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Jam summa procul villarum culmina fumant,
Majoresque cadunt altis de montibus umbrae.
Vergil
In der Geographie nennt man unser Land ein welliges Land, ein welliges Hügelland. Wer diesen Namen liest, ohne das Land gesehen zu haben, was kann er sich dabei denken? Ich habe mir auf der Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder wenn ich mich einmal zum Denken aufschwang, so erweckte das Wort »wellig« höchstens die Vorstellung, wie unterhaltend es sein müsse, eine wellige Wiese herabzurollen, wo man von dem Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die zweite Welle wegbefördert würde, und so immer weiter mit beschleunigter Geschwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gesehen habe, weiß ich das ganz anders. Unser Land ist wellig, das heißt, daß die Häuser und Höfe bald oben und bald unten sind, wie die Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang hinab, ohne es zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man sich umsieht, ist der Hof verschwunden, der eben noch hinter uns stand, vielleicht sieht man noch eben seinen neu aufgesetzten Schornstein, das einzige Weiße zwischen Himmel und Wiese, zwischen Blau und Grün und an dem braunen Hause. Dafür taucht auf der andern Seite ein glänzender Kirchturmhahn auf oder die Kreuzung von zwei Dachsparren oder die lange Horizontale eines Scheunendaches; noch viel öfter schwillt und quillt das Dunkel einer Baumkrone wie das tiefe Schattenbild einer Wolke hervor. Aller paar Schritte ändert sich das Bild, immer ist es im Wachsen oder Abnehmen, wie angesteckt vom Mond mit seiner Wandelbarkeit. Ein solches Land zerlegt die Aussichten in Höhenschichten. Von einem Punkte über Eichelberg, wo ich gern lag, sah ich zuerst einen breiten, grünen Rücken, den man für flach gehalten hätte, wenn nicht alle Ackerfurchen und Raine auf ihm in Bogen verlaufen wären, dann den blendend weißen Turm von Altenloch mit einer grauschwarzen Zwiebelkuppel. Einsam steht er wie ein Leuchtturm am wogenden Meere; das Schiff der Kirche sieht man von hier nicht. Dahinter und darüber zieht ein dunkler Waldsaum, den überragen noch eben ein paar Baumkronen und das lange braune Dach von einem ganz oben liegenden Hof. Soviel Dinge ich sehe, soviel Bodenschwellen ziehn von mir hinaus. Und da Kirchtürme, Scheunendächer und die Kronen von Eichen-, Ahorn- und Birnbäumen immer am höchsten ragen, bilden sie eine Art von Aristokratie in dieser Landschaft. Nur Raubvögel, die man manchmal über ihnen kreisen sieht, streben noch höher hinaus. Und über allem schweben die Wolken, die wegen der höhern Berge, die nicht fern sind, und wegen des feuchten und warmen Rheintals auf der andern Seite oft sehr schön sind. Wir haben besonders schöne, leuchtend weiße Wolkenballen des Nachmittags und herrliche Wolkenschichten über den blauen Westbergen des Abends. Frühmorgens liegen im Spätsommer und Herbst weiße Wolkendecken und -schlangen im Rheintal.
Da es in unserm Lande sehr viel einzelne Höfe und hohe Bäume im Felde gibt, hat jede Bodenwelle ihr besondres. Eine trägt Wiesen und schaut hellgrün über eine andre mit goldbraunen Haferfeldern, und darüber hinaus wogt es walddunkel. Ein unvergeßlich anheimelndes Bild ist der Hof mit seinem langen, hohen Dach, das stolz den reichen Erntesegen birgt, die Glocke darauf, die zur Arbeit und zur Rast ruft, und darüber steigt die dunkle Krone eines mächtigen Ahornbaums wie eine Abendsommerwolke in den Himmel hinein. Auch daß die Bäume vereinzelt oder in kleinen Gruppen auf den Höfen stehn, gibt dem Land eine Art von Sprache. Denn jeder Baum meint etwas: der beschattet eine kleine Kapelle, bis zu der am Erntefest die Dankprozession geht, dort steht zwischen zwei Linden ein uraltes Kreuz, dessen Grundstein in den Boden gesunken ist; jene Eiche, deren dunkle Blättergruppen so phantastische eckige Figuren in den Himmel schneiden, steht auf der Grenze von vier Dorfgemarkungen, und unter dem Holzbirnbaum dort, dessen Krone so sonderbar niederflutet, ist der alte X-Bauer gestorben, den auf seinem nahen Felde beim Grummetladen der Schlag getroffen hat; man liest die Tafel dort. So sagt jeder Baum sein Sprüchlein, und die, die keins wissen, fragen dich: Warum steh ich gerade auf diesem Hügel, am Rande dieser Mulde oder an diesem Hohlwege? Da nun auch noch dazukommt, daß gerade wie die Höfe und die Bäume so auch die Wege auf- und untertauchen, sodaß man nur immer Stücke davon sieht und ihren Zusammenhang sich aus der allgemeinen Richtung denken muß, so ist das ein gesprächiges, unterhaltliches Land. Und wer über diese Hügelwellen von Dorf zu Dorf wandert, ist sozusagen nie allein und kommt nie aus der Gesellschaft heraus. Früher muß es noch anders gewesen sein, als auf den Höhen Burgen standen, deren Reste man aufgedeckt hat, sogar römische. Auch Galgen und Ding- oder Richtstätten, diese mit niedern Steinkreuzen bezeichnet, gab es in angemessenen Entfernungen. Hoffentlich waren es mehr als nötig; wenn nicht, war jene Welt noch schlechter als unsre. Sicherlich gibt es jetzt mehr Felder und Menschen. Höchstens die steinigen Höhen und Rücken liegen brach, das verkünden von weitem schon die hohen gelbblumigen Königskerzen, die kleinen violetten Astern und purpurnen Disteln, die steinigen Boden lieben. Wenn der Acker bestellt und wieder wenn er gemäht wird, was bei uns durchaus mit der Sense geschieht, ist die Landschaft reich belebt. Doch bleibt sie fast immer gleich still, was Laute anbetrifft. Ein Ruf, der die Pferde ermuntert, ein kurzes Befehlswort des Bauern an den Knecht, ein Rabenschrei ist stundenlang alles, was man hört. Die Hauptarbeiten: Pflügen, Säen und Ernten vollziehn sich in aller Stille; sie sind zu schwer, als daß die Lust zum Reden oder Singen aufkäme.
Anders ist es im Spätjahr, wenn sie erledigt sind. Dann steigen aus den Ackerfurchen die blauen qualmenden Rauchsäulen des verbrannten Unkrauts, dessen Geruch der Luft weithin eine Schärfe erteilt, und die begrasten Bühel, wo man Ziegen und Schafe und die kleinsten magersten Kühe zur Weide treibt, umwölkt der Rauch der Hirtenfeuer, die einen seltsamen Eindruck besonders am Abend machen, wenn dunkle Gestalten um sie schwanken. In derselben Zeit gehn die Kühe und die Rinder zur Weide auf die Wiesen, und die Landschaft bekommt einen niederländischen Zug. Auf einzelnen Waldwiesen, auf Stoppelfeldern und abgeernteten Kleeäckern werden ganze Herden von Kühen, stolze Tiere, die zu sagen scheinen: Unser Herr ist ein reicher Bauer, verwechsle uns nicht mit den Kühlein armer Leute; diese sieht man genügsam und einsam an Rainen grasen.
An einem Waldeck steht ein uralter Grenzstein, um ihn drei mächtige Buchen, gleichsam eine Vorhalle, einen Vorhof des Waldes bildend, in dessen Dunkel man nun eintritt. Dort lagern die Herden an den warmen Herbsttagen, die Kinder, die sie hüten, finden dort Haselnüsse und Bucheckern. Dann hört man dort zuzeiten seltsame Musik. Aus dem Walde heraus klingen die Glocken der Herden wegen der großen Entfernung der einzelnen Gruppen auf ihren Waldwiesen und wegen der dazwischenstehenden Bäume nicht einzeln, sondern wie ein Gesang; oft klingen die hochgetönten zufällig zusammen, und das läutet wie ein heller Ruf aus Waldestiefen.
Die Gemarkung könnte man die politische Grenze des Dorfes nennen, wenn der Horizont als seine natürliche gilt. So wie jedes Kind, das kaum noch fest auf den Beinen steht, die Felder und Wiesen seines Vaters kennt, kennt jeder Knabe die Grenzen der Dorfgemarkung; er tritt nicht auf den Rain vor dem Steinwald oder auf die andre Seite der Vizinalstraße nach Sensenheim ohne das Gefühl, fremden Boden zu betreten. Wenn die Burschen von Eichelberg in einem Nachbardorf eine Schlägerei inszeniert haben, halten sie sich für sicherer, sobald sie den Grenzgraben überschritten haben. Zwei uralte Steinkreuze, die bis an die Querarme in den Boden gesunken sind, erzählen, wo der Waldpfad von Michelsberg her die Grenze schneidet, die Sage von einer grausen Bluttat.
Da sich bei uns nur die großen Bauernhöfe ungeteilt vererben, und zwar ebenso oft auf den ältesten wie auf den jüngsten Sohn, ist das Dorfland immer mehr zerteilt worden, und die Stücke wechseln um so leichter ihre Besitzer, je kleiner sie geworden sind. Es gibt zwar in meiner Erinnerung kein Beispiel, daß ein wirklich reicher Bauer ganz arm geworden sei, aber Abbröcklungen erlebt man alle Tage. Kinder der Ärmsten sind mit nichts auf die Wanderschaft gegangen, und als sie nach einem Jahrzehnt oder länger zurückgekehrt waren, haben sie mit den Ersparnissen einen Acker gekauft und sind bei gedeihendem Handwerk in den Mittelstand der Bauern eingetreten und haben sich genug Feld erheiratet, daß sie vier oder fünf Kühe halten konnten. Damit ist das Bild der Landschaft immer mannigfaltiger und bunter geworden. Jetzt liegt kaum einmal ein Feld brach, es erregt Staunen, wo es vorkommt. Dagegen sind es der Feldfrüchte weniger geworden, und von dieser Seite her zog Einförmigkeit in die Gemarkungen. Der zarte Flachs mit seinen hellblauen Blüten ist verschwunden, die gelben Rapsfelder sind selten geworden, von den Getreidearten wird der Dinkel weniger angebaut als früher, nur die Luzerne und der hohe Pferdezahnmais haben an Ausbreitung gewonnen. Im Sommer die Kartoffel, im Herbst die Futterrübe: diese beiden niedrigen, anspruchslosen, unpoetischen Gewächse sind es, die den größten Raum einnehmen. Wir leben eben im Zeitalter der Nützlichkeit.
Das ist die Aussicht, die den Bauer freut: der Blick auf sein Dorf, wo seine Heimat im engsten Sinne ist, deren Dach, deren darüber hervorragenden dunkeln Birn- oder hellen Nußbaum er erkennt. Ist es nicht natürlich, daß man den Blick aufs Liebste, das man hat, jedem andern vorzieht? Man wendet sich auch einmal auf einer solchen Höhe um, wundert sich über die Nebelbank im Rheintal oder die ganz fernen linksrheinischen Berge, die nach Sturm oder in den hellen Pausen eines Regentags blau am Abendhimmel stehn. Aber das sind nur Kuriositäten. Herzensfäden spinnen sich da hinüber nicht, die wachsen nur dem Eigensten und Nächsten zu. Man kann wohl einen alten Bauer, der nicht mehr gerade die schwerste Arbeit tut, auf dem höchsten Punkte seines Ackers stillstehn und lange, wie in Gedanken versunken, ins Tal hinabschaun sehen. Der Fremdling möchte ihn wohl für einen schwärmerischen Naturbewundrer halten; wenn er zu ihm hintritt, möge er nicht enttäuscht sein, wenn das Sinnen des alten Mannes dem offnen Scheunentor in seinem Gehöft galt, oder wenn er wohlgefällig dem Rhythmus des Dreschens lauschte, das von seiner Tenne herauftönt.
Die Alleen von Obstbäumen, die vom Dorf in die Felder hinausziehn, setzen die Dorfstraßen und Dorfwege fort. Ihre dunkeln Linien führen in die sonnigen Felder und verdichten sich, wo an Kreuzwegen die Baumreihen zusammentreffen. Sie sind erst im achtzehnten Jahrhundert entstanden; da aber alle Obstbäume, der Walnußbaum ausgenommen, schon in ihren ersten Lebensjahren charaktervolle Physiognomien annehmen, so haben wir sehr viel Apfel- und Birnbäume, auch Kirschbäume, die ein uraltes Ansehen haben, und deren jeder sozusagen eine Persönlichkeit ist. Man hat bei ihnen immer den Eindruck, als ob sie sich plagen müßten, ihre Lasten süßer Früchte heranzupflegen und durch Sonne und Wetter dem Herbst entgegenzutragen; aber wenn sie es nicht gern täten, würden sie sie in solcher Fülle tragen, daß sich die Äste biegen? Dieser Eifer und diese Güte rühren uns, und wir schließen Bekanntschaften mit ihnen, und manche merkwürdige Gestalt darunter bleibt uns unvergeßlich. Sie leben in unsrer Erinnerung, diese alten Bäume, wie die alten Bauern, ohne die wir uns das Dorf nicht vorstellen können. Und leben sie nicht in der Tat? Wenden sie sich nicht der Sonne zu, sodaß sie zuletzt der Straße den Rücken kehren? Halten sie ihr nicht ihre Früchte entgegen, daß sie sich rascher röten? Und jubeln sie nicht in die helle Frühlingsluft hinaus mit ihren weißen und roten Blütensträußen?
Die Dörfer sind bei uns klein und liegen immer an den Straßen und Bächen, meist dort, wo die einen zu den andern herabsteigen, recht versteckt in der Tiefe. So liegt auch mein Dörfchen in einem Kessel oder vielmehr in einer ziemlich flachen Mulde, und es ist sehr auffallend zu sehen, wenn man von Sensenheim oder von Breitbruck, den beiden Verkehrs- und Kulturzentren, ansehnlichen Marktflecken, herkommt, wie die graubraunen, moosgrünen Dächer da unten zusammengedrängt liegen, wie ein kleines Gebirge von Firsten und Giebeln, und darüber dunkle Wolken, die Bäume, die vor den Häusern oder in den Grasgärten stehn, und wie an ihrem erhöhten Rande aus einer Gruppe von größern, weißwandigen Gebäuden der blendend weiße Kirchturm mit seinem Kuppeldach aus altersgrauen Schindeln wie eine Kerze hervortaucht. Dem frommen Vergleich einer Herde von Hütten, die sich um die Kirche, ihren Hirten und treuen Beschützer, drängt, setzte der aufgeklärte Dorfarzt, der übrigens ganz freundlich mit den beiden Geistlichen verkehrt, die trivial-kritische Ansicht entgegen, die Kirche bemühe sich vergebens, die Eichelberger aus dem Pfuhl ihrer Sündigkeit herauszuziehn; der Forstgehilfe aber berichtete schwäbelnd: Mei Bruder, der Herre Rentamtmann, sagt, Eichelberg komm ihm vor, als seie seine Bauernhäuser in eine Kesseltreibe zsammekomme. Er leerte nach dieser Behauptung sein Glas goldgelben Bieres und setzte das leere Glas in einen Sonnenfleck, der auf dem Tische spielte, daß es hell aufleuchtete; die Herren tranken nämlich aus dicken gerippten Gläsern, die Bauern aus dünnen glatten. Der Effekt war schön, aber die Bemerkung des Forstgehilfen fand darum doch kein Echo, weil die andern fanden, daß er sich zu viel für seine Jugend herausnehme, und daß man übrigens auch Lichteffekte weiter nicht schätzte, nicht einmal in Biergläsern.
Doch ich will ja noch nicht von den merkwürdigen Bewohnern der erhöhten, weißwandigen Häusergruppe um den Kirchturm, sondern von Eichelberg im allgemeinen und besonders als Dörfchen sprechen. Wenn es sich nun darum handelt, den Überblick von einer der herabsteigenden Landstraßen zu vollenden, die wir genannt haben, so sei der geneigte Leser zunächst darauf vorbereitet, daß er nicht vieles und nicht vielerlei sehen wird. Eichelberg ist nur ein Dörfchen, hatte zu der Zeit, von der wir sprechen, siebenhundert Einwohner in achtundneunzig Häusern oder Hütten, und man mochte das Ganze in weniger als einer halben Stunde umschritten haben. Dafür hat es, wie jedes normale Dorf – stadtähnliche Dörfer wie in der Rheinpfalz gibt es bei uns nicht –, die zwei großen Vorzüge: daß man es leicht als Ganzes übersieht, und daß man jeden Augenblick aus seinem Bann in die weite, freie Natur hinaustritt. In kleinen und mittlern Dörfern öffnet sich noch jedes Haus nach irgendeiner Seite ins Freie, entweder schaut seine Vorderfront auf Felder und Wiesen, oder, was viel häufiger der Fall ist, man tritt aus dem Garten, der sich an seine Rückseite anschließt, unmittelbar ins Unbewohnte hinaus. Auch dem Bauern, dem man darin wenig Empfindung zutraut, tut es wohl, sich aus dem »Gedränge« der Häuser und Nachbarn hinauszuflüchten. Wenn er einen Schmerz überwinden, einen Groll auskochen lassen will, macht er ganz sachte das kleine Pförtchen auf, das hinten hinausführt, überschreitet die Bohle, die einen kleinen von der Mühle herkommenden Wassergraben überbrückt, und macht sich auf seiner anstoßenden Wiese oder ein paar hundert Schritt aufwärts in dem Weinberge zu schaffen, der bei uns häufig gerade gegenüber dem Hausgärtchen liegt. Oder er lehnt sich auf sein Gartengitter, schaut hinaus, wo keine Menschen sind, und fühlt, daß es noch eine Welt außerhalb seines Schmerzes oder seines Grolls und außerhalb des Bereichs fremder Menschen gibt. Auf denselben Pfaden treffen sich auch gern die Burschen und die Mädchen, die sich etwas zu sagen haben; besonders die Burschen gehn hier gern am stillen Abend, wenn sie noch eine »Traget« Gras gemäht haben. Wenn er erzählen könnte, der kleine Weg am Wasser hin! Wie manche Sorge aus dem Dorf ist auf ihm hinaus-, auf ihm ist aber auch in mancher Dämmerung oder grauen Nacht Unglück und Schande hineingetragen worden, die das Tageslicht scheuen.
Auf einem der uhrglasförmigen, flachgerundeten Buntsandsteinhügel, der unmerklich seinen ihm zum Verwechseln ähnlichen Genossen überragt, ist 1843 eine Eiche zur Erinnerung an die Schlacht bei Leipzig gepflanzt worden. Dort hinauf habe ich viel mehr als hundertmal einen alten Freund meiner Jugend, den Dekan St., begleitet, dem ich es verdanke, daß ich die Liebe zur Wissenschaft mit meinem Kinderglauben vereinigen konnte. Man sieht von jener baumgekrönten Stelle elf Dörfer und wohl ebensoviele Höfe. St. zitterte dort gern das Wort des Erasmus von Rotterdam in seiner Beschreibung von Holland: »Dieses Land ist mir zum Vaterland geworden, und wollte Gott, daß ich ihm sowohl zur Freude wäre, als es mir ist.« Ich habe dort auch sagen hören: Dein erster Gedanke, wenn du über dieses weite Gefilde hinschaust, ist wohl: So weit vermag ich mich zu regen; der zweite: Was du siehst, hat dir Gott zur genußreichen Anschauung gegeben. Also Freiheit und Fülle.
Was aber die Möglichkeit betrifft, das ganze Dorf mit einem Blick zu überschauen, so hörte ich sagen: Wer nie das Nest, in dem er lebt, von oben sieht, der hat auch keine rechte Vorstellung von dem Ganzen, dem er angeschlossen, eingegliedert ist. Und auch das ist eine große Wahrheit. Ich liebte mein Dorf, so wie ich es vom Behrberg aus sah, vom Schusterhäuschen auf der einen Seite bis zum Haus des Straßenwärters auf der andern. Da sah ich es zuerst als ein Ganzes unter mir, und dann erkannte ich auch gleich die drei »Dorfteile,« in die seine achtundneunzig Häuser und siebenhundert Einwohner zerfielen. Ich sah nämlich gleich unter mir in den Kirchhof hinein und auf die Kirche, von der er wie ein Garten ausging, und um diesen Kern standen im Halbkreis die Apotheke, das Doktorhaus, das protestantische Pfarrhaus und die Mühle; diese vier fühlten offenbar eine starke Zusammengehörigkeit, denn sie waren nicht bloß alle blendend weiß getüncht, sondern jedes hatte auch zwei Oleander voll rosenroter Blüten in grünen Kübeln zu beiden Seiten der Tür. Weiter stand dann an der Straße das Gasthaus, ein vergrößertes, aber nicht verschönertes Bauernhaus mit einem langen Flügel voll Ställen und Remisen und den Räumlichkeiten für eine kleine Bierbrauerei. Vom Giebel hing das an eisernem Arm sich knarrend bewegende Wahrzeichen, das weiße Lamm, über die Straße. Von da an lagen die Bauernhäuser bunt durcheinander, bis am andern Ende ein großer höher gelegner Hof mit weithin leuchtender weißer Kapelle den Abschluß machte, die mit ihm ein Ganzes zu bilden schien: der weithin bekannte Lauterbacherhof mit dem katholischen Kirchlein, von dem ein schmaler Kirchhof talab zog; eine Anzahl von kleinern Häuschen mit entsprechend kleinen Gärtchen lag dort versteckt unter uralten Linden, denen man ansah, daß sie eher zu dem Hofe und seiner alten Kapelle als zu den kleinen Wohnstätten gehörten, die nun in ihrem Schatten lagen. Gegenüber diesem dreigliedrigen Bogen des Dorfes zogen Wiesen und Gartengrundstücke an dem Bache hin, der sich in einen dichten Park verlor, aus dem fern ein hohes braunes Dach und ein grauer Turm herausschauten: das Haus des Herrn Barons, das fast das ganze Jahr mit geschlossenen Läden und Türen wie im Schlafe dastand.
Dem Fremden, der von einer der Höhen herabstieg, die Eichelberg umgeben, mochte wohl manches Städtchen keinen so stolzen Anblick bieten, wie das Dorf mit seinen in ungleicher Höhe stehenden, einander überragenden Häusern. Zwar sind viele graue Dächer mit roten Ziegelsteinen geflickt, auch gibt es Strohdächer, die silbergrau schimmern, aber das Profil des Dorfes ist wie ein kleines Gebirge mit Giebelgipfeln und Graten. Leuchtend treten auf neugedeckten Dächern die mit Ziegeln hineingelegten Jahreszahlen hervor. Der schönste Schmuck dieser Ansicht aber bleiben die Bäume, die ebenfalls teils hoch hervorragen, teils nur die Lücken zwischen den Häusern und Häusergruppen ausfüllen; sie sind wie die Wolken in dem Bild. Und wie alles in dem Dorfe lebt, so wie Halme und Bäume leben, und wie es, vorausgesetzt, daß du die Sprache kennst, aus Hütten und Häusern zu dir spricht, so zeigt auch der Schatten, worin ein Haus steht, durch seine Tiefe die Zeit an, die es an dieser Stelle steht: eine schöne und untrügliche Ahnentafel. In der Sonne schattenlos zu stehn, ertragen nur die wenigen neugebauten Tagelöhnerhäuschen, und auch diese streben durch Anpflanzungen den andern nach. Denn nichts ist im Dorfe zeitlos wie die Mauern und Steine der Städte, in denen man wohnt, ohne zu wissen, von wann oder von wem sie sind.
Die Landstraße, die durch das Dorf führt – und zwar so, daß der dreizehnte Kilometerstein genau vor dem Pfarrhause steht, was dem Herrn Pfarrer aus Gründen, von denen er nicht gern spricht, unangenehm ist –, ist eigentlich nur ein ganz äußerliches Zubehör, das erkennt man daran, daß alle die alten Bauernhäuser seitab von ihr stehn oder ihr den Rücken kehren. Die Straße ist angelegt worden, als das Dorf schon Jahrhunderte auf seiner Stelle stand, nicht einmal die Honoratiorenhäuser reihen sich an ihr auf, sondern stehn um die Kirche; sie sind aus einer Gruppe von Wirtschaftsgebäuden hervorgegangen, die dem verschwundnen Kloster Gottreich gehört hatten. Die wahren Wege des Dorfes führen zwischen den Häusern und zum Teil sogar durch Anbauten der Häuser durch, schmale, beraste Pfade, an Hecken hin, wo uralte, zum Teil mächtige Holundersträuche und wilde Rosenbüsche stehn; diese sind für den Verkehr der Menschen, und es besteht ein stillschweigendes Übereinkommen, daß nicht einmal Pferde auf ihnen geführt werden. Aber jedes Haus hat seine Zufahrt von den Wegen her, die ins Feld oder zur Straße führen, und jede von ihnen endigt mit einem Steinunterbau, auf dem die schwersten Erntewagen in die Scheune hineinfahren können. Der mag ein Rest der Tenne aus der Zeit sein, wo im Freien gedroschen wurde.
Der kleine gelbe Bach fließt mit unglaublicher Geschwindigkeit durch das Dorf, zu meiner Zeit war er unter allen Dingen und Menschen dieser Gegend überhaupt das einzige, dem es pressierte. Was man ihm zu arbeiten gab, erledigte er mit erstaunlichem Fleiß in der kürzesten Zeit, und gründlich; also stürzte er sich oben im Dorf in eine hölzerne Rinne, schoß hindurch, als ob sie in keiner Weise bemoost wäre, und doch leuchtete sie in der Sonne wie Smaragd, und warf sich dann sogleich in das altersbraune Mühlrad, als ob er es in Stücke reißen wollte, sprang darüber weg, daß die Tropfen leuchtend flogen, nachdem er es hastig in seinen alten rostigen Angeln umgedreht hatte, und floß dann eine Strecke zutraulicher zwischen grünen Ufern hinter dem Dorfe hin; da hier nicht viel zu tun war, nagte er im Vorübergehn an einem Steinpfeiler der Pfarrmauer, den das unartige Bächlein jedes Jahr einmal ins Wanken brachte. Dann kam er zu uns, wo ihm aller Abfall des Apothekenlaboratoriums, besonders der geschmacklose ausdestillierte oder ausmazerierte Inhalt rußiger Kupferblasen und staubiger »Maulaffen« Kegelförmige Glasflaschen mit weiter Öffnung. übergeben wurde, den er aufs schleunigste weiter beförderte. Die Kleinheit, Geschwindigkeit und Unermüdlichkeit des Angelbachs veranlaßte in meinen Gedanken seinen Vergleich mit Menschen. Ihm gleich war zwar niemand, den ich kannte, aber der kleine quecksilberne Schullehrer ließ mit ähnlicher Unermüdlichkeit seine belehrende und erklärende Stimme aus dem im Sommer geöffneten Fenster seines niedern Schulhauses erschallen und begleitete seinen Unterricht mit dem Klopfen seines Bakulus auf den Schultischen, der Tafel oder den Schülern mit einer Beharrlichkeit des Wellenschlags. Und dann war der Briefträger und sein Weib, beide bestrebt, die schmächtige Korrespondenz Eichelbergs so rasch wie möglich an die Adressaten abzuliefern, und sofort wieder an ihre Korbflechtarbeit zu gehn, weshalb sie allmorgendlich das Dorf um- und durcheilten, dem Bächlein von ferne vergleichbar. Was sich sonst in unserm Dorfe bewegte, ließ sich Zeit, sogar die Doktorkutsche, die bei Regen ausfuhr, denn der Doktor konnte das rasche Fahren nicht vertragen. Die andern Wagenbesitzer – und alle Honoratioren besaßen mehr oder weniger alte Fahrwerkzeuge – fuhren langsam, weil ihre Wagen es waren, die rasches Fahren nicht vertrugen. Besonders die Pfarrerwagen zogen dahin, von dicken Gäulen schwer gezogen, als wollten sie den festesten Acker aufpflügen. Und unsre Dorfstraße war allerdings bei Regenwetter von einem frischgepflügten Acker nicht eben sehr verschieden.
Die Stelle des Bürgersteigs vertreten im Dorfe kleine Strecken rasenbewachsener Streifen längs der Häuser und Gärten, selten durch uralte Bohlen verbunden; hierher rettet sich der Verkehr, wenn nach langem Regen die Wege ein Schlammstrom geworden sind.
Es ist eine eigne behagliche Schönheit, die der Bauernhäuser: sie fordert zwar nicht Bewunderung, denn es liegt in ihrer Natur, bescheiden zu sein, aber alles in ihr hat einen direkten Bezug auf ein reges, leicht zu überschauendes Leben. Die wohlgehaltnen Spaliere und Reben sprechen vom Fleiß, das ganze Anwesen vom zusammenhaltenden Einfluß nüchterner Sparsamkeit; das Bänkchen vor dem Haus erzählt von der Ruhe nach der Arbeit, vom Hinaufsehen zu den Sternen, die Gewürzpflanzen im Garten, die Blumen im Fenster, das Holz, das an der Seite hin aufgeschichtet ist, und die Reisigwellen, die aus dem Giebel schauen, die Katze auf der Schwelle und die stattliche Reihe hölzerner Milchschüsseln, die frisch gescheuert zum Trocknen auf der Bank stehn, wollen alle nicht schön sein oder Schönheit erzeugen, oder nur so weit als Ordnung und Behagen schön sind, oder wie eine Hausfrau schön ist durch starke Arme, kluge Augen, fröhlichen Mund. In unsrer Gegend gibt es keine gemalten Bauernhäuser, denn nirgends hatten hier die Bauern je soviel im Überfluß, daß sie es dafür aufgewandt hätten. Übrigens ist auch die Sitte des Bemalens der Häuser bei uns in den Städten niemals heimisch geworden. An einem einzigen Hof eines Nachbardorfes hat man unter verschiednen Lagen von Kalktünchen einen heiligen Florian, den bekannten Heiligen der Bauernhäuser, entdeckt und herausgekratzt; es ist auch nur ein kleines unscheinbares Bild.
Ein Bauernhof ist darin ganz Natur, daß er niemals fertig ist, denn auf dieser Seite ist er neu, auf jener alt; hier verfällt ein Teil, und dort wird vielleicht ein andrer eben erneuert. Er ist wie einer der Berge, die darauf niederschauen, oder wie einer der Bäume, die er beschattet, immer im Werden. Menschen, die nur das Äußere sehen, finden das häßlich. Allerdings fehlt dem Bauernhof, was man die letzte Feile nennt; aber die fehlt notwendig allem Lebendigen, denn Leben heißt sich verändern, entwickeln, verfallen. Und wenn nun gerade das Verfallen nicht einmal immer ein einfaches Vergehn der Dinge ist, sondern ein Aufrechterhalten des Alten aus Anhänglichkeit und lieber Gewohnheit, so wollen wir es von vornherein nicht mit kaltem Auge anschauen. In einem der kleinern Häuser unsers Dorfes steht ein dreibeiniger Stuhl, in dessen kreisrunden Ahornsitz die Jahreszahl 1731 mit schönen großen Ziffern tief hineingeschnitten ist, von dem sagte der Schusterbauer, dem er gehörte: Das ist das einzige Stück im ganzen Hofe, das vom Urahn stammt, das und die tiefsten Fundamente, die beim Brande im Jahre 1801 allein stehn geblieben sind; alles andre ist im Laufe der Jahre neu gebaut und umgebaut, den Stuhl haben wir bewahrt, und er wird hoffentlich noch spätern Nachkommen von dem ersten Schusterbauern erzählen, der wirklich ein Schuster war, der auf diesem Stuhle sein Handwerk ausübte. Da ihm Acker und Wald durch Erbschaft zufielen, wurden seine Kinder Bauern, und ihre Kindeskinder sind es bis heute auf demselben Grunde geblieben. – Einmal sprach ich mit dem Besitzer des Nußlocher Hofs, der der größte in unsrer Gemeinde ist, über die alte Stube, die von neuen umgeben gleichsam den Kern seines Anwesens bildete, und der sagte: Sie ist noch nicht das Älteste, hier ist ein Stein, und dort ist ein Balken, die älter sind; was alt und gut ist, das wächst eben immer wieder in das Neue hinein; es ist wie ein Erlenklotz, in den alte Knuppen und junge Triebe ineinander gewachsen sind, es ist eigentlich nichts schönes, und doch: wenn man den Klotz auseinandersägt und poliert die Fläche, da kommt der schönste Maser heraus, für den die Kunstschreiner ein gut Stück Geld zahlen. – Vor fünfzig Jahren, als ich das Dorf: betrat, da kamen eben die großen Putzmühlen für das Getreide und verbesserte Pflüge auf, danach folgten die ersten Dreschmaschinen, für alle diese wurden geschützte Plätze geschaffen, indem man das Scheunendach auf der einen Seite bis fast auf den Boden fortführte, wodurch ein dreieckiger Raum entstand, worin diese Dinge untergebracht wurden. Später kam die viel tiefer einschneidende Maßregel der Feuerversicherung, die Mauerwerk ohne Holzbalken in der Nähe aller Feuerstätten verlangte. Möge dieser Erneuerungsprozeß nicht zu rasch vor sich gehn! Wer alt wird, hat viel gesehen, sagt man. Das ists, was dem Alter seine Überlegenheit und Würde gibt. Was macht diesen Dreibeinstuhl des alten Schusters wertvoll, als der Gedanke, daß sieben Generationen ihn besessen, auf ihm gearbeitet haben, daß eine ganze Kette von Menschen auf ihm alt geworden ist? Wäre er in dieser Zeit von einer Hand in die andre gegangen, so wäre er uns nicht so wert. Aber während die Geschlechter kamen und gingen, blieb er erhalten, und wenn es auch nur ein Dreibein ist, er kommt mir vor wie der Baum, an dem sich Jahr für Jahr eine neue Rebe jung emporrankt und welkend niedersinkt. Aber ist es nicht ebenso mit allem Geräte alten Gebrauchs? Die schönste Farbe am Metall ist die des Alters, und so ist am Holzgerät der Glanz des Gebrauchs das edelste.
In alten Häusern gibt es noch grüne glänzende Öfen, die mit ebenso vielen Augen in die Stube leuchten, als sie Kacheln haben. Da aber das Holz immer teurer geworden ist, sind die kleinern Leute zu kleinern Öfen übergegangen, und die Frauen lieben die gußeisernen »Sautöpfle«, auf deren glühender Deckplatte man siedende Kartoffeln den Deckel ihres Kessels lüpfen sieht. Damit ist auch die Ofenbank geschwunden, deren Stelle jetzt vielfach ein Lehnstuhl einnimmt, worin ein Großvater seine alten Glieder wärmt. Noch einschneidender ist die Reform, die ein andrer Heizapparat, der Backofen, erfahren hat. Zwar wölbt noch mancher Backofen seinen runden Bauch über die Hausmauer hervor, aber die meisten sind »fossil,« stehn außer Gebrauch. Die meisten backen jetzt beim Bäcker oder kaufen das Brot fertig. Schade! Wenn an Backtagen frischgebacknes Brot und die ihm unfehlbar folgenden Kuchen auf allen Tischen und die Treppe hinauf zum Abkühlen standen, durchwehte ein feiner und gesunder Duft das Haus, dem kein andrer es gleichtut. Die Kinder, in deren Natur es liegt, daß sie sich an diesem Duft ergötzen, und daß ihnen frischgebacknes Brot besser schmeckt als altes, behelfen sich in ärmlicher Weise, indem sie Brotschnitte an den glühend heißen Zimmerofen kleben, bis sie braungeworden abfallen.
Auf der Innenseite der Stubentür sind mit Kreide Zahlenreihen geschrieben, die Verkauftes oder Geliehenes betreffen. Papier war selten, und eine mit guter Farbe angestrichne Stubentür war geduldig wie Papier. Nur durfte kein Enkelkind mit nassem Finger vielsagende Zahlen verwischen, noch auch ein Witzbold von Schuldner die ganze Tür ausheben und auf dem Kopfe wegtragen.
Das Wohnhaus nebst Holzlage und einigen kleinen Nebenbauten, bei Handwerkern gehört die Werkstatt dazu, wendet seine Vorderseite zur Straße oder zum Hauptweg, die Scheune und der Stall sind im rechten Winkel dazu gestellt, und gewöhnlich schließt der Misthaufen, der mit jedem Jahre rechteckiger und ordentlicher geworden ist, die dritte Seite ab. In dem dazwischen liegenden Hofe ist der Ziehbrunnen, der vor oder neben jedem Hause steht, mit seiner dunkeln Holzfarbe und der Zusammenstellung aus dem pfeilerartigen Sockel und dem schräg aufsteigenden Ziehbaum, der eine schöne Bogenlinie in den Himmel zeichnet, mit den Gefäßen, die ihn umgeben, und den Pfützen, in denen diese sich spiegeln, die eigentümlichste Erscheinung. Jetzt verschwinden die alten Ziehbrunnen, deren Ziehbaum am untern Ende mit Steinen beschwert war: ein unerschöpfliches Thema für die Landschafter seit Rembrandt und Waterloo. Imposant ist das zweiflüglige Scheunentor, das nicht selten im Rundbogen gebaut ist. So schwer es ist, so läßt es doch Raum für die Hühner, die gern die Tenne aufsuchen, und für die Hauskatze, die dort ihr ergiebigstes Jagdrevier hat. Vor dem Scheunentor steht ein Streifen Gras, gerade so lang und so breit wie die Regentropfen vom Scheunendach fallen, nicht kürzer und nicht enger. Das Scheunentor streift die Grashalme zur Erde, wenn es sich öffnet und schließt, und sie stehn leise rauschend wieder auf.
Wenn auch unsre Bauern ihre Nahrung aus dem Acker, dem Garten und dem Weinberg ziehn, sind sie doch alle Viehzüchter. Die ärmste Witwe hat eine Ziege, der kleinste Bauer eine Kuh und ein Schwein, der Hofbauer hat zwölf glänzende Kühe im Stalle, vier Pferde, die noch praller leuchten, und drei oder vier Schweine. »Das Vieh ist nicht, was Menschen sind,« sagt man wohl, aber doch kommt es gleich hinter ihnen. Wenn man bedenkt, wie das Vieh auf den Menschen angewiesen ist, besonders im kranken Zustande, wo es sich so wenig helfen kann, begreift man die Sorge, mit der es umgeben wird. Es spricht sich darin sogar der ganze Charakter einer Wirtschaft aus; vernachlässigtes Vieh gereicht ihr zur Unehre, gerade so wie vernachlässigte Kinder, und insofern noch mehr, als dort ein greifbarer oder zählbarer materieller Nachteil herausschaut.
Da jedes Haus seinen Grasgarten hat, über dessen Rasen alte und junge Obstbäume ihren Schatten werfen und nacheinander ihre Blüten, Früchte und Blätter ausstreuen, und da diese Gärten immer viel ausgedehnter sind als die Häuser und die Hofreiten, liegen unsre Dörfer buchstäblich in Gärten. Man hat aber auch andre alte Bäume stehn lassen, als man neuen Häusern und Gärten Raum schuf, und ehe sie abstarben, sorgte man für Nachwuchs. So ist das Dorf nicht bloß mit den Bäumen seiner Gärten, sondern auch mit Eichen, Linden, Ahorn eng verschwistert. Das sind dankbare Freunde, die Stürme abhalten, Schatten spenden, den Bienen Nahrung geben. In unsern Wäldern sind die großen Ahorn- und Eschenbäume längst verschwunden, und darum ist auch der Holzwert dieser Hausbäume nicht gering. Linden wachsen immer noch in feuchten Wäldern.
Die ältern Gärten liegen zum Teil beträchtlich tiefer als der Boden, auf dem die Häuser und Scheunen stehn. Auch hier wohnen die Menschen auf ihren eignen Trümmern, die sich besonders in frühern Zeiten durch häufige Brände erhöhten. Eine künftige Zeit wird vielleicht einmal diese Scherbenberge ausgraben.
Ein Grasgarten ist weder ein reiner Nutzgarten, noch ein Park, sondern ist beides zugleich. Die Bäume stehn zerstreut über den Rasen hin, ihre Reihen haben die Tiefe eines Hains, und deshalb scheinen diese Gärten größer, als sie sind. Das Hineinziehende und Anheimelnde teilen sie mit den Buchenhainen. Von der Schönheit ihrer blütenbedeckten und fruchtreichen Zweige will ich gar nicht reden. Die Bauern kümmern sich wenig um diese Gärten, es sind die Frauen und die Mädchen, die auf dem Grase ihre Wäsche bleichen und es mähen, wenn es hoch genug gewachsen ist. Wenn die Früchte der Bäume nicht sehr reichlich sind, wird wenig Wesens daraus gemacht. Wer rationelle Obstkultur betreibt, bepflanzt Äcker oder Wiesen mit Fruchtbäumen oder zieht an Mauern Spalierbäume. Die Bäume in den Grasgärten sind deshalb oft ganz sich selbst überlassen. So wie nun der ungepflegte Wald malerischere Bäume enthält als der geregelte Forst, so stehn auch in den Grasgärten alte Birn- und Äpfelbäume, deren phantastische Gestalten, deren mit Moos, Flechten und Mistelstrauch bedeckte Äste gute Bilder geben. Ihr graues Alter stimmt zu dem altersbraunen Holzwerk des Hauses dahinter.
Für den Stadtbewohner ist der Garten das letzte Guckfenster, durch das er noch einen Blick in den Wandel der fort und fort schaffenden Natur gewinnt; für den Landmann ist er die nächste Umgebung seines Hauses, seiner Hütte, seines Wohnplatzes. Das Dorf steht gewissermaßen selbst im Garten, und jedes Haus nimmt davon einen Raum ein, den man als den Lebensraum einer Bauernfamilie bezeichnen könnte. Es ist der alte »Gard«, der umfriedigte, zaunbewehrte, nächste Besitz. Welches friedliche Bild, diese Umfriedigung, dieser »Gard« von heute, wo nicht bloß Raum für das Durchschlüpfen von Katzen und Hunden, sondern in manchem baufälligen Zaun sogar für Menschen ist. Man bedarf seiner nicht mehr als Schutz; Holunder und Rosen, die ihn umböschen, verraten die friedliche Natur der Palisade.
Man baut bei uns die Zäune aus jungen Fichtenstämmchen, die mit der Rinde dicht nebeneinander in die Erde gesetzt werden, sie haben etwas Naturmäßiges und sehen sogar zierlich aus, solange sie neu sind; wenn sie alt werden, trocknet die Rinde ab, löst sich los, und sie haben dann etwas Rauhes. Sind sie aber so alt geworden, daß die in der Erde steckenden Teile morsch werden, so neigen sie sich hierhin und dorthin und werden nur noch durch den vielleicht auch schon morsch werdenden Querbalken zusammengehalten, an dessen Außenseite sie befestigt sind. In den Ecken der Zäune stehn Holundersträucher, und früher gab es auch viel Weißdorn an ihnen entlang. An dessen Stelle sind Heckenrosen getreten, seitdem man den Weißdorn im Verdacht hat, Ungeziefer anzuziehn; sie sind auch schön, erheitern nicht bloß im Sommer die Umgebungen unsrer Häuser, wenn die weißen oder Purpurrosen mit dem goldnen Mittelring der Staubfäden blühn, sondern auch im Spätherbst, wenn der Wind die Sträucher entblättert hat, wo dann die glänzenden roten Hagebutten übrig bleiben. Die Holunderbüsche sind ernster mit ihrem dunkelgrünen Laub, ihren grünlichweißen Dolden und schwarzen Beeren. Es gibt einige Heckenrosen, an deren kräftigen Duft die edelste Gartenrose nicht heranreicht.
Der angeborne Farbensinn des Menschen offenbart sich in der Art, wie die hellen Farben der Geranien, Nelken, Tulpen, Kaiserkronen, Lilien und einiger andrer zum Schmuck des Weiß, Grau und Braun der Wände und Mauern, Tore und Dächer, der Holzstöße und Düngerhaufen herangezogen werden. In diesen Menschen, die Tag für Tag in Staub und Schweiß ihr arbeitreiches Leben einförmig hinbringen, lebt ein Sinn für die Poesie der blütenreichen Pflanzen, den kein Mühn und Sorgen ersticken konnte. So wie sie sich im Frühjahr an ihren blütenschweren Äpfel- und Birnbäumen freuen, wollen sie sich den Sommer lang an den unermüdlich knospenden und blühenden Kräutern und Sträuchern des Hausgartens und der Fensterbretter ergötzen. Je tiefer sich das Braun der Giebelverschalung mit dem Alter vertieft, desto fröhlicher soll es das sich jährlich verjüngende Leben der Pflanzen aufhellen. Neuerdings sind zu den alten Blumen des Bauerngartens Schlingpflanzen gekommen, die die Gartengitter umranken oder sich über die Grenzhecken legen. An einem Haus hat die große blaue Klematis bis tief in den Herbst ihre breiten Flächen gedrängter großer Blüten ausgespannt, deren Ausläufer phantastische Spitzen und Ranken an die Wand zeichnen, alles leuchtend blau.
Das Stadthaus hat Spiegelfenster oder zum mindesten große spiegelnde Fenster, die es recht sehen läßt; das Haus des Dorfes versteckt seine kleinen Fenster, die oft breiter als lang sind, und deren handgroße Scheiben oft direkte Nachkommen der Butzenscheiben früherer Jahrhunderte sind, in starken Balkenvorsprüngen oder unter dem Speichervorbau, der über die niedern Wohnräume vorragt. Daneben hat es Fenster oder vielmehr Guck- und Schlupflöcher in allen Größen und Formen, die weder Glas noch Laden haben, sondern schön dunkel im braunen Holze stehn: die Luftlöcher der Scheune, die Schlupflöcher der Katzen, das Stallfenster, aus dem der Mist auf den unmittelbar davor emporschwellenden Misthaufen befördert wird, wovon es Spuren trägt. Zwischen den Balken der Scheune dringt der Überfluß des Heues heraus, unter dem Dachgiebel hängen Flachsbüschel und Büschel von Samenpflanzen für das nächste Frühjahr, und daneben nisten Schwalben oder Rotschwänzchen. Zu den Öffnungen des Hauses rechne ich auch noch die Tore, die offen stehn, so lange jemand im Hause anwesend ist; durch sie alle schaut man tief ins Dunkel, aus der Haustür glüht Abends das Herdfeuer, aus dem Scheunentor blitzen die in Reihen aufgehängten Sensen. Das Dach mit den Öffnungen für den Rauch sei nicht vergessen.
Als ich zum erstenmal in das Dorf hinabstieg – die Höhen ringsherum lagen in Stoppeln, eine stoppelfarbige Schafherde war das einzige, was mit mir talwärts zog –, fiel es mir auf, wie man auf die grauen und die roten Dächer hinabschaute. Ich hatte als Stadtkind noch nie das Dach eines Hauses von oben gesehen, nun sah ich viele, große und kleine, alte und neue, graue Schindeldächer und rote Ziegeldächer. Der Herbst war da, der Hopfen war gut verkauft, die Reben versprachen einen fröhlichen Herbst. Das war der Grund, warum mir so viele neue Ziegeldächer hellrot entgegenglänzten. Es war das dritte Jahr, mit dem der Bauer zufrieden sein konnte. Es war auch die richtige Tageszeit, auf die Dächer des Dorfes hinabzusehen: die Dämmerstunde vor dem Abendläuten. Wer von uns erinnerte sich nicht, wenn er an den Anblick seines Heimatdorfes am Abend denkt, an die Ekloge des Vergil:
Et jam summa procul villarum culmina fumant,
Majoresque cadunt altis de montibus umbrae.
Das ist ein ewiges Gefühl, dessen zweitausend Jahre alte Aussprache uns wie selbsterlebt bewegt!
Es ist ein Unterschied, in welche Art von Himmel der Rauch vom Dache hineinzieht. In meinem Himmelstrapez, dessen Seiten großstädtische Mansardendächer einschließen, qualmt er verdrossen, ohne an einem befreundeten Horizonte Wolken und Bäume, verwandte Gestalten, in den Himmel hineinziehn zu sehen. Das war vor allem zur Feierabendzeit bei uns ganz anders. Hier stieg der blaue Rauch in feinem Strahl, der sich nach oben kräuselnd ausbreitete, aus dem Schornstein, dort quoll er aus dem Küchenfenster und unter den Dachziegeln hervor und hüllte das ganze Haus in seinen bläulichen Schleier. Aus einigen Türen leuchten die rotgelben Feuerpunkte der Herdfeuer. Droben wird der blaue Himmel immer weißer, und unten werden die Schatten in den Tälern und Gassen dunkler, sie steigen empor, breiten sich aus, überziehn endlich den Himmel, wo die Sterne zuerst nur als feine Punkte den Dämmerschatten durchbrechen, während unten die Feuerpunkte sich zusammenziehn und nur noch trübe glimmen, leuchten die Lichtpunkte oben immer heller.
Das Dorf hat, wie sein Leben, so seine Laute, aber es liegt sehr oft eine wohltuende Stille darüber, die in der Stadt niemals erreicht wird. Bauernarbeit geht im allgemeinen still für sich hin, Pflügen, Säen, Eggen, Mähen, Dreschen sind keine Tagewerke, die viel Reden vertragen. Die Bäuerinnen sind wohl von Natur beredter als die Männer, aber es fehlt ihnen gar oft an der zweiten und der dritten, die zum Gespräch nötig sind. Die Burschen und die Mädchen rufen einander zu und singen Sonntags Abends auf der Straße, an den Werktagen sind sie zu müde dazu. Was Laute hat und liegt in Ruhe, ist doppelt still. Was gibt es stilleres als ein Dorf, dessen ganze Bevölkerung auf dem Felde draußen bei der Ernte beschäftigt ist? Es vergehn lautlose Stunden besonders am Vormittag, am Nachmittag regt sich vielleicht ein Kind nach der Brust der Mutter; man hört dann einen leisen Gesang, der es in Schlaf wiegt. Oder es ruft eine Kuh an die Futterzeit mahnend aus dem Stalle. Man hört auch einmal ein Hämmern an einer Sense oder einer Sichel, die in der unablässigen Arbeit dieser Tage den Dienst versagt hat. Erst Abends, wenn die hochgetürmten Wagen die Dorfgasse herabschwanken, wird es lebhaft, doch sind auch dann die ungestüm heischenden Tiere lauter als die müden Menschen. Die Nacht ist lautlos bis auf die Brunnen, die weiterrinnen. Ganz vereinzelt tönt das Klirren einer Kette im Stall oder das Rauschen eines Holunderbusches, durch den sich ein Iltis windet.
Wir sind Franken, und wie überall im Frankenland und besonders unter den Rheinfranken vom Schwarzwald bis zum Siebengebirge sind schlanke, blonde und helläugige Leute häufig, doch gibt es auch schwarze, und diese sind im allgemeinen kürzer und breiter und haben breitere Gesichter. Keineswegs sind sie die lautern und regsamern, wie es drüben in der Pfalz der Fall ist, wo noch viel Franzosenblut umläuft, sondern die stillern und langsamern. In jedem Dorfe gibt es einige sehr große Burschen, wenn auch der Durchschnitt von Mittelhöhe ist und auch recht kleine darunter sind. Die Eichelberger sind eben auch so verschieden, »wies der Hirt zum Dorf naustreibt.«
Alle Bauern dieses Dorfes hatten für den, der unter ihnen lebte, eine natürliche Ähnlichkeit, die man nicht gerade Familienähnlichkeit nennen wird, weil die Abstammungsverhältnisse doch auch in diesem engen Kreise sehr verschieden sind, die aber auch nicht rein eine Sache der Einbildung ist. Ich denke mir, das wird überall so sein, wo Dörfer so einsam liegen, daß sie keinen großen Zuzug von Fremden und auch keinen starken Abfluß in Städte haben, der immer zum Teil wieder zu ihnen zurückströmt. Da sehen sich Generationen lang immer wieder dieselben Menschen und werden durch unbewußte Nachahmung einander immer ähnlicher, besonders in der Haltung; und außerdem tun sie alle Feldarbeit, welche Hantierungen sie sonst auch treiben mögen, verkehren mit ihren Haustieren, säen und ernten in Sturm und Sonne. Und die Sonn- und Feiertage versammeln sie alle in der Kirche und fast alle des Abends im Wirtshause, wo wiederum fast alle wenig und zwar hauptsächlich das dünne Bier trinken, das golden glänzt, aber nicht viel Gehalt hat. Die Eichelberger gingen alle langsam und etwas vorgebeugt, sogar die, die kerzengerade vom Militär gekommen waren; bei den Alten artete diese Haltung in vollständige Gebeugtheit aus. Gebückt arbeitet der Bauer hauptsächlich mit der Sichel, und bei uns ist die Sichel viel gebräuchlicher als die Sense, am Futtertrog, beim Holzhacken, am Rebstock, die Bäuerin beim Melken und bei den kleinen Arbeiten im Garten und beim Waschen. Auch das Pflügen mit dem schwierigen Gehn im aufgeworfnen, scholligen Boden verleitet zum Gebücktgehn hinter den rasch fortschreitenden Tieren. Der Pflüger ist überhaupt der Typus eines Arbeiters, der eine schwere Arbeit aus dem Grunde herausschafft. Auf den Wellenhügeln sah ich im Herbst die Silhouetten von Pflügern, die langsam in der klaren Luft in ihrer ruhigen Arbeit weiterschritten, und das Bild bleibt mir tief eingegraben.
Die Tätigkeit des Bauern ist vielseitig, es ist nicht das einförmig immer gleiche Rollen eines Maschinenrades, wie die Arbeit des »Arbeiters,« für alle Kräfte des Wesens eines Menschen ist Betätigung gegeben. Deswegen ist der rechte Bauer ein vielseitiger Mensch und noch darüber ein schöpferischer. Als die drei heißen Sommer der ausgehenden fünfziger Jahre eine Trocknis hervorbrachten, die noch lange nachwirkte, und allen höher gelegnen Höfen das Wasser ausging, stellte ein einfacher Bauer auf dem Schattberg zum Wasserschöpfen ein Windrad auf, das er ganz aus sich selbst ersonnen hatte, und von weither kamen Leute, um es zu sehen. Es ist dann vielfach nachgeahmt worden.
Die alte Tracht war schon vor vier Jahrzehnten in dieser Gegend verschwunden, der letzte Rest lebte in den schwarzseidnen Hauben mit zwei hinten hinabhängenden kurzen Bändern, die die ältesten Frauen trugen. Was sage ich, sie lebte? Nein, sie war im Sterben, denn kein Mädchen würde sich dazu bequemt haben. Die Bauern trugen bei der Arbeit eine kurze leinene Jacke aus selbstgewonnenem Stoff, im Dorfe von dem Färber hellblau gefärbt, den ich nie anders als mit Indigohänden gesehen habe, Sonntags trugen sie blaue Röcke mit langen Schößen, lange Beinkleider und schwarze Schirmmützen. Die Mädchen und Frauen trugen zur Arbeit baumwollne geblümte Leibchen, bei Sonne oder Regen Kopftücher, die bei diesen dunkel, bei jenen bunt waren.
Wenn das eigentliche Leben das Leben am Tage, das wache Leben ist, so lebt der Bauer mehr und länger als der Stadtmensch. Im Sommer vor Sonnenaufgang, im Winter meist lange vor Tag heraus, im Sommer mit Sonnenuntergang und im Winter lange danach zu Bett: so sind seine Tage eingeteilt. Die hohen hellen Morgen, an denen noch die Sterne in die Straße schauen, auf der sich schon die Feldarbeiter hinausbewegen, und die langen stillen Abende, wo, wenn kaum die Dämmerung verglüht ist, ein verhallender Tritt eines Verspäteten oder das Klirren einer Kette im Stalle die einzigen Laute sind: das sind Tageszeiten, die man nur im Dorfe kennt.
Das Bauernleben ist ein Leben in der Luft und im Licht, ein echtes Freilichtleben. So wie der Sämann und der Mann hinter dem Pflug oder der Egge, wenn er sich vom Himmel abhebt, ein fertiges Bild ist, so sind es die Kühe, sind es die Hühner auf dem Grün der Wiesen, die Tauben, die die Luft durchschneiden, so ist das Getreide, das wie ein Heer von Lanzen im Morgentau funkelt oder wie ein fahlgoldnes Meer dir seine Wellen ans Herz legt. So ist alles hell, scharf, körperlich. Und denkt nicht der Bauer auch darum realistischer, weil sich ihm die Dinge so scharf abheben?
Es ist kein Zufall, daß der Bauer so gern vom Wetter spricht, das heute ist, und zur Not von dem, das gestern war oder morgen sein wird, denn er lebt in der Gegenwart, und die Aufgabe des Tages füllt ihn aus. Er ist nicht vergeßlich, weil sein Gedächtnis ungeübt ist, sondern weil für ihn das Wenigste Interesse hat, was wir unsrer Erinnerung einverleiben. Für das, was ihn angeht, hat er mehr Gedächtnis als mancher fahrige Stadtmensch. Aber da er ohnehin nicht viel redet, braucht er auch nicht viel Scheidegeld von Unterhaltungsmaterial. Wer ist so oberflächlich, zu glauben, es glühe in diesen stillen Herzen keine Leidenschaft nach? Wer nach der trüben Farbe des Gesteins von außen her urteilt, wird nie eine Goldader finden. Als der blühende Sohn des Frachtfuhrmanns unsers Dorfes durch einen Sturz vom Floß im Niederrhein ertrunken war, begegnete ich dem Alten in seinem blauen Fuhrmannskittel. – Nun, wie gehts, immer landauf, landab? – Ja, sagte er, immer gleich. Es ist mir halt so, wie es in dieser Spätjahrszeit auf den Waldwegen ist: alles liegt voll dürren Blättern, man sieht keinen Finger breit Erde; aber der Winter kommt, der Boden wird kahlgeweht, und dann sieht man erst die Risse.
Die Arbeiten mit der Hand, die Geschicklichkeit, Übung und besonders viel Geduld verlangen, verdienen bei den Landleuten allein den Ehrennamen Arbeit:
Der beste Orden, den ich weiß,
Ist eine Hand voll Schwielen,
singt Fr. W. Weber. Sie sind darin beschränkt aus Gewohnheit, vielleicht ist ihnen auch der Respekt vor jeder Handarbeit angeboren. Wenn man aber bedenkt, wie mannigfaltig diese Arbeiten sind, zum Beispiel im Vergleich mit denen des Handwerkers, und wie vielseitige Überlegung sie brauchen, versteht man wenigstens etwas von dieser Schätzung.
Die einzigen Handwerke, die im Dorf etwas galten, waren die des Wagners oder Stellmachers, des Maurers und des Zimmermanns. Schuster und Schneider waren kleine Leute, hier wie in den meisten Nachbardörfern keine Altangesessenen. Trotzdem nun, daß des Schreiners Beruf war, allen Eichelbergern ihr letztes Kämmerlein aus sechs Brettern und zwei Brettchen zu zimmern, galt der Wagner bedeutend mehr, sei es, weil seine Arbeit ins Große ging und Kraft verlangte, sei es, daß man den Wiederhersteller zerbrochner Pflüge und zerrissener Eggen für notwendiger hielt als den Erbauer von Tischen und Stühlen. Aber trotzdem war die kleine, helle, saubre Werkstatt, die sich der blinde Tischler Kobus an sein Häuschen angebaut hatte, eine wichtige Stätte der Eichelberger. Wer eintrat, fühlte sich angezogen und festgehalten. Man traf oft Leute hier, die eine halbe Stunde verplauderten. Der Holzduft und der Leimgeruch wirkten wie der Mokkaduft auf Kaffeeschwestern: anregend, belebend. Wie oft saß ich dort auf einem Bretterstoß und sah die silbernen oder atlasglänzenden Bänder des Holzes unter dem Hobel sich aufwinden und herausquellen und hörte den feinen Gesang des Eisens, wie es über die feinen Fasern und die dunkeln Harzlinien hinfuhr. Wie der Blinde noch im polierten Holze die Masern und Flecken fühlte und nachfuhr, das war wie eine verborgne Weisheit der Natur.
Der Maurer hatte zwar die meiste Zeit wenig Arbeit, aber er schaute jedes Haus auf die Festigkeit seiner Mauern an, kannte ungefähr jeden Stein, der in ihnen saß, und wußte ganz gut, welche Fundamente gut waren und welche nicht. Der Zimmermann war in seiner Weise ebenso gut unterrichtet über das Balkenwerk, die Dachstühle und die Gartenzäune, und es mochte die Wirkung des Aufeinanderangewiesenseins beider Handwerker sein, daß seit Generationen Glieder derselben Familie die Mauern und die Fachwerke aller Häuser des Dorfes aufrichteten. Im übrigen waren sie echte Bauern, die das Handwerk nur nebenher betrieben. Und mit ihnen sagten sie: Nicht zu viel arbeiten, wo es nicht dringend not tut, nicht zu viel reden, aber manchmal wie der Donner daherfahren, nicht zu viel ausgeben, aber auch nicht kargen.
Zu dem schönsten, was das Dorf hat, gehört, daß die, die darin so nahe der Natur wohnen, den Wechsel der Jahreszeiten ganz anders fühlen, mitleben, sich selbst mit dem Kommen und Gehn der Blüten und der Früchte, der Sonne und des Schnees verändern. Das Beruhigende eines Lebens, das in den festen Ufern der Gewohnheit und mit den bestimmten Abschnitten des zu gleichen Zeiten immer gleichen Geschehens dahingeht, liegt eben in diesem Eingefügtsein in die Folge der Jahreszeiten, und die »Bauernregeln« lassen diesen Zusammenhang recht deutlich hervortreten. Vermittelnd tritt die Arbeit zwischen den Menschen und seine Zeit, sogar die außerordentlichen Ereignisse müssen sich einordnen.
Im Frühling und im Frühsommer wechselt Braun mit dem saftigen Grün der jungen Saaten etwas zu einförmig; da sind die Buchenwälder fast so grün wie das Getreide und die Eichen noch um einen Ton heller, gelblicher. Wenn die weißen und rötlichen Obstbäume nicht wären und die Wiesen nicht voll Blumen stünden – manche sind lila von der Masse des Schaumkrauts –, wäre es nicht halb so schön wie im Spätsommer, wo gelbe Getreidefelder neben noch grünlichen stehn und einige schon geschnitten und mit Garben bedeckt sind, wo die Wiesen lichtgrün, die Brachen bald lichter, bald dunkler, der Wald fast schwärzlich steht. Diese Aussicht ist den Bauern die liebste, in der andern ist zu viel Ungewißheit, wie all das reife, wie er es heimbringe. Wer ein paar alte Birnbäume und gesunde Glieder hat, kann zufrieden sein, sagten die alten Leute. Dieses Wort sollte das Gefühl des ursachlosen Beschenktseins ausdrücken, das jeden in einem Obstjahre überkommt, wenn sich die Bäume, für die er nichts getan hat, als höchstens die Erde um den Stamm gelockert, unter der Last ihrer Früchte biegen, und wenn er in wachen Nächten die Birnen und Äpfel ticktack ins Gras fallen hört, wo sie am nächsten Morgen oft dichter als die Herbstblätter liegen. In der Tat, wer dafür nicht mindestens das Gefühl der Zufriedenheit als Gegengabe beut, der hat es überhaupt nicht. Man muß aber zugestehn, in guten Erntejahren und besonders in guten Weinjahren gibt es schwerlich irgendwo auf der Welt eine größere Masse von Zufriedenheit als bei uns. Was die Natur bestes gibt, hat da der letzte Knecht in Fülle: süße Früchte. Der Mensch kann sie nicht alle aufessen, man läßt zuletzt die Schweine in den Grasgarten, die machen reinen Tisch. Und wenn dann die letzten Birnen gefallen sind, reifen einige der glänzend grünen Blätter zu Scharlach- und Purpurröte und erfreuen damit noch die Augen, die dafür offen sind. Über die Blumenbeete, die noch vor vierzehn Tagen in Farben strahlten, ist nun braunes Laub gehäuft, der Bienenstand ist in Stroh gehüllt, der Brunnen wird ihm bald folgen. Äste und Zweige sind kahl, wo noch ein Blatt sitzt, flattert es im Winde, als wollte es sich nächstens loslösen, nur der Kohlmeise schriller Laut tönt von den Bäumen. Stare eilen geschäftig, aber stumm auf der Wiese hin und her, um sie von verspäteten Raupen zu säubern; ebenso stumm, nur träger und mächtig groß wandelt der Nebel im Tal und zwischen den Bäumen ihrer Hänge. Drüber hin ruft es: Fort, fort! aus den grauen Dreiecken der am grauen Himmel südwärts wandernden Gänse.
So hart wie die Arbeit der Woche, so schön ist der Sonntag mit seiner Ruhe. Nichts schöneres als ein Sommersonntag unter blauem Himmel, in dessen Tiefe die Glocken ganz fern Verhallen. Gestern Abend hat man bis in die Nacht hinein Heu hereingetan, noch hängen einzelne Strähnen davon am Scheunentor, aber Hof und Einfahrt sind dennoch sauber gekehrt. Das ist gestern noch bei der Laterne mit todmüden Armen geschehen, soviel hält der Bauer darauf, daß es sonntäglich bei ihm ausschaue. Jetzt bewegt sich alles mit Ruhe und Behagen, man weiß, man muß Kräfte sammeln für die saure Woche, die kommt. Die Sonntagsheiligung ergibt sich da von selbst, vorausgesetzt, daß nicht in der Zeit der Heuernte ein drohendes Gewitter zwingt, die trockne Ernte auch an einem Sonntag in Sicherheit zu bringen. Das Getreide kommt bei uns in der Regel trocken herein, aber der Juni sendet in manchen Jahren alltäglich sein Gewitter, und dann heißt es, jede Helle, heiße Stunde ausnützen. Den »Stündlern,« die an Wochenabenden ihre Betstunden hielten, wurde bei uns, nicht ohne Berechtigung, der Vorwurf gemacht, daß sie den von Gott gesetzten und außerdem natürlichen Unterschied zwischen Wochentagen und Sonntag verwischten.
Ein echter Bauer, aus dem der Bureaukratismus noch nicht den Beamten herausgeschält hat, der angeblich in jedem Deutschen steckt, wollte gar nicht Bürgermeister sein. Im Grunde hätte er es auch nicht gut gekonnt, denn sein Hof und Feld gaben ihm alle Hände voll zu tun und boten jedem Grad von Herrschbegier Genüge. Beim Militär galt damals noch die Stellvertretung, wodurch den Bauernsöhnen die Last des Dienstes abgenommen war; so konnte auch durch diesen Kanal keine Lust einfließen, sich an die Spitze der Gemeinde zu stellen. Der ganzen Auffassung eines echten Bauern von seiner Stellung in der Welt entsprach es vielmehr, einen andern die Arbeit tun zu lassen und ihn dann zu kritisieren oder gar mit ihm zu prozessieren. Die Bürgermeister fanden es in den meisten Fällen rätlich, sich zu biegen; denn sie waren von dem Verkehr mit den Behörden her gewöhnt, Grobheiten einzustecken. Unbedingte Anerkennung fanden sie nur bei den Weibern, dem Schullehrer und dem Gemeindediener, aber schon die Knaben, die Jünglinge werden wollten und ihre erste Pfeife im Munde hatten, besiegelten ihren Eintritt in die Klasse der wirtshausfähigen Burschen, indem sie dem Bürgermeister irgendeine Ungezogenheit erwiesen. Unserm Bürgermeister, der aus der kleinen Gruppe der Dorfhandwerker hervorgegangen war, gelang es nicht, durch die Affektation einer stillen Würde, wie sie, meist etwas fadenscheinig, wie ihre schwarzen Amtsröcke, die Bezirkspaschas, vor sich her tragen, seine Stellung zu verbessern. Er hatte hinter dem Webstuhl gesessen und hatte sich durch Fleiß und Sparsamkeit zu einem kleinen Bauern mit fünf Kühen aufgeschwungen oder vielmehr aufgerungen. Weber haben, wenigstens auf dem Dorfe, eine gewisse Verwandtschaft mit den Schneidern, die von der sitzenden Arbeit herkommt und sich in einer farblosen Friedlichkeit bekundet, die niemand imponiert. Schmiede haben Dynastien gegründet oder gehärtet, Weber werfen ihr Schiffchen im Hintergrund der Welt- und Dorfgeschichte.
Wenn ich auf mein Dorf, diese Stätte voll Leben und Arbeit, herabsehe, vergesse ich nicht, daß sie zugleich ein ehrwürdiges Denkmal ist. Ihre Anfänge ragen über die Zeit hinaus, in der Karl der Große die Welt regierte. Das hölzerne Kirchlein, das als einem Priester Werhenhari gehörend im achten Jahrhundert erwähnt wird, ist zwar längst verschollen, aber man findet in den Urkunden die Stiftungen zugunsten derer, die Steine zur neuen Kirche gebracht haben. Man kennt Auszeichnungen über Käufe und Verkäufe von Äckern und Wiesen in unsrer Gemarkung. Der Dreißigjährige Krieg hat das Leben auch dieses Dorfes bis zur Erde niedergebogen, aber es richtete sich wieder auf, als von dreihundert Menschen, die es vorher bewohnt hatten, nur noch vierzig übrig waren. Aus dieser Zeit der Trübsal stammt das Grab der von der Pest hingerafften im Steingrund. Solange es Zeugnisse von unserm Dorfe gibt, haben die Menschen gelebt, gestrebt, gelitten wie heute und haben in frühem Jahrhunderten mit solcher Inbrunst ihres Endes und ihrer Seligkeit gedacht und so viel Messen, Kerzen und Bittgänge gestiftet, daß die Lebenden im Dienste der Toten stehn würden, wenn nicht die Jahrhunderte manches wieder in Vergessenheit hätten kommen lassen. Wenn man einem Eichelberger die Vorstellung ausreden will, daß die gute alte Zeit so viel besser als die gegenwärtige sei, erzählt er von der Stiftung des Jörg von Gundelfingen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die jedem erwachsnen Eichelberger, der an dem gestifteten »Jahrtag,« Sonntag nach St. Georgien, zur Kirche geht, ein Maß Wein, ein Maß Bier und Brot vier Pfennige wert zusprach und jeder Eichelbergerin, die von Anfang bis zu Ende mitbetete, eine Elle Tuch; das sollten auch die Vermöglichen nicht ausschlagen, sondern nehmen und einem armen Menschen geben. Vom Jahre 1801 an ist diese Spende unterblieben, und die Eichelberger haben davon wenigstens den Vorteil, daß sie das Ende der guten alten Zeit sicher zu datieren wissen.
Es hatte für mich einen unbeschreiblichen Reiz, mich in diese große Familie einzuleben. Denn es war eine Familie, unbeschadet der Unterschiede des Glaubens und des Standes, die die Dorfbewohner stellenweise sonderten. Diese Unterschiede waren keine Klüfte, ich möchte sie vielmehr den Sprüngen in den Töpfen der Bauernfrauen vergleichen, von denen das Sprichwort geht: Ein zersprungner Topf hält noch einmal so lange. Darin lag die Gegenwirkung zur Vereinzelung und Vereinsamung, der im Dorfleben alle verfallen, die nicht hinter dem Pfluge gehn. Deshalb gedeihen auf dem Dorfe von den Nichtbauern die am besten, die sich wenigstens nebenbei mit Landwirtschaft beschäftigen, und man merkte es den Geistlichen und Lehrern, den Ärzten und Apothekern an, wie sie ihr bißchen Acker- und Gartenbesitz, ihre paar Kühe und Pferde als die Wurzel pflegten, die sie mit diesem Boden verband. Schon die Monotonie des Landlebens würde den Stadtmenschen niederdrücken, der sich nicht durch Teilnahme an der Arbeit, die alle bindet und verbindet, mit dem Ganzen in lebendiger Berührung erhielte. Wie manche Familie in der Stadt ertrug ihr Leben nur, weil es noch nicht alle Wurzelverbindung mit dem Heimatsdorfe verloren hatte; was man den niedern Bürgerstand nennt, auch kleine Beamte, Lehrer erhielten sich durch diese Verbindung frisch und hoffend.
In einer Gemeinschaft, deren Glieder alle mehr oder weniger Landwirtschaft treiben, ist ein gegenseitiges Helfen und Aushelfen möglich wie in keiner andern, es ist aber auch notwendig. Bei der Grummeternte kommt es häufig vor, daß sie nach andauernden Frühherbstregen und Stürmen in wenig Tagen eingebracht werden muß; da treten die ältesten Verwandtschaftsbeziehungen wieder in Kraft, der entfernteste Vetter hilft dem Bauer, der das seine nicht bewältigen kann, es helfen die Nachbarn, Helfer kommen aus den Nachbarorten. Es ereignete sich, daß der alte Preußenfritz und seine noch ältere Ehehälfte zugleich krank waren, als der kleine Weinberg, den sie hatten, geleert werden mußte; der einzige Sohn war Soldat. Da traten die Nachbarn zusammen und besorgten das Geschäft glatt.
Es gibt Menschen, deren poetisches Gefühl nur im Überlieferten, im Hergebrachten blüht, und andre, die Neues nötig haben; jene haben die Poesie in sich und wissen es nicht, weshalb sie natürlich auch nicht davon sprechen, diese sind immer hungrig danach. Man nennt jene die Ungebildeten, diese die Gebildeten. Im Innern eines Bauern, der an einem schönen Samstag Abend müde von der Arbeit, aber zufrieden mit ihr, zwischen seiner Wiese und seinem Acker dem Hofe zu schlendert, ist eine Poesie, die tausend Dichter schon auszusprechen gesucht haben; so echt, wie sie in ihm lebt, ist es keinem gelungen, sie zu singen oder zu sagen.
Auch das gehört eben zur Stille dieses Lebens, daß die Leute nicht viel Aufhebens machen. Es hat jeder und hat jedes seinen Pflichtenkreis; in der Regel ist er nicht weit, der wird ausgefüllt, so gut es geht, nach jahrhundertalter Weise, und so wird auch die Erfüllung der Pflicht nach Maßen gemessen, die seit Jahrhunderten feststehn. Und so ist es mit den Gefühlen. Wenn draußen die Schneeflocken wirbelten, und man konnte auf der warmen Ofenbank sitzen und dem Schnurren der Spinnräder und den alten Geschichten zuhören, empfand man bei den Bauern und Nichtbauern die Poesie, die darin liegt; aber die Bauern sprachen nicht davon, es zeigte sich in ihrem Gehaben, die Nichtbauern meinten sie rühmen zu müssen.
Die Arbeit zog dem Leben jedes Einzelnen die Linien, denen es folgte, sie grub die Furchen, in denen diese Bächlein zu fließen hatten. Wenn man sah, wie übel die Menschen standen, die sich dem Müßiggang ergaben, wie schwer die Alten ihr Leben und sich selbst ertrugen, die »übergeben« hatten, um noch ein paar Jährlein ruhig zuzubringen, lernte man die zusammenhaltende Macht der Arbeit schätzen. Ein Geistlicher sagte: Die Arbeit der Bauern wirkt mehr als meine Predigt, und wenn von schwierigen Ehen die Rede war, hörte man: Wenn die beiden nicht gewöhnt wären, zusammen zu arbeiten und zu hausen (sparen), wären sie längst auseinander gelaufen. Die moralischen Verwicklungen sind auf ein möglichst geringes Maß reduziert, die Ströme der Leidenschaft fließen in den Betten des Herkommens zwischen hohen Dämmen breit dahin, Überschwemmungen sind selten, weil Dammbrüche fast unmöglich sind. Der Bauer geht gebückt, es ist aber doch Kraft in ihm, nämlich die Kraft, die aus der Berührung mit der Erde entspringt. Der Bauer sieht oft trüb oder träumerisch in die Welt, aber es ist doch ein Geist in ihm, der in seiner Einfachheit sicherer durch Leben und Pflichten durchleitet als der zerstückte auseinandergezogne Geist des »Gebildeten.« Was einfache Arbeit, die nicht beständig sich zerfasert und auseinanderläuft, zwischen Sonnenaufgang und Untergang leistet, lernt man nur auf dem Acker. Das Dorf bleibt eine Schule tüchtiger Arbeit, die den Tag nutzt, solange er scheint. In der Dorfgeschichte liegt der hohe Wert des Schlichten und des Ehrlichen, das dem Grunde der Dinge näher ist als das Reiche und Schillernde, und damit auch näher der Poesie. Es kommt nur darauf an, diese Natur so schlicht und so ehrlich zu geben, wie sie ist. Manchmal, wenn ich oben unter den drei Buchen die Nibelungen oder Homer las, zuckte blitzartig in mir ein Gefühl der Verwandtschaft dieses ruhigen, unbegehrlichen Lebens, das in so festen Formen sicher dahinfloß, mit dem Epischen auf. Ich konnte die Verwandtschaft nicht deuten, ich fühlte sie nur undeutlich als ein Glück. Jetzt weiß ich, dieses Leben war episch!
Zwei Dinge bleiben bestehn, wenn alles andre sich in buntem Wechsel wandelt: die Erde und die Notwendigkeit für uns, von ihr zu leben. Darin liegt das Elementare des Bauernlebens, daß es in dieser doppelten Notwendigkeit wurzelt, und deshalb ist es unentwurzelbar. Daher auch die Einfachheit des ländlichen Daseins und Wirkens, die keine Schäferpoesie deuten und nicht so ganz verzerren kann. Wer seinen Acker baut, den nährt sein Acker, wo er säet, erntet er, er sieht sein Leben vom Anfang bis zum Ende voraus, aber nicht in einer kahlen Linie, sondern umbuscht, besonnt. Der Zweck des Lebens bleibt endlich doch immer, daß es sich behauptet, und das tut es am besten auf eigner Scholle, die das einfachste Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur schafft, in die er hineingeboren ist.