorgegangen ist, berührt nicht die Meinung, die ich von seiner Seele hege. Läuft nicht alles Wissen in Glauben aus, gerade wo es ins Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Tiefste und Feinste geht? In Glauben fortsetzen muß sich jedes Wissen um das, was ist. Wenn wir bedenken, wie die Allgemeingiltigkeit aller Naturgesetze nur aus der Erfahrung abstrahiert ist und keineswegs als notwendig erwiesen werden kann, so können wir weder die nächsten noch die letzten Schritte ohne Glauben tun; wir wohnen und leben sozusagen in einer Welt des Glaubens. Und so stützt sich denn die Tagesansicht auf das Wissen, soweit es reicht; darüber hinaus glaubt sie, was sie braucht; und erkennt endlich das historische Glaubensprinzip an, das Fechner in den »Drei Motiven und Gründen des Glaubens« entwickelt hat. Man könnte es am kürzesten so bezeichnen: ein Glaube erscheint uns um so triftiger, je allgemeiner und einstimmiger, je haltbarer und wirksamer er sich durch Welt und Zeit erstreckt, und je fähiger er sich gezeigt hat, mit wachsender Kultur zu erstarken und zu wachsen. Fechner hat zwar dieses Glaubensprinzip nur an die dritte Stelle verwiesen; aber in ihm wurzelt nicht bloß im tiefsten Grunde die Tagesansicht, sondern es ist auch am bezeichnendsten für die geistige Natur des Denkers. Die Anerkennung des Rechtes dessen, was da ist und war, auf eine entsprechende Zukunft sondert Fechner am tiefsten von der Masse der Naturforscher, die kein historisches Recht in der Gedankenwelt, sondern nur den Irrtum der Andern und das eigne Fürwahrhalten kennen, jenen zu zerstören und diesem zum Siege zu verhelfen als ihre Pflicht erachten, jeder einzelne gewissermaßen Religionsstifter auf seinem engen Gebiet, je entschiedner, desto höher ummauert sein Gebiet ist. Fechner hat es selbst ausgesprochen, daß für ihn der beste Glaube der sei, der sich am widerspruchslosesten mit allem unserm Wissen und unsern praktischen Interessen vereinbart, und die bisherigen Widersprüche der verschiednen Glaubensrichtungen versöhnt, statt sie noch weiter zu sondern. Gerade deshalb erscheint mir Fechner, mit andern Naturphilosophen verglichen, als ein Denker von hervorragend praktischer Anlage und Bedeutung, aus dessen Lehren eine dem ganzen Menschen genugtuende und die ganze Erscheinungswelt umfassende und deutende Philosophie zu gewinnen ist.

Dieser praktische Zug tritt besonders in der entscheidenden Seelenfrage zutage. Die Frage des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele, materieller und geistiger Schöpfung, ob sie nur ein Wesen oder zweierlei sind, mit andern Worten Monismus und Dualismus hat Fechner innerhalb seiner Tagesansicht nicht entscheiden wollen, sondern er legte das Hauptgewicht darauf, immer nur von den Tatsachen der Erfahrung auszugehn, unbekümmert zunächst um die Deutung dieses Zusammenhangs. Er neigte wohl im ganzen mehr zu einer einheitlichen Auffassung, aber seiner im höchsten Sinne praktischen Denkweise erschien die Wiederholung des Verhältnisses von Leib und Seele durch alle Schöpfungen hindurch wichtiger als die Frage nach der Natur dieses Verhältnisses im einzelnen Fall. Im Gegenteil ist es gerade für seine Tagesansicht bezeichnend, daß sie die Verbindung zwischen Seele und Leib nicht bloß als eine ausnahmsweis, bloß für Menschen und Tiere bestehende und nicht bloß auf das Diesseits beschränkte, überhaupt nicht als eine äußerlich trennbare ansehen will oder kann. Die Seelenfrage hat ja Fechner lange, ehe er die Tagesansicht zusammenhängend formulierte, in dem Sinne behandelt, daß man nicht fragen solle, wo die Beseelung anfange oder aufhöre, da »die Idee nicht durch Pflanzen und Sterne weht wie ein Wind,« und der Geist nicht an Nerven gebunden sei, sodaß er nur den Menschen und den Tieren als vorrechtweise zustehe. Im Sinne der Tagesansicht steigt über die Welt der einzelnen menschlichen Bewußtseinskreise eine höhere Welt in den Bewußtseinskreisen der Sterne auf, und der enge, hochentwickelte Bewußtseinskreis des Menschen hat den kindlichen der Pflanzen unter sich. Im Sinne der Nachtansicht freut und rühmt sich der Mensch der Einheit seines Bewußtseins, worin er etwas ganz besondres der Zerstreuung der Naturdinge gegenüber zu haben meint. Aber die Tagesansicht fühlt sich von keiner Zerstreuung der Dinge bedrückt, denn ihr ist die Einheit des Bewußtseins allgegenwärtig, und der Mensch hat die seine nicht als eine von der göttlichen unterscheidbare, sondern ihr untergeordnete. Fechner ruft mahnend: Sieh doch nur in dich hinein! Die Einheit des Bewußtseins ist nicht vergleichbar der Spitze, sondern dem Zusammenhang der Pyramide: eine Pyramide kann sich gliedern und untergliedern, ohne sich zu spalten; so gliedert und stuft sich die Welt. So wie in unserm eignen Geistesbau die Sinneskreise voneinander geschieden sind, und keiner seine Empfindung mit dem andern teilt, während unser Bewußtsein sie alle umfaßt, so ist auch die Scheidung des Bewußtseins zweier Nachbarstufen nur Scheidung im Bewußtsein einer höhern. Und so wie diese Abstufung in den Menschen hinein, reicht sie über ihn hinaus. So haben die Menschen und alle andern Geschöpfe eines Gestirns ihr Gestirn als höhere Stufe über sich, das Gestirn aber seine Geschöpfe unter und in sich. Und jedes Gestirn hat teil an der allgemein menschlichen Bewußtseinseinheit, dieser Teil ist von dem der andern Gestirne geschieden, in Gott nur unterschieden. Noch mehr als die Menschen auf der Erde sind die Sterne am Himmel voneinander verschieden. Innerhalb dem großen allgemeinen Zuge einer Kraft, die sie ordnet und erhält, hat jedes seine eigne Schwere, seinen eignen Tages- und Jahreswechsel, seine besondre Geschichte, sein eignes Leben. Man sehe unsre Erde, wie sie in dem reinen, feinen, klaren Äther schwimmt, einem großen Auge vergleichbar gebaut, das Licht einatmend. Sollte es nun für den Äther keine Geschöpfe geben? Der Abstand zwischen Gott und uns ist groß, die himmlischen Geschöpfe sind eine Zwischenstufe zwischen Gott und uns, aber auf einer Stufenleiter, in der die Stufen sich vielmehr ein- als ausschließen; in dieser Welt mag es Entwicklungsstufen geben, so wie es auf der unsern Menschen, Tiere, Pflanzen, Embryonen, Kinder, Erwachsene, Greise gibt.

Was aber die Seelen um uns betrifft, so möge der Leser in dem feinen Büchlein »Nanna« selbst nachforschen, wie es mit der Seele der Pflanzen steht. Dort scheint uns Fechner den Nachweis besonders glücklich geführt zu haben, daß zur Beseelung nicht die Nerven der Menschen und der Tiere gehören. »Willst du es nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlassen, daß sie Nerven wie Menschen und Tiere haben, um sie für beseelt zu halten, wenn wichtigere Gründe für die Beseelung sprechen? Sie wollen eben nicht Menschen und Tiere sein und brauchen zur andern Seele auch andre Träger und Ausdruck im Reiche der Materie.« Wir teilen mit allen andern Geschöpfen der Erde die tiefe Zugehörigkeit zu dem Planeten, der in Wahrheit unsre Muttererde ist: dieselbe Erde, die uns und alle ihre Geschöpfe durch dieselbe Kraft an sich gefesselt hält, hat auch alle aus sich geboren, nimmt alle wieder in sich zurück, nährt und kleidet alle, vermittelt den Verkehr zwischen allen und behält bei allem diesem Wechsel einen durch den Wechsel selbst sich forterhaltenden und fortentwickelnden Bestand. Und so wie in diesen materiellen Beziehungen die Erde sichtbar alle ihre Teile, und auch uns, verknüpft und damit über ihnen allen steht, tut sie es unsichtbar in den geistigen. Die Erde hat alles, was die Menschen haben, da sie sie selbst hat. Warum sollte sie noch einmal ein Gehirn in einer Schädelkapsel eng zusammengefaltet haben, da ihre ganze organische Welt an der festen Erdoberfläche frei dem Licht und den Schwingungen des Himmels und der Luft dargeboten ist, woraus alle Nerven und Gehirne ihrer Geschöpfe unmittelbar ihre Anregungen schöpfen, und wodurch sie sich ihre wechselseitigen Anregungen mitteilen? Aber doch sagt man: da der Mensch seinen Geist verliert, wenn man ihm sein Gehirn nimmt, so ist die Erde von vornherein geistlos, weil sie kein Gehirn hat. Und von der Schöpfung des organischen Lebens meint die Nachtansicht, es sei ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter, die jene von sich abgesondert habe und so tot geblieben sei wie vorher.

Wie Fechner seine Tagesansicht mit der naturwissenschaftlichen Auffassung der Natur verknüpft, an der er ja selbst so erfolgreich mitgebaut hat, kann hier nicht ausführlich gezeigt werden, wo es uns mehr darauf ankommt, die positiven Grundzüge seiner Ansicht zu zeichnen. Wohl aber möchten wir noch auf Fechners religiöse Ideen zurückkommen, da doch die Gewinnung oder Bewahrung eines beseligenden Glaubens mitten in einer noch über die alltägliche Wissenschaft an Tiefe und Weite hinausreichenden Weltansicht als das eigentümlichste und wirksamste Ergebnis seiner Betrachtung immer mehr hervortritt. Fechner hat seine Stellung zum Übel in der Welt ungefähr so bezeichnet: Das Übel in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zu den Grenzen, bis zu denen es überhaupt zu gedeihen vermag, ist nicht in dem Willen oder der Zulassung Gottes, sondern in einer Urnotwendigkeit des Seins zu suchen, vermöge deren das Sein selbst überhaupt nicht sein könnte, ohne in zeitlichen Anfängen und endlichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade in der Ausgleichung, Hebung, Versöhnung, Überbietung des Übels liegt der Quell des größern, allgemeinern, höhern Guten, an dem alles Fortschreitende, seinen Daseinskreis Erweiternde und Erhebende und Einzelne und Endliche teil hat. So notwendig das Übel, so notwendig ist die Richtung des göttlichen Willens auf seine Hebung. Gerade so notwendig wie das Übel, bildet die logische Notwendigkeit ein Grundmoment seines Wesens, gegen die keine Allmacht ankommt. Daß Gott das Übel nur in sich heben und versöhnen kann, indem er es in allen seinen Geschöpfen tut, und daß seine Mittel, es zu tun, so weit über die seiner Geschöpfe in Zeit, Raum und Aufstieg zu höhern Lebensstufen hinausreichen, sichert diese Hebung und Versöhnung. »Man muß sie auch nur von da erwarten«; hier zieht die scharfe Absonderung der Tagesansicht von allem Pessimismus:

In Gott ruht meine Seele,
Gott wirkt sie in sich aus;
Sein Wollen ist mein Sollen;
Ich kann dawider wollen;
Doch er führt es hinaus.

Aus dieser Auffassung folgt notwendig auch das Begreifen der göttlichen, d. i. sittlichen Gebote als Anweisungen, das Handeln zum eignen Wohl dem zum Wohl des Ganzen unterzuordnen.

Wer hat sich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe kommen können, daß er das Beten so ganz verlernt habe, das ihn in seinen jungen Jahren in jeden Tag des Lebens hinein und aus jedem heraus führte? Nicht der Wegfall des Bedürfnisses hat es bewirkt, sondern die Gedankenlosigkeit, die der größte Feind des Lebens der »Gebildeten« ist. Je mehr sie lesen und hören, desto weniger denken sie. Man könnte die moderne Durchschnittsbildung, und zwar gerade die, die auf die »Halbbildung« von oben herabzusehen meint, als die Gewohnheit bezeichnen, sich mit einem großen Aufwand von Lesen, Hören und Reden das Denken an und über die tiefste und wichtigste Frage des Lebens zu ersparen. In diesem Sums von angeblichem Denken an der Oberfläche hin ist auch das Betenkönnen verloren gegangen. Denn da es zum Hinabsteigen in große Tiefen auffordert, ist es mit den Gedankenspielen der sogenannten Bildung nicht vereinbar. Der gebildete Deutsche betet in der Regel nur, wenn es ihm an den Hals geht. Ich habe in meinem Leben nur einmal eine sehr große Schar deutscher Männer aller Stände ernstlich beten und sich dessen auch nachher nicht schämen sehen; das war aber in einem Feldgottesdienst nach einem großen Sieg der deutschen Waffen im Jahre 1870. Vollends nun über das Gebet denken und schreiben, das tun heute außerordentlich wenig Nichttheologen. Darin sind uns Engländer und Amerikaner überlegen, ich meine in dem Mut, es zu tun, nicht in der Art, wie sie es tun. Denn so tief wie Fechner hat kaum einer das Beten erfaßt, nicht einmal R. W. Emerson.

Kann Beten die Notwendigkeit bezwingen? fragt er. Nein, das kann es nicht, aber unter ihren Gründen selbst Platz greifen. Gewiß wirkt es im Menschen und infolgedessen darüber hinaus; denn nichts wirkt im Menschen, was nicht seine Wirkungen mittelbar oder unmittelbar, sichtlich oder unsichtlich über ihn hinaus in die mit ihm zusammenhängende Welt erstreckte, mögen wir auch diese Wirkungen nicht zu verfolgen wissen. Aber warum sollte eine an Gott als den Vertreter des Weltganzen gerichtete Bitte ohne Erfüllung bleiben, da ich doch selbst innerlich in ihm bin? Das Greifbare am Gebet ist aber die Wirkung, die es auf den Betenden selbst hat. »Nimm das Gebet aus der Welt, und es ist, als hättest du das Band der Menschheit mit Gott zerrissen, die Zunge des Kindes gegenüber dem Vater stumm gemacht. Ohne den Glauben an die Wirksamkeit des Gebets könnte aber das Gebet weder diese praktische Wirksamkeit äußern, noch seine historische Bedeutung gewinnen. Selbstverständlich sind der Wirksamkeit des Gebets in der Weltordnung selbst Schranken gezogen. Der Mensch erbitte von Gott nichts Unmögliches, nichts, was er mit seinen eignen Kräften selbst erreichen kann, da er ja selber für Gott das nächste oder alleinige Mittel ist, es zu erreichen oder zu leisten. An Gott wende er sich, wenn die eignen Mittel erschöpft sind, und täglich bitte er Gott, daß er ihn imstande hält, das Seinige zu leisten, und erflehe dazu den Segen von oben. Gebet ist aber auch das Vertrauen, daß Gott alles zum besten wenden werde, und daß das Jenseits vollenden werde, wozu die Mittel des Diesseits nicht hinlänglich sind. Aber freilich, dieses Vertrauen setzt den lebendigen, an uns teilnehmenden Gott der Tagesansicht voraus. Und eine Folge dieses Vertrauens wird das Bedürfnis sein, im Gebet zu danken. Was sollte uns endlich abhalten, im Gebet die Vermittlung von hingeschiednen Lieben oder Heiligen zu suchen, an deren Fortleben wir glauben? Der Glaube an diese Mittler ist viel mißbraucht worden; aber niemand kann leugnen, daß er schön und praktisch wirksam sei.«

*

Da in diese Tage der hundertste Geburtstag Gustav Theodor Fechners gefallen ist (geb. zu Groß-Särchen in der Niederlausitz am 19. April 1801), wird von den großen wissenschaftlichen Verdiensten des Mannes nach langer Pause mancherlei gesprochen werden. Vielleicht regen diese Bruchstücke und Auszüge aus seinen religiösen Betrachtungen unsre Leser an, sich mit seinen Schriften über Glaubens- und Seelenfragen bekannt zu machen. Den ganzen Mann lernt man ohnehin nur kennen, wenn man sein Forschen und seinen Glauben als eins erfaßt. Er gehörte keineswegs zu denen, die erst zu glauben anfangen, wenn sie zu forschen aufhören; sondern ihn zwang eine innere Notwendigkeit, sich eine Weltansicht zu schaffen, die dem forschenden Geist und – dem Glauben an einen weltumfassenden und durchdringenden Gott Befriedigung und Glück gewährte. Die 1843 erschienenen Gedichte zeigen denselben kindlichen Glauben wie seine letzten Schriften. Gerade in dieser Einheit seines geistigen Wesens liegt sein Eigentümlichstes und zugleich das Beste, was die Nachwelt von ihm haben kann. Öffnen wir ihm, der nach seinem eignen Glauben als Geist unter uns fort lebt und wirkt, die Wege.


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