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Ich liebe die Landschaften über alles, die uns in das Wesen eines Landes und in das Herz eines Volks einführen. Wir leben Monate unter einem Volke und glauben viel davon zu kennen, da erschließt sich uns das stille Heim irgendeiner unscheinbaren Familie, und wir machen in den paar Zimmern, in den Hausgeräten, in dem vertraulich plaudernden Kreis offner Menschen, unter einem Baum oder vor einem Kamin Entdeckungen, die wir niemals geahnt hatten. Wir haben einen Blick in das Innerste des Volks getan, gerade den Blick, der den meisten Besuchern fremder Länder so selten zuteil wird. Es gibt auch Landschaften, die uns so einführen. Newyork ist eine europäische Kolonie, die Umgebungen von Newyork haben nichts Charakteristisches; erst eine Hudsonfahrt bis Albany hinauf ist ein erster Schritt zur Kenntnis Nordamerikas. Aber doch nur ein Schrittchen. Die Seebadeorte an der gegenüberliegenden Küste von Long Island sehen gerade so englisch aus, wie gewisse Straßen von Newyork deutsch. Ich habe einen tiefen Blick in das Eigentümliche von Nordamerika erst getan, als ich in einem Landstädtchen von Neuengland lebte. Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich auf einer grünen Wiese aus, die sich zu einem See von unwahrscheinlicher Bläue hinabzog. Diese Wiese war von rötlichen Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen lose Blöcke desselben Gesteins, auch diese aufdringlich rötlich. Sie schienen zu sagen: Diese Wiese möchte weich und schwellend sein, und dieser See möchte sich lieblich in den Himmel hinausdehnen. Es ist nichts damit. Wir sind in Neuengland, wo solche Weichheit nicht geduldet wird. Darum liegen wir hier und zerschneiden mit unsrer Härte das Bild, damit man weiß, es ist ein rauhes Land. Ich stieg gegen den See hinunter und betrat eine kurze Straße von kleinen weißen Häuschen mit grünen Fensterläden, die an einer breiten mit mächtigen Ulmen bepflanzten Straße lagen. Diese Bäume mußten gepflanzt worden sein, als die ersten »Blocks« des Städtchens ausgelegt wurden. Es fiel mir auf, daß in dem Städtchen, das einen lebhaften Holzhandel betreibt, wenig Unterschied in der Größe der Häuser und Gärten war. Auch waren sie so ziemlich alle gleich gut gepflegt. An vielen Fenstern Blumen, an einigen interessante Gruppierungen von Ahorn- und Scharlacheichenblättern in goldnen und purpurnen Herbstfarben, über Türen schöne Zweige von der Balsamtanne, deren dürre Nadeln den süßesten Himbeergeruch aushauchen, oder von der zierlichen Schierlingstanne. Ich sah hochgewachsene, hagere, ernste Männer und schlanke junge Mädchen, etwas blaß, die mich frei aus großen Augen anschauten. In einem Hause, wo man »zahlende Gäste« empfängt, saß ich dann zu Tische mit einem Feldmesser, zwei Kaufmannsdienern, einem männlichen und einem weiblichen, und einer Lehrerin und fühlte mich von einem Takt und einer Höflichkeit umgeben, bei denen ich die Einfachheit der Umgebungen vergaß. Das war die erste Erfahrung von dem Amerika, das fern ist von dem törichten, zwecklosen Lärmen und Treiben der großen Städte, von ihrem Luxus, ihrer Not, ihrer Zersetzung und ungeheuern Lüge, ihrer Bestechung, ihrem Trunk und Laster. Hier fing ich erst an, die großen Kräfte zu begreifen, die von Neuengland ausgegangen waren und Amerika gestaltet und umgestaltet haben. Und es klang mir von diesem Tage an nicht mehr ruhmredig, wenn Neuengländer behaupteten, nur Leute, die hasty pudding, ein neuengländisches Nationalgericht, zu würdigen wüßten, verstünden die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

So weit will ich nun von dem altthüringischen Boden, auf dem ich jetzt stehe, wo Saale und Unstrut zusammentreffen, nicht ausgreifen. Aber sicherlich kann man keine deutschere Landschaft finden als hier, wo man ja auch räumlich so recht im Herzen von Deutschland ist. Von allen Höhen schaut der Wald herein, der Rest altgermanischen Urwalds; in allen Tälern grünen und blühen die Felder und Gärten der Urenkel der alten Thüringer, die vor bald anderthalb Jahrtausenden hier zu roden begonnen haben. Die Dörfer im Wiesental und die Häuschen an den rebenbepflanzten Hängen rechts und links von der Unstrut sind sauber gehalten, die Wege gepflastert; da und dort sieht man einen Neubau oder Umbau im Werk. Entsprechend sind auch die Feldwege in Ordnung, und daß sie fast überall von Kirschbäumen begleitet werden, erhöht den Eindruck einer sorgsamen Wirtschaft. Es ist die Frucht einer Kulturarbeit von vielen Jahrhunderten und der ungestörten Friedensarbeit von fast drei Generationen, die von einem zahlreichen, fleißigen und genügsamen Volke verrichtet worden ist. Wie anders sah es hier aus, als die Kanonen von Jena herüberdonnerten, und als sich über die laubwaldbegrünten sanften Höhen über Freyburg die von der Leipziger Schlacht her flüchtenden Franzosen ins Unstruttal ergossen! Das Unstruttal versank nach den Kriegsstürmen in eine Ruhe, die noch tiefer war als der Schlummer andrer deutscher Landschaften, und es hat von diesem Ruhezustand mehr behalten als sie. Die Eisenbahn, die es durchzieht, macht kein großes Geräusch, die saubere Landstraße ist nur mäßig belebt. Wenn du von Naumburg kommst und den Bergweg ins Unstruttal wählst, statt die längere Landstraße über Freyburg, und auf dem schattigen Waldpfad gegen Balgstädt heruntersteigst, liegt die Welt so wohlig eng umschlossen vor dir, daß du meinst, diesen grünen Winkel nie mehr verlassen zu sollen. Du siehst über die rotbraunen Dächer hinweg in den Einschnitt des Unstruttals zwischen den geradlinigen dachfirstartigen Höhen des Muschelkalks aus der einen und den weichern Hügeln des Keupers auf der andern Seite. Es ist ein echt thüringisches Bild, das bei Jena und in der Koburger Gegend gerade so wiederkehrt. Dazu die Erinnerung an das türmereiche Naumburg, das man zurückblickend in den baumreichen Saaleauen verschwinden sah.

Wir sind hier mitten im Thüringerland, die Unstrut verdient ja mehr als die Saale der eigentliche thüringische Fluß zu heißen. In ihren grünen Wiesen, die, rechts und links von Getreidefeldern umgeben, sanft zu Waldhügeln anschwellen, geht sie friedlich dahin. Nur die Fährstellen, die den Poeten gefallen, haben leicht etwas Unfertiges, Zerrüttetes. Der rasige Ufersaum ist zerrissen, in den Fluß hineingetreten. Ein paar Steinblöcke und ein Brett, das sich nächstens spalten wird, vermitteln den Übergang zum Wasser. Eine altersgraue Bank unter einer knorrigen Weide dient als Warteplatz. Müde Menschen ziehn vor, sich daneben in den Schatten der Weide zu betten. Ein alter Mann ruht hier im Grase, das Gesicht durch den Hut gegen die Sonnenstrahlen geschützt, ein kleines Mädchen neben ihm, ein weißes Tuch über dem Gesicht, ein kleines Bündel liegt ihnen zu Häupten, keines Diebes gewärtig. Nichts stört ihren Schlaf. Auch nicht der lange Kahn, der jetzt zwischen den Rasenufern die Unstrut unhörbar herabgleitet, schweigend gelenkt von zwei Bewohnern des alten Memlebens, die Steine nach Naumburg führen. Seltsam ist der Eindruck des langen Fahrzeugs auf dem schmalen, stillen Wasser, an dem Gras und Blüten bis zum Rande stehn.

Der Wald der Thüringer Vorberge ist ebenso reich und mannigfaltig, wie der des eigentlichen »Waldes,« des Gebirges, einförmig ist. Es ist ein heiterer Wald, wo ich den Charakter der Thüringer eher wiederfinde als in den dunkeln Fichtenhainen von Eisenach oder am Inselsberg. Hier herrschen Eichen und Buchen vor, man sieht aber auch Linden mit herrlichem Blätterdom, als stünden sie vor einer Dorfkirche und nicht unter dem ganzen Volk von Bäumen. Das Unterholz sind Haselnüsse, Maßholder mit weißer Dolde und Weißdorn. An den Rändern steht blütenreich der Weißdorn. Maiblumen und Vogelgesang nehme ich als liebes Andenken aus dem heitern Walde mit. Solcher Wald begleitet die Unstrut auf beiden Seiten des Tals. An wenig Stellen ist er gelichtet, und dort ziehn über die runden Hügel breite Getreidefelder weg, die vor dem Frühsommerwind grün und silbern fließen und wogen. Wenn auch waldreich, ist doch das Land ein Garten. Es gleicht einem Garten, den eine breite lebendige Hecke dunkelgrün einfaßt. Der Garten ist nirgends weniger Illusion als auf dem Wege, den ich heute wandre. Begleitete mich nicht von Laucha fast bis Kirchscheidungen eine Syringenhecke, die die Straße entlang gezogen ist, wie man sie sonst nur in Hofgärten trifft? Und ist nicht der Bahnhof von Wallhausen ganz in Rotdorn eingehüllt?

Wall und Graben und zwei mächtige Tore sind um Laucha erhalten, aber außer der Kirche und dem unbedeutenden Rathause ist nichts da, was einen solchen starken Schutz verlangte. Die Wahrheit zu sagen, hat die Zuckerfabrik an der Straße nach Kirchscheidungen mir viel mehr den Eindruck der Größe gemacht als die ganze Stadt, und nicht bloß mit ihrem hochragenden Schornstein. Es ist eben doch etwas Beengendes in dem Eingeschlossensein eines spätern Geschlechts in die Schranke, die sich ein vor vierhundert Jahren kräftiges und schaffensfreudiges Geschlecht zog. Es sind Fesseln. Manches würde heute anders angelegt werden, wenn auch nicht gerade besser. Und wenn das Leben hier kräftiger strömte, hätte es mit dem alten Gemäuer aufgeräumt, das mehr kleinlich als hart wirkt.

Burgscheidungen liegt auf einem der langsam zu der Unstrut abschwellenden bewaldeten Hügel. Er ist durch das schluchtenartige Blindtal von dem hügligen Massiv losgelöst. In einen Winkel darunter ist sehr behaglich das Dorf hineingelagert, dessen rote Dächer und spitzer Schieferturm in einem wohltätigen Kontrast zu dem breit daliegenden ernsten Schloß darüber stehn. Alles darunter und daneben, jede Lücke ist mit Wald ausgefüllt, der in Park verwandelt ist. Und von der Unstrut aus ist das Ganze ein lauschiger Waldwinkel, der ganz besonders durch den Kontrast mit dem Kalkplateau gegenüber wohltut, das scharf wagerecht abgeschnitten ist. Einige Pappeln sind als Senkrechte auf die wagerechte Umrißlinie des Muschelkalkbergs gefällt. Glücklicherweise hält sich das sonnenbeschienene, silbern leuchtende Gewölk darüber nicht an dieses Muster. Nur ein ganz, ganz kleines Stückchen Natur kann wie ein Steuerbogen liniiert werden. Die weißen Sommerwolken scheinen der Pappeln zu spotten. Jetzt sehe ich ein Gedräng pausbäckiger Engelsköpfe mit langhinwehenden Haarsträhnen, und gleich darauf segeln Wolkenschiffe mit blähender Leinwand überladen einher; sie werden sich vermutlich am Kyffhäuser vor Anker legen. Ein fächerförmiges Strahlenbündel durchsichtig milchigblauen Sonnenlichts sprüht aus einer Wolkenlücke über Berg und Tal herab. Unversehens hat sich ein heroischer Zug über die Landschaft verbreitet und drängt die Idylle zurück. Ich muß daran denken, daß in diesem Tale der größte deutsche Historiker, Leopold Ranke, groß geworden ist, in dessen gelassener Ruhe sich etwas von dem Frieden des Heimattals abspiegelt. Eine solche Einwirkung ist ja schwerer nachzuweisen als der Einfluß der politischen Lage des damals noch sächsischen, zwischen preußischen und thüringischen Gebieten eingeschlossenen und vom übrigen Deutschland abgeschlossenen Ländchens auf das mehr als neutrale, kühle Empfinden des Jünglings Ranke gegenüber der napoleonischen Herrschaft und dem preußisch-deutschen Befreiungskrieg. Aber wer die Talenge von Nebra hinter sich hat und sieht das bescheidne, friedliche Wiehe am Fuße der dichtbewaldeten Finne, in dem von dunkeln Hügelwellen ganz umringten Tal, der empfindet etwas wie klösterliche Stille. Der Geist mag forschend auch von hier aus über den Berg- und Waldkranz hinweg die Welt zu begreifen suchen, die Seele wird ruhig.

In Laucha hörte ich dem Gespräch des Wirts mit einem Rübenbeamten oder Zuckerrat zu. Der Mann, der grau gekleidet war, dachte und redete grau, abgeklärt, sein Wesen war insipid und schwerflüssig wie Melasse. Ich vernahm zu meinem Erstaunen, daß die Probleme der weiblichen Erziehung auch in diesem stillen Tal die Menschen beschäftigen. Es war die Rede von einem Junggesellen, einem begehrten Gutspächter. »Nee, et is nischt mit dieses Schema von so Farrerschwitwen und derartigen Frauenzimmern. Wissen Se, da werde den Mädchens nur so Possen in Kopp gesetzt. So mag er keene. Wer so eene nimmt, der ärgert sich, so lang er lebt. Die kommen nicht aus des Schema von Bildung heraus. Da geht son schnippiges Ding uf de Bahn un läßt sich von ihrem alten Vader den Koffer nachtragen. Nee, nur so keene.« Ich gab dem Manne Recht und freute mich außerdem, daß er in dem Worte Schema eine so schöne ornamentale Verstärkung seiner Rede entdeckt hatte. Die war allerdings nicht so originell wie meines Wirts in Roßleben Ausdruck »muggelig« und »es muggelt.« Das sollte den dunstig-trüben Himmel, die Neigung zu Trübungen anzeigen. Vielleicht ist das Wort in der Weidmannsprache dieser Gegend heimisch? Jedenfalls wußte mein Herr Wirt damit besser als Falb das Unberechenbare des Witterungsgangs, besonders in gewitterreicher Junizeit zu verhüllen.

Ich spann bei den Gesprächen des redseligen Mannes meine stillen Glossen über das Thema Bildung weiter. Die im Ausland vielbesprochne und früher auch mehr als jetzt bewunderte deutsche Volksbildung interessiert in Amerika weite Kreise. Aber wer weiß genau, was es ist, und wie weit es geht? Besteht die Volksbildung darin, daß die Handwerksgesellen und Dienstboten auffallend korrekte Briefe, besonders Liebesbriefe schreiben und ihre bildungsarmen Schundblättchen und Kolportageromane lesen können? Ich finde in meinen Erfahrungen doch etwas mehr als das. Ich meine, bei den deutschen niedern Klassen sei die Wirkung der Volksbildung besser zu erkennen als bei den darüber liegenden. Sie halten fest, was sie gelernt haben, und ihre Arbeitsweise, wo sie nicht in Fabriken verdummen, läßt ihnen Zeit, einen gesunden Menschenverstand damit in heilsame Verbindung zu setzen. Daß die Schule ihren Kindern zugute kommt, die man nirgends in Deutschland sich so abscheulich verwahrlost herumtreiben sieht wie bei uns in Amerika, kann niemand leugnen, der das deutsche Leben auch nur von der Straße her kennt.

Aber allerdings bei den höhern Klassen steht in Deutschland das, was die Frauen lernen, in keinem Verhältnis zu ihren Lebensaufgaben und auch zu ihren Lebensansprüchen. Man mag an der Bildung, die die Amerikanerinnen in ihren Colleges empfangen, vielerlei aussetzen, besonders daß sie sich zersplittert, daß sie zu vielerlei und das Einzelne deshalb nicht gründlich bietet, aber man wird sicherlich nicht leugnen können, daß es ernst damit genommen wird. Die Bildung, oder sagen wir besser die Schulung der jungen Mädchen wird in Deutschland in der Regel bis zum fünfzehnten Jahre fortgesetzt, dann folgen noch einige beliebige Privatstunden, besonders in neuern Sprachen, Kunst- und Literaturgeschichte, und mit dem Eintritt der Ball-und Verlobungsfähigkeit hört auch dieses so ziemlich auf. Zu den merkwürdigsten Erscheinungen im deutschen Frauenleben gehört dieses frühe Abgelöstwerden der Schulbildung durch etwas, was Haus- und Weltbildung bedeuten soll, aber keins von beiden ganz erzielt. Die Deutschen sind auch in dieser Hinsicht im Übergang. Ihre alte enge, aber gründliche Erziehung der Mädchen zu Hausfrauen, die etwas Tüchtiges leisten, möchten viele mit einer freien, mannigfaltigern Bildung vertauschen. Aber sie scheinen lange zu diesem Übergang zu brauchen. Die alte gute deutsche Hausfrau ist im Aussterben, und die neue deutsche Weltdame mit Universitätsbildung ist noch nicht fertig. Die jungen Amerikanerinnen bleiben in der Regel bis zum zwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahre in ihren Colleges. Wenn sie sich verloben, vollenden sie ruhig ihre Kurse. Es fehlt auch nicht an »höhern Semestern,« denen das Collegeleben so gut gefällt, daß sie zulegen. Jedenfalls hört das Bildungsbestreben nicht so haarscharf mit einem gewissen Alter auf wie bei uns. Und alle Bildung geflissentlich an den Nagel zu hängen, sobald der Verlobungsring am Finger glänzt, wie es unter Deutschen lächerlicherweise so oft geschieht, würde eine Amerikanerin mindestens für geschmacklos halten. Ich meine, immer beobachtet zu haben, daß wenn auch die amerikanische Mädchenbildung in andern Beziehungen Mängel hat, doch eine ernstere Auffassung in Bildungsfragen durch sie in die ganze amerikanische Frauenwelt hineingetragen worden ist. Es ist für sie kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Sogar bei dem Vergleich von englischen und amerikanischen Mädchen ist mir aufgefallen, wieviel mehr Opfer die Amerikanerinnen als Lernende zu bringen wissen. Daß sie als Lehrerinnen Hervorragendes leisten, dürfte heute außer Zweifel sein. In Kanada wirken Amerikanerinnen und Engländerinnen gerade in Schulen häufig nebeneinander, und die unparteiischen Beobachter schätzen dort die Amerikanerinnen wegen der Ausdauer und Sachlichkeit, die sie an alles heranbringen, was sie tun.

Was der Frauenbildung in Amerika einen Vorsprung von ähnlichen Bestrebungen in der ganzen übrigen Kulturwelt gib, das ist, daß sie auf einem ganz sichern Boden steht. Niemand fällt es ein, die Frage aufzuwerfen, ob Mädchen dieselbe Bildung empfangen sollten wie Knaben. Sogar auf die einst unbestrittne Coeducation, die gemeinsame Erziehung von Mädchen und Knaben in derselben Anstalt, erstreckt sich diese Fraglosigkeit. Das ist aber die natürliche Folge der in der Entwicklung der jungen Gesellschaft des germanisch-keltischen Amerikas tief begründeten Gleichstellung der Frau mit dem Manne in allen Lebensgebieten. Der Deutsche mag daran mancherlei zu bekritteln finden, er wird doch in vielen Beziehungen einst auch darin einfach nur dem Amerikaner nachahmen können. Die Frauenhochschule, den weiblichen Arzt, Apotheker und Anwalt, die große Stellung, die der Frau in Armen- und Schulräten eingeräumt ist, wird man auch in Deutschland in nicht viel Jahren als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Dann erst wird eine gerechte Würdigung der Kräfte und der Anlagen der deutschen Frau möglich sein, und das Herabsehen der Amerikanerinnen wird vielleicht früher aufhören, als man glaubt. Ich wenigstens bin überzeugt, daß die Hebung der Frauenbildung gerade den deutschen Frauen ungeahnte Vorteile bringen wird. Denn ihre besten Eigenschaften liegen tief und wollen mit einiger Geduld ans Licht gerufen werden. Einstweilen liegt in den Urteilen amerikanischer Frauen über ihre deutschen Schwestern sicherlich ein gutes Stück Pharisäertum, und es wirft nicht gerade ein schönes Licht auf den weiblichen Charakter, daß die amerikanischen Schulmänner den deutschen Mädchenunterricht, auch den höhern, viel billiger beurteilen als die amerikanischen Schulfrauen. In den weiblichen Kreisen der Vereinigten Staaten gilt es für ausgemacht, daß für höhere Frauenbildung in Deutschland überhaupt nicht gesorgt ist. Die Damen, die darüber sprechen und schreiben, haben eben keine Ahnung, daß man Bildung auch auf eine andre Art erwerben kann als in ihren Colleges. Es wäre müßig, sich mit solchen Vorurteilen auseinanderzusetzen, wenn man ihnen nicht einige Berechtigung zusprechen müßte. Diese vorlauten Damen haben Unrecht in der Geringschätzung dessen, was in Deutschland im Mädchenunterricht tatsächlich geleistet wird; aber ihr Urteil hört auf Vorurteil zu sein, wo es sich auf das richtige Gefühl gründet, daß hier in weiten Kreisen eine unbestimmte Abneigung gegen eine weitere Ausdehnung und Vertiefung der Frauenbildung besteht, und daß sich diese Unlust hinter der Abneigung verbirgt, die Frauenbildung überhaupt ernst zu nehmen. Mit weiblichem Takt, und gerade Takt hat die Amerikanerin in hohem Grade, fühlen sie heraus, daß die deutschen Männer ihre Abneigung gegen höhere Frauenbildung nicht logisch zu rechtfertigen wissen, vorwiegend weil sie das Körnchen Egoismus nicht zugeben wollen und können, das darin liegt.

Doch ich berühre hier Fragen, die zu weitausschauend sind, als daß man sie auf einem Spaziergang behandeln sollte. Ich wende mich lieber zu den Gesprächen meiner Gefährten im ** Gasthaus zu Laucha zurück, die sich an das Nächste hielten und mir über Greifbares nützliche Winke gaben. Vom Weinbau wurde erzählt und von edeln alten Weinen, die Wennunger Bauern in ihren Kellern verwahren, von der Beliebtheit der Saal- und Unstrutweine, die Kenner mit Frankenweinen verglichen. Man müsse sich nur an den Bodengeschmack gewöhnen, dann finde man sie kräftig und bekömmlich. Trotzdem werde Bier in steigender Menge erzeugt und eingeführt, und früher unbekannte Sorten, wie das helle, bittere, dem Pilsener gleichende, aber durch einen Rauchgeschmack ausgezeichnete Grätzer Bier aus Posen, würden durch die fremden Radfahrer eingebürgert, deren wohlbegründeter und zweckbewußter Durst sich mit Lagerbier nicht stillen lasse.

Mein Wirt war ein bierkundiger Mann, der in Querfurt dem Studium der Elemente der Bierbrauerei obgelegen hatte. Wissen Sie, sagte er, daß wir hier am Rande einer merkwürdigen Bierinsel leben? Ich habe Weißbier, aber in Leipzig und Halle weiß man kaum etwas von Weißbier. Liegt doch Döllnitz, die klassische Heimat der Gose, dieser salzig-trüben, in der langhalsigen, breitgedrückten Flasche gärenden und ihren zähen braunen Niederschlag absetzenden Abart des Weißbiers, im Saalkreis. Im Anhaltischen erscheint schon wieder die kühle Blonde, und in Magdeburg gibt es schon förmliche Weißbierstuben, die an Clausing in der Zimmerstraße in Berlin erinnern. Merkwürdig ist es aber, wie wenig die zum Teil doch recht trinkbaren Berliner Braunbiere, die sogenannten bayrischen, hier vorgedrungen sind. Ich kenne zwar Städtchen in der Provinz Sachsen, wo man Nürnberger, Würzburger, vom Münchner nicht zu reden, und sogar Dortmunder Bier trinkt, aber keins, wo etwa Patzenhofer denselben Rang einnähme. Jeder Wirt in diesen Landen sowie im Anhaltischen und im Sondershäusischen, der sich achtet, hat eine bayrische Biersorte im Schankraum. Vollends im Königreich Sachsen, da wird das Berliner Bier und überhaupt das norddeutsche vollständig Nebensache. In Leipzig muß man es mit Mühe suchen. Hier treten die einheimischen Lagerbiere mehr in den Vordergrund, die aber fast alle nur beschränkte Horizonte haben. Der sächsische Weltruf – ich meine den Ruf und Ruhm in der sächsischen Welt – einzelner unter ihnen, wie des Dresdner Waldschlößchen, früher auch einmal des Lützschener, ist in den letzten Jahren nicht mehr gewachsen. Es sind im Grunde doch auch immer nur matte Brühen.

Als ich das Gespräch auf den engern Umkreis zurücklenkte, antwortete mir auf meine Frage, woher die »Leben« der Belleben, Wegeleben, Aschersleben, Sandersleben kämen, der graue, freundliche Zuckerrat: Das ist einfach so wie bei uns in der Altmark, wo es die Alvensleben gibt. Da waren einmal alte Familien angesessen, von Belleben, Wegeleben usw., die sind aber nun ausgestorben, wie das so geht, und die Namen sind den Ortschaften geblieben. Sie müssen wissen, wir haben kolossal alte Häuser in der Provinz. – Ja, aber die Leben, meinte ich, die müssen doch trotzdem wo hergekommen sein. Wie kamen denn die alten Herren zu diesen sonderbaren Endungen? – Ja, wenn man das wüßte, was die sich dabei gedacht haben. Sie waren die Herren im Lande und konnten nennen, was sie wollten und wie sie wollten!

Wenn ich auch in dieser Antwort nichts von dem historischen Genius Loci entdecken konnte, der in dem Geburtstal Leopold Rankes walten mußte, so meinte ich doch eine gewisse Wurzelgemeinschaft zwischen der historischen Auffassung meines Gefährten und der Rankischen ganz tief unten zu entdecken. Der große Historiker ist so wenig wie dieser kleine Gastwirt des Unstrutstädtchens ein Götzendiener der Logik gewesen. Er hat den Dingen und Menschen ihr Recht, das Recht ihrer Zeit, ihres Orts und ihrer freien Bestimmung gelassen. Sein Amt als Historiker war kein Richteramt. Die Theorie meines heutigen Gewährsmanns über den Ursprung der -leben ist offenbar nicht fest begründet. Aber sie erkennt die Bedeutung der bodenbesitzenden Edeln für die Geschichte Thüringens an und zeugt insofern von historischem Instinkt. Es war mir auch interessant, zu hören, wie das Volk im Tale von Memleben und des Kyffhäusers an die alte sächsische Kaiserzeit anknüpft. Ein Bürger von Roßleben sagte: Über das Kyffhäuserdenkmal mag man verschiedner Meinung sein, daß es nun da ist, freut uns doch. Wir sind ja immer kaiserlich gewesen. Sie werden das wissen, hier zwischen Harz und Saale. Schade, daß es nur ein Denkmal ist. Wenn ihm Berlin einmal zu groß wird, sollte sich der Kaiser in unsrer Gegend ankaufen. Warum sollte es ihm nicht ebenso gut gefallen wie weiland dem Kaiser Otto? Mitten drin wäre er z. B. in der Gegend von Artern, so in einem Dreieck zwischen Berlin, Dresden und Kassel. Die Eisenbahnverbindungen müßten dann jedenfalls verbessert werden. So etwas Angenehmes, wie den Blick über die Goldne Aue, kann ihm weder Sanssouci noch Babelsberg bieten. – Ich fragte: Warum hat man denn nicht lieber gleich die Kyffhäuserruine mit ihrem stolzen Würfelturm zu einem Kaiserschlößchen wieder aufgebaut? Der Lokalkundige winkte aber entschieden ab: Da ist doch Frankenhausen zu nahe. Es ist doch eine häßliche Erinnerung an diese Mordschlacht, wo die armen unschuldigen Bauern die Irrlehre Thomas Münzers tausendweis büßen mußten. Unglücklicherweise sieht diese ganze Sandsteinlandschaft ohnehin schon blutrot aus. – Aber Sondershausen? Da ist ja doch ein prächtiges Schloß! – Da kam ich erst recht übel an: Die Sondershäuser sind froh, daß sie ihren Fürsten nicht mit Arnstadt teilen müssen; nein, die behalten, was sie haben. Wer weiß, ob es dem Kaiser dort auf die Dauer gefiele? Sondershausen ist sehr still, zu still für so einen weltgereisten Herrn. –

Der Kyffhäusergipfel steht vor uns, seitdem wir die Talenge von Nebra verlassen haben. Er gehört zu dem Ostende eines großen über Südwest nach Norden herumziehenden Bergbogens. Daher der freie Blick nach Norden hinaus in die Fruchtebene der Goldnen Aue, die langsam zu einem der Wälle mit fast horizontaler Begrenzung ansteigt, über die der Brocken kühn hervorragt. Im Süden erheben sich hinter dem ganz nahen Südzug des Kyffhäusergebirges, der das Tal verdeckt, zuerst die einförmig welligen Züge der Hainleite und Schmücke, und dahinter die kaum viel formenreichere Linie des Thüringer Waldes. Die Hainleite ist hier eine einzige schön rundliche Flachwölbung, dem Vogelsberg nicht unähnlich. Wie der Brocken aus dem Harzgewölbe, steigt eine leichte Erhebung aus dieser Anschwellung. Der Kyffhäuser ist eins der waldreichsten Gebirge Deutschlands, und zwar ist er bewaldet mit Buchen und Eichen von unten bis oben. Selten sieht man stolzere Exemplare. Nur die paar Lichtungen, wo Wirtshäuser und Jagdhäuser stehn, sind waldfrei, und einige Steinbrüche, wo man den schönen roten Baustein gewinnt. Die Wege sind Parkwege. Auch die breite Landstraße von Frankenhausen nach Roßla ist auf große Strecken mit lebendigen Hecken umgeben. Erfreulicherweise ist hier nicht die zudringliche Verschwendung mit Wegweisern üblich wie in andern Teilen des Thüringer Waldes. Man geht unbehelligt dahin. Der Eindruck dieses ununterbrochnen Waldes ist merkwürdig. Die Größe des Einfachen, Einförmigen verbindet sich mit dem Feinen und Zarten unzähliger Baumarten, die in Form und Farbe so vielfach wechselnd das Waldkleid zusammensetzen. Die so wohlbekannte Mulden- und Rinnenformen nehmen einen sehr weichen Zug unter diesem lebendigen Kleide an, das stillfröhlich sproßt und wächst und den harten Stein überquillt und überflutet.

Du erwartest nun, daß ich vom Kyffhäuserdenkmal spreche? Mein Lieber, erlasse mir das. Es war eine banale Idee, die schöne, altersgeweihte Sage vom Rotbart, die den Waldberg umwebt, in einen klotzigen Steinturm zu bannen, aus dem die so ganz unmärchenhafte Gestalt des alten Wilhelms in schwerer Bronze herausreitet. Nun, es ist geschehn, und nachträgliche Kritik ist zwecklos. Ich wundre mich nur, daß Bildhauer und Baumeister den landschaftlichen Effekt ihrer Kolosse nicht beobachtet haben. Wer von Sangerhausen her gegen den Kyffhäuser geht, sieht an der ostwärts gewandten Flanke eine Warze hervorwachsen, die sich vergrößert, bis sie wie ein Kanonenrohr aus einem Schiffsturm hervorragt: das ist der aus der Turmwölbung herausreitende Kaiser! Die deutsche Denkmalsucht hat viel Geld verpufft und viel Geschmackloses, ja Häßliches dafür geschaffen. Aber so, wie sie hier einen schönen Berg, eine schöne Ruine und eine tieffinnige Sage verballhornt hat, gelingt es ihr hoffentlich auf deutschem Boden nicht zum zweitenmal. Wiewohl vom Hermannsdenkmal bei Detmold auch ein Wörtlein zu sagen wäre.


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