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4. Auf dem Marsch

Als wir am Abend des 6. August, es war gerade noch hell genug, einen herrenlosen französischen Rotschimmel, der vergnügt in einem Kleefeld weidete, aus der Nähe nicht mit einer buntgescheckten wiehernden Kuh zu verwechseln, über den südlichen Teil des Schlachtfeldes von Spichern gegen Forbach zu zogen, hob der Musketier Reindel, seines Zeichens Schuster, einen im tiefen durchgeregneten Ackerboden stecken gebliebnen Schuh auf, einen kleinen schmalen Schuh, wie für einen Damenfuß, hielt ihn prüfend in die Höhe und sprach gelassen das Wort aus: Die sind verloren. Wenn die Franzosen alle so beschuht sind, sind sie von vornherein verloren; damit marschiert man nicht einmal nach Koblenz, geschweige denn nach Berlin. Für uns Kommißbestiefelte klang das tröstlich, denn wenn auch manchen der Schuh drückte, konnte er sich doch sagen: Dieses Schuhwerk drückt dich, weil es stark ist, und eben deswegen wird es die Märsche aushalten, marschiere dich nur erst einmal hinein. Sei froh, daß du nicht strumpfig oder barfuß über das Feld hüpfst wie dieser Franzose, dem dieser Schuh gehört hat. Wo mag er jetzt sein, der Träger dieses flachen leichten Schuhs? Da die weiße Gamasche, die diesen Schuh festhielt, wohl auch irgendwo im Straßengraben liegt, so kann man sich ihn nur als Barfüßler mit aufgekrempelten Rothosen vorstellen.

Frohlocke aber nicht zu früh, deutscher Infanterist, der du mit dem schweren Zündnadelgewehr, dem plumpen Faschinenmesser, zwei Patrontaschen, Tornister mit Reservemunition, Brotbeutel und Feldflasche, beide möglichst gefüllt, und »eisernem Bestand« von Reis und Kaffee, und in der Regel noch mit einer Schaufel, Axt oder – Kaffeemühle beladen, Märsche zu machen haben wirst, von denen du dir an den längsten Übungsmarschtagen in der Garnison nichts hast träumen lassen. Alte Soldaten, die 1866 mit dabei gewesen waren, sagten es schon in der Pfalz voraus: Mit dem Marschieren ists wie mit der Bauernarbeit, es geht in einem fort weiter und wird nie weniger. Frankreich ist ein großes Land, da sinds viele Märsche bis ans Ziel, ungerechnet die Rückmärsche und Flankenmärsche. Mein Freund und Vorgesetzter, der Unteroffizier Reiske, mit dem ich ein Semester in Jena verlebt und zum Teil auch studiert hatte, meinte dasselbe, als er einmal nach einem staubigen Marsch aus dem tiefen Gras eines lothringischen Obstgartens heraus, in dem wir auf dem Rücken lagen, wie im Traum die Worte sprach: Der große Kuno hatte schon Recht, die Geschichte ist Bewegung.

Ach so, du meinst den Kuno Fischer.

Natürlich, ich mußte jetzt an dieses bedeutende Wort denken, und wie ruhig er dabei auf dem Katheder stand, als ob er allein diese Bewegung nicht mitmachen werde.

Sage mir aber, wie betonst du den Satz. Ist die Geschichte Bewegung, oder ist die Geschichte Bewegung?

Nun, beides. Weil die Geschichte Bewegung ist, ist die Geschichte Bewegung. Deshalb eben marschieren wir jeden Tag dreißig Kilometersteine ab, und wenn das Quartier seitwärts liegt, noch ein paar dazu. Ob sich Kuno Fischer jemals von dieser praktischen Anwendung seiner Behauptung eine Vorstellung gemacht hat? Wäre er doch mit dabei!

Das ist das Privileg der Philosophen, daß sie eine Masse von Dingen, die die andern Leute im Schweiße ihres Angesichts und im Staub ihrer Füße tun, in ein paar Worte zusammenfassen, die man fast nicht versteht. Das eine ist dann Geschichte, und das andre ist Philosophie der Geschichte und hält sich für besser.

Scheint dir nicht das erste wichtiger als das andre?

Sicherlich, aber dennoch hätte ich so Lust, einmal diese Bewegung zu unterbrechen, einen ganzen Tag zu ruhn und nichts als Seifenblasen zu machen; sie sollten so schön, so schön sein, und groß sollten sie werden.

Ich komme auf meine Marscherinnerungen zurück. Es ist mit dieser Bewegung in der Geschichte eine ernste Sache. Es gibt Soldaten, die in der Schlacht ihre Kugel kriegen, und andre, die sich wahrhaft zu Tode marschieren, und jene sind zu beneiden. Traurige Auslese, der beide zum Opfer fallen, die im übrigen Dienst zu den besten gehörten! Kaum kommt die Marschfähigkeit zu ernstlicher Erprobung, da zeigt es sich, daß einige, die man zu den Kräftigsten gerechnet hatte, die Probe nicht bestehn. Zunächst besteigen sie den Kompagniekarren, was in dieser ersten Feldzugszeit niemand gern tut, dann hinken sie wieder mit, bleiben neuerdings »fußlos« liegen, werden, wenn man nichts mehr mit ihnen anzufangen weiß, einmal in ein Lazarett gesteckt oder von einem energischen Arzt gar nach Hause gesandt; in der Regel sind diese Unglücklichen nach ein paar Tagen scheinbar hergestellt, und sobald sie wieder in Reih und Glied stehn, fängt das Übel von neuem an. Einer meiner Kameraden hatte das Unglück, jedesmal mit wunden Füßen irgendwo hinter der Front zu liegen, wenn es zum Schießen kam; er war ein braver Soldat, aber er geriet in den Verdacht, ein »Drücker« zu sein, und der blieb an ihm hängen. Andre sind geborne Marschsoldaten, die nie eine Blase an der Sohle, keine wunde Stelle am Knöchel, kein Hühnerauge gehabt und sich besonders keinen Wolf gelaufen haben. Wenn sich die andern am Ziel eines Tagesmarsches ins Stroh legen, wandern diese frisch umher und erzählen jedem, der es hören will, das komme alles von einem frischen Walnußblatt, täglich in den Helm gelegt, oder von der absoluten Vermeidung jedes Fußwaschwassers. Für uns gewöhnliche Menschen war es jedoch nie eine Kleinigkeit, dreißig Kilometer auf staubiger Landstraße zwischen Bäumen, die keinen Schatten warfen, in Hitze und Staub, in einer dichten ausdünstenden Masse von Menschen zu wandern, wo zuletzt jeder schweigt, mechanisch in die Spuren seines Vordermanns tritt und dessen Helmbeschlag oder auf den Tornister geschnallten Blechkessel wie in Hypnose betrachtet. Man zählt die Schritte, die Telegraphenstangen, die Straßenbäume, und höchstens ein Kilometerstein oder ein Wegweiser gewinnt einem oder dem andern, der noch verhältnismäßig frisch geblieben ist, einen Ruf oder mindestens eine Handbewegung ab. Die Gesichter sind dann übermäßig gerötet, das Blut kann durch den mit dreißig Kilogramm Gewicht beschwerten Körper nicht rasch genug seine Wege machen. Das Weiße der Augen sogar ist gerötet, die weiße Staubwolke, die weithin über der Landstraße liegt, pudert die glühende Stirn im Kampfe mit den Rinnen des niederfließenden Schweißes. Und doch sitzen die Helme nicht im Nacken und macht das Gewehr keinen größern Winkel als fünfzig Grad mit Kopf und Hals seines Trägers. Aber mit dem Kommando »Halt!« liegen diese rastlosen Marschierer auf beiden Seiten der Straße, keiner nimmt sich Zeit, den Tornister abzuschnallen, könnte doch in einer Minute der Marsch fortgesetzt werden, nur einen Haken am Gürtel macht man mit der Rechten frei, es handelt sich vor allem darum, dem Blute freiern Lauf zu lassen und möglichst viel Luft in tiefen Atemzügen zu gewinnen. Ob auf Steinhaufen oder im Straßengraben, im Gras oder im Staub, sie fallen automatisch nieder. Aber instinktiv lassen sie die mittlere Straße frei, denn sie wissen aus Erfahrung, daß in solchen Situationen die vorrasselnden Batterien wie der Blitz da sind. Nach zwei Minuten ist der regelmäßige Gang des Atmens wiedergewonnen, das Blut zirkuliert frei, die bestaubte Kolonne setzt ihren Marsch fort.

Der Bauernsohn marschiert von vornherein anders als das Stadtkind, er ist besonders ein Virtuos im leichten Wegschreiten über Feld und Stein, besonders über frischgeackertes Feld, wo am schwersten durchzukommen ist. Solche Märsche sind ja sehr oft der Anfang einer Schlacht oder eines Gefechts, und sie ermüden einen Teil der Mannschaft außerordentlich und gewiß zur Unzeit. Die Kompagnien in eine breite Front auseinandergezogen, der Schützenzug ein paar hundert Schritte zurück, so sieht man sie durch Schollen und über Löcher hin sich vorarbeiten; immer ein mühseliger Anfang. Wie viel frischer und heiterer geht es auf braunem Heideboden vorwärts, wie man ihn in den Vogesenhöhen und wieder auf den Hügeln an der Sarthe hatte! Um über frischgepflügten Acker mit Behagen hinzusteigen, mußt du in der Furche hinter dem Pflug gegangen sein und mit harter Sohle die Erdschollen zertreten oder zur Seite geschleudert haben; Spaziergänger, die nur Pflaster und Asphalt betreten, lernen nie diese volle Rücksichtslosigkeit des »durch« und »drauf.«

Es gibt noch einen andern fachmäßigen Marschiervirtuosen: das ist der Landbriefträger in Waffen, dessen Beine auf lange und viele Wege »eingegangen« sind; er fällt beim Gehen, wie eins von den Blechmännchen auf dem Jahrmarkt, die mit Uhrwerk gehn. Außerdem hat er eine eigentümliche Vertrautheit mit der Landstraße, ist auf du und du mit Meilensteinen und Wegzeigern und kann keinem Hund einen Steinwurf ersparen.

Solange der Soldat nicht stumpfsinnig geworden ist, bietet er seine letzten Kräfte auf, in seinem Verbande zu bleiben. Ich möchte sagen: in Reih und Glied zu bleiben, ist die Bedingung des guten Gewissens beim Soldaten. Er schleppt sich in seinem Bataillon mit, bis er zusammenbricht. Das ist nicht bloß Marschdisziplin, es steckt darin das Hängen des Menschen am Menschen, besonders an denen, die er gewöhnt ist, denen er gern folgt und gehorcht. Kein schlechteres Zeichen von innerm Verfall einer Armee, als wenn viele aus Reih und Glied treten und in irgendeiner Entfernung nachziehn. Der Soldat, der seine Nebenmänner, seinen Vor- und Hintermann verläßt, mit denen er sozusagen verwachsen sein muß, gibt sich selbst auf, ist kein rechter Soldat mehr, ist, auch rein menschlich genommen, ein Tor oder ein Subjekt, das auf Schlechtes sinnt. Die Entfernung zwischen ihm und der Truppe nimmt nicht bloß räumlich rasch zu; sie wächst moralisch mit der Entfernung noch schneller, verderblich und verführerisch schnell.

Daß auf dem Marsch das Trinken mit der Zeit eine Sache von entscheidender Bedeutung wird, weiß jeder Fußgänger. Der Durst ist eine Qual, und was tut der Soldat nicht, um sich ihrer zu erwehren! Damals lastete noch der medizinische Unsinn auf uns, daß auf dem Marsch nicht getrunken werden durfte, unter den vielen Sünden, die die höhern Militärärzte auf dem Gewissen haben, eine der leichtsinnigsten, denn damals schon mußte man wissen, daß mäßiges Trinken den von Hitze und Staub halb Erstickten nicht schadet. Statt dessen sahen wir in so manchem elsässischen Dorf die Kübel voll kühlen Wassers, die die mitleidigen Einwohner an die Straße stellten, einfach ausleeren. Der Herr Stabsarzt befahl das vom hohen Rosse herab. Der Durst hat etwas Bohrendes, das Gemüt Beunruhigendes und zugleich Verlockendes. Welcher Hochgenuß, ein kühler Trunk! Nur die Liebe ist noch verführerischer. Der Hunger dagegen ist ein sozusagen ruhigeres, schwereres Gefühl, das langsamer vorrückt und belastet. Daher die häufigen Disziplinarvergehen aus Durst. Wenn Fröschweiler Wasser gehabt hätte, wäre es besser auch für die Sieger gewesen: dem schweren Elsässerwein verdankt man einige dunkle Flecken in der Geschichte des Feldzugs von 1870. Sonst war ja der Wein eine unbeschreibliche Wohltat, und natürlich ganz besonders auf dem Marsch. Schon der Anblick einer vollen Feldflasche rief heitere Empfindungen wach, und noch wenn sie leer war, würzten Gespräche von ihrem gewesnen Inhalt die langen Marschstunden, und es wurde das Zitat darauf angewandt: Aber ging es leuchtend nieder, leuchtets lange noch zurück! Allgemein war längere Zeit die Klage, daß man nicht sehe, was man trinke, nicht bloß den Wein, auch die Fliegen und andre Zufälligkeiten. Da brachte ein sinnreicher Kamerad eine hornene Wagschale »zustande,« die in einem Kramladen gedient haben mochte, und diese kreiste, verehrt und begrüßt wie der Becher des Königs von Thule, voll des purpurroten Saoneweins und Burgunders reihein reihaus und weckte immer neue Heiterkeit, besonders nach dem sinnreichen Vergleich mit einer altdeutschen Trinkschale aus dem Schädel eines Feindes, die Reiske irgendwo in einem »Nibelungenmuseum« gesehen haben wollte. »Der liebe melancholische Kaffee,« wie ihn die sächsische Minna von Barnhelm nennt, wurde zwar seiner Wärme wegen frühmorgens gern geschlürft; aber gleich danach galt er nur noch als »schwarze Brühe,« und diese in die Feldflasche zu füllen, wie einige Aufgeklärte anrieten, leuchtete nicht ein, so lange man über roten Wein zu diesem Zweck verfügte. Purpur erweckt ein Gefühl von Reichtum, erinnerte sich jemand irgendwo gelesen zu haben; nun, dieses Gefühls wollten wir, von allem andern abgesehen, uns nicht ohne weiteres begeben.

Nachtmarsch, bei deinem Namen senkt sichs düster wie späte Dämmerung um mich herab, und ich höre die Kolonne schlurfend, schweigend dahinziehn. Töne, die am Tage verwehen oder sich im Licht verflüchtigen, werden nun laut; man hört jeden Fehltritt, jedes Straucheln und das Klappern des Schlosses, wenn das Gewehr von der einen müden Schulter auf die andre wandert. Das dumpfe Rollen der Geschütze und Protzen und der Marsch der Kanoniere, die ganz hinten in der Kolonne kommen, machen jetzt eine ganz besondre Musik, Säbelscheiden, Karabiner, Satteltaschen, Schmierbüchsen, und was sonst um Pferde und Geschütze baumelt, klingt darein. Aber man hört auch aus dem tastenden Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde. Was war das für ein Ton? Ein lautes Schnalzen, wie wenn ein tiefsitzender Pfropfen aus voller Flasche gezogen würde. Es ist ein letzter Versuch des Kompagniespaßvogels, dem Schlaf zu wehren. Wirksamer ist der unmutige Ruf, dem Lachen folgt: Keinen Nachtmarsch mehr als Vordermann von Leible; der lange Kerl sieht heute in jedem Chausseebaum das Gespenst eines Franzosen, und indem er sich zagend umsieht, tritt er mir die Hacken ab!

Auch der Mann mit gesunden Sinnen hat seine Visionen, wenn er so ins Dunkel hineinschreitet und vergeblich die Augen erweitert, um heller zu sehen. Gerade das, sagt man, bewirkt, daß man Dinge sieht, die nicht sind. Doch davon weiß ich nichts. Wohl aber erinnere ich mich, wie bei meinem ersten endlosen Marsch in die sternlose Nacht hinein das Dunkel immer tiefer sank, und es nun aussah, als höbe sich das Land zu unsern beiden Seiten dem Himmel entgegen, erst die Bäume, dann der Acker, und wir zögen dazwischen hin wie in einem tiefen dunkeln Tal. Zuletzt aber war alles schwarz wie Sammet, nur selten huschte noch ein dünnes Licht über die Bajonette hin. Ich fragte mich, war das der Widerschein weit offner Augen, die sich Licht aus dem Dunkel erschauen wollen?

Der durchschnittliche Friedensmensch weiß gar nicht, was Schlaf für eine Macht ist, er duselt in seinem weichen Bett so langsam hinüber und freut sich, wie »Morpheus Arme« ihn ganz unmerklich umfangen. Wie sollte er es wissen, da die rechte Müdigkeit ihm kaum je Blei in die Adern gegossen hat? Welche Macht der Schlaf über den Menschen hat, weiß nur der, dem Nächte ohne Schlaf vergangen sind, sei es auf Posten, sei es auf dem Marsch; er dämmert zuletzt am hellen Tage so hin, marschiert wie ein Automat, ohne klares Bewußtsein, und schläft eine Sekunde nach dem Befehl »Ruhen!« im nächsten besten Straßengraben wie ein Kohlensack. Der Tag ist ihm nur eine etwas hellere Dämmerung. Hunger und Durst sogar gehn im Schlafbedürfnis vollkommen unter. Der Mensch mag überhaupt nicht mehr reden, er lebt und geht wie im Traum. Wenn aber dann aus diesem Hindämmern ein wirklicher Schlaf wird, erweckst du nicht so leicht den Müden, der tief, ganz tief in das Dunkel dieses gliederlösenden, traumlosen Schlummers hinabgesunken ist, und wenn ihm die Zeit dazu gegeben ist, wacht er nach zwölf Stunden zwar auf, versinkt aber wieder tief und schläft, ob es Tag oder Nacht sei, seine vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden ab. Dann aber welche Frische, welches Behagen! Und nun neues Marschieren, neue Nachtwachen, zur Not Kämpfe, bis sich endlich wieder ein Quantum Blei in den Gliedern angesammelt hat, das von neuem niederzieht. Die Hauptsache dabei ist jedoch der Kopf. Bleibt dieser klar, so ficht und marschiert der gesunde Soldat trotz der bleiernen Müdigkeit, denn das Blei verflüssigt sich immer wieder und wird lebendiges Quecksilber, sobald es ins Feuer geht. Man muß in solchen todmüden Kolonnen marschiert sein, das Ganze eine große Gemeinschaft Schweigender, die nur mit Blicken, höchstens abgerissenen Worten und kleinen gegenseitigen Hilfeleistungen oder Rücksichten miteinander sprechen, und man muß dann mit solchen Kolonnen auch ins Feuer gegangen sein, daß man weiß, was für Kräfte im Menschen ruhen können. Das, denke ich mir, war zum Beispiel das Große in der Leistung der Preußen bei Belle-Alliance.

In den Ruhezeiten verliert der Schlaf von seiner Macht; er wird nicht gerade abgesetzt, durchaus nicht, wird vielmehr ein guter Kamerad, der freundlich unser Lager teilt; aber man schläft, wenn man will, besonders viel bei Tage, weil der Tag langweilt, und sitzt dafür tief in die Nacht hinein am Feuer, stößt Scheite hinein, daß die Funkengarben stieben, und erzählt sich Geschichten, aus denen ebenfalls Funken stieben, Geschichten, für deren Schauer oder Unmöglichkeit der Tag zu licht wäre. Daß uns die Sorge nicht einschlafen ließ, ist uns durch die Siege erspart worden. Heimweh dagegen, das ist leider allenthalben ein starkes Mittel zum Wachhalten! Ich könnte davon erzählen, habe aber auch dieselbe Erfahrung gemacht wie andre, das dem, der sich nächtelang auf seinem Lager wälzt, unfehlbar in der Kälte des Morgens gerade die kühle halbe Stunde vor Sonnenaufgang, den Schlaf bringt. Auch den sorgenvoll Wachesten wehen die frischen Lüfte in Schlummer, die der aufgehenden Sonne vorauseilen.

Der Regen erkaltet den Marschierenden das Herz und erschlafft die Muskeln, die Lasten wachsen, die wir tragen, jedes Kleidungsstück, das wir anhaben, jede Brotkrume im Proviantbeutel wird zum Schwamm, der sich vollsaugt. Unwillkürlich vergleicht man sich mit dem Esel der Fabel, der sich mit einer Ladung Schwämme im Bache niederließ und nicht mehr aufstehn konnte. O wäre ich doch der klügere Esel, der es mit der Salzladung so machte! Aber ich fühle, wie ich immer schwerer werde, trotzdem daß Regenbäche aus Rock und Hosen rinnen, und jede Naht ein Tal geworden ist, das seinen eignen Bach beherbergt. Oft habe ich in Friedenszeiten der Poesie des Regenwetters das Wort gesprochen, und als behaglicher Wandrer freute ich mich des Netzes aus Wasserfäden, das die regnende Wolke quer über das Tal vom Himmel bis zum Boden spannte. Auch heute hüllt mich das Netz des Regens mit tausend Fäden ein, aber ich komme mir wie gefangen darin vor, und es flicht sich für jedes Gewebe, das ich durchschreite, ein neues um mich her. Durch die ganze lange Marschkolonne geht dieses Gefühl des Ankämpfens gegen das Nasse, das gegen uns prallt, uns umschlingt und umschlängelt, anfeuchtet und abkühlt. Mein Unteroffizier geht noch immer aufrecht, während fast alle den Kopf vorstrecken, als wollten sie dem Regen entgehn, der nur um so dichter in die Lücke zwischen Hals und Binde regnet; er ist auch hier wieder der, der das erlösende Wort findet: Jetzt sieht man erst, was für ein Vergnügen es sonst war, in der freien Luft zu marschieren; daß mir morgen keiner über Staub jammert, wenn der Regen aufgehört hat, und wir vierzig Kilometer zurücklegen! Auch stellt er Betrachtungen an über den Unterschied des Gefühls, das die Flüssigkeit hervorruft, die man vorn hinter die Binde gießt, und dem des Regenwassers, das von rückwärts seinen Weg hinter die Binde findet. Er fand diesesmal keinen Anklang, denn wenn man den Mund zum Lachen öffnen wollte, floß oder regnete eben dieses geschmacklose Wasser hinein.

Dem Wasser sind wir überhaupt nicht Freund. Als Regen verdirbt es uns nicht sofort den Humor, aber die Uniform geht aus der »Façon,« und hauptsächlich schadet es dem Gewehr. Auf Regen folgt nicht bloß der Sonnenschein, sondern viel sicherer der Putztag und die gefürchtete Gewehrvisitation. Der Kampf mit dem Rost fällt dem gewehrtragenden Soldaten fast so schwer wie der mit dem Feind und ist oft nicht so erfolgreich. Deswegen verglich der Unteroffizier Reiske in einer seiner Abendbetrachtungen den Büchsenmacher, als Führer im Kampfe mit dem Roste, mit den Göttern; auch er kämpft gegen das Schicksal, kriegt es aber nicht unter, und der Rost ist nichts als die Zeit, die alles annagt und zerfrißt, am meisten den Stahl, dessen grauer Glanz im Gewehrlauf der Stolz des guten Soldaten ist.

Aus fortgesetzten Betrachtungen dieses und andrer Philosophen in Uniform ergab es sich auch, daß der Nutzen des Wassers im Kriege ist, daß der Soldat sich hineinlegt, wenn er biwakiert, denn es macht die Erde weicher; wird diese aber zu weich, und schlägt überhaupt das Gefühl der Nässe durch, dann schleppt man Steine herbei, einen für den Kopf, einen für den Rücken, einen für die Füße. Steine sind immer hart, aber unser Gefühl für ihre Härte ist nicht immer dasselbe, und es wird die Behauptung gewagt, daß rundliche Steine, die trocken sind, sogar den Eindruck einer gewissen Weichheit machen, die man vielleicht besser als Molligkeit bezeichnen würde. Sobald man aber Wasser in den Körper gelangen läßt, vulgo trinkt, wird das Gefühl für die äußere Nässe verstärkt, denn nun drücken die beiden Wassermassen gegeneinander, was nur für Fische ist. Daraus zog Reiske die Folgerung, daß ein Lager im Wasser, das durch Steineinlagen trocken und warm gemacht ist, bei einem guten Trunk Wein in manchen Beziehungen einem Lager im Bett bei innerlichem Gebrauch von gewöhnlichem Brunnenwasser vorzuziehn sei. Ich muß leider zur Steuer der historischen Wahrheit hinzufügen, daß diese Erwägungen erst längere Zeit nach nassen Biwaks im Trocknen vor einem guten Feuer angestellt worden sind, ebenso wie ich auch aus ganz trocknem Stroh einer luftigen Scheune heraus folgende hydrologische Betrachtung anstellen hörte: Beim Naßwerden ist das Gute, daß man nicht nässer werden kann; wenn du in einer Ackerfurche liegst, und es kommt bei plötzlichem Platzregen ein Bach herangeschossen, als wollte er dich wegtragen, so bleibe ruhig liegen, denn du bist nun einmal naß, gerade so wie ich dir rate, ruhig liegen zu bleiben, wenn du totgeschossen bist, denn du bist nun einmal tot.

Als ich im Jahre vor dem Kriege zum erstenmal nach Frankreich zog, war eine meiner ersten Frage: Wie sehen französische Landstraßen aus? Wie wandert es sich auf ihnen? Wem begegnet man, und zu wem gesellt man sich als Wandrer? Ich staunte dann die breiten Heerstraßen an, die großenteils aus der Zeit des ersten Napoleon stammen, freute mich der saubern, rasenberänderten Fußwege, die an ihrer einen Seite aufgeworfen sind, begegnete zwischen Mülhausen und Altkirch dem ersten Radfahrer auf hohem, klapperndem Instrument, schaute mich aber vergebens nach den Wirtshäusern an der Straße um, in denen Dumas drei Musketiere ihre fabelhaften Mahle zu sich zu nehmen pflegten.

Dagegen freute ich mich herzlich, daß in hellen Wiesengründen an murmelnden Bächen gerade so fette Mühlen lagen wie bei uns, oft einen Büchsenschuß vom Dorf entfernt, in malerischer Vereinzelung. Das Moos leuchtete an ihren dunkeln Rädern gerade so tiefgrün wie jenseits des Rheins, ihre Mühlknappen schienen mir ebenso weiß zu sein, und wenn ich nahe genug kam, glaubte ich aus dem Rauschen des Mühlbachs dieselben poetischen Stimmen zu vernehmen, die Wilhelm Müller so liebenswürdig verdolmetscht hat; dessen Gedichte mit den Müllerliedern hatte ich nämlich vor nicht langer Zeit bei einem Verkauf alter Schmöker bei F. A. Brockhaus in Leipzig billig erstanden.

Jetzt sehen die schönen französischen Landstraßen freilich anders aus. Jetzt liegen tote Pferde oft wie Meilensteine regelmäßig längs den Straßen, und dazwischen Reste von zusammengebrochnen Fuhrwerken. Die Wegweiser sind umgeworfen, die Straßenbäume abgehackt, auf zertretnen Äckern erkennt man an den Reihen von Erdlöchern mit Kohlenresten den Lagerplatz; es ist ein französischer gewesen, das beweisen die Zeltpflöcke, die man in der Eile im Boden hat stecken lassen. Es ist furchtbar einsam auf der Landstraße, wir, die hier marschieren, sind die einzigen Menschen weit und breit. So will es der Krieg: er muß den Verkehr für sich und kann keinen neben sich haben, nur die Armeen wollen sprechen, was sich sonst so reg und laut hier bewegt, schweigt. Von den Stangen hängen die zerschnittnen Telegraphendrähte herab, nur der Wind spielt zwischen ihnen mit schrillem Ton, im übrigen sind sie stumm geworden. Deswegen hängen auch von diesem gesprengten Eisenbahnübergang die Schienen verbogen in die Luft, und gelegentlich ist eine einmündende Straße abgegraben. In der Kompagnie wird von den lebhaftern, unterhaltungsbedürftigen Leuten geklagt, daß die Landstraßen so verödet seien. Nicht einmal einem alten Schacherjuden begegnete man, geschweige denn einem frischen Bauernmädchen! Gefangne Franktireurs in ihren blauen Blusen, die hinter die Front transportiert werden, wahrscheinlich zum Totschießen, sind tagelang die einzigen Zivilisten, denen man auf oder an der Landstraße begegnet. Die Äcker liegen unbestellt oder sind nur zur Hälfte bestellt. Man ist erstaunt, irgendeinen Menschen auf dem Felde arbeiten zu sehen. Im Dorfe dieselbe Stille und fast dieselbe Einsamkeit wie draußen. Wenn aber draußen etwas wie Naturruhe eingekehrt ist, die etwas Großartiges, fast etwas Erhabnes hat, trägt die Stille des Dorfes den Charakter der Verdrossenheit: die Läden und die Türen geschlossen, sodaß der Befehl zum Öffnen gegeben werden muß, die paar Menschen, die sich herauswagen, mißtrauisch oder ängstlich. Man merkt es, sie fühlen sich überflüssig, sind auf die Seite geschoben, sie schleichen herum, arbeiten können sie nichts, zu essen haben sie nicht viel, und ob sie auch nur ihr Haupt in der eignen Hütte niederlegen, hängt von der Menschlichkeit des Feindes ab. Im Morgen- oder im Abendlicht, wo die schweren Schatten dieser müden Jahreszeit so dunkel fielen, meinte ich manchmal, das Land grinse mich wie ein Totenkopf an, in dessen hohle Augen die ewige Sonne, die von all diesen Leiden nichts weiß, vergeblich hineinscheint. Ist das nicht der Tod, diese Häuser ohne Fenster, mit zerborstnen, von der Feuersbrunst geschwärzten Mauern, den eingestürzten Torwegen, den gefällten Bäumen, für die keine fröhlichen Menschen mehr da sind, die sie umschatten möchten? Das französische Dorfcafé mit seinen drei zersessenen Rohrstühlen und seinem einbeinigen Tischchen und verschossenen Billard ist von seinen lungernden Gästen verlassen, weder die einförmigen politischen Gespräche noch die Dominosteine, deren Geklapper damit eine gewisse Ähnlichkeit hat, sind zu vernehmen. Sogar in den kleinen Städtchen herrscht am frühen Morgen Totenstille; sie sind immer wenig belebt, jetzt machen sie fast den Eindruck, ausgestorben zu sein.

Niemand mag sich zum sorgenvollen Tagewerk erheben, nur der Soldat, hier so recht der Herr, zieht singend zum Tore hinaus. Was kümmert ihn die Zerstörung in diesem Lande! Es sind Elementargewalten wie Blitz und Sturm, die hier gehaust haben. Er zieht daran vorüber wie ein Wandrer an einem furchtbaren Bergsturz. Wohl ist es wahr, daß die gleichmäßige Fremdheit und scheue Wildheit so vieler tausend Menschen, an denen man gleichgiltig, wenn nicht feindlich vorübergeht, und so vieler tausend Orte, an die sich keine andre Erinnerung knüpft als: hier stand ich auf Vorposten, oder: hier ist mein Kamerad gefallen, das Herz verarmt und gleichsam ausdörrt. Ein so starkes Gefühl der Fremdheit reizt um so stärker zur Sehnsucht nach einem Lande, wo nichts und niemand unbefreundet ist. Hüte dich aber, diese Sehnsucht zu nähren! Suche lieber den Menschen in deinem Feinde, so du seiner habhaft werden kannst, als daß du deine Gedanken zuviel in die Heimat schweifen läßt. Heimweh ist ein bitteres und gefährliches Kraut. Hier ist dein und deiner Gedanken Platz!

Aus dem Frieden der Nacht erwacht man jeden Morgen neu zur Wirklichkeit des Krieges. Wie gut, daß man in der Regel sofort viel zu viel zu tun hat, als daß man den Träumen von Heimat und Heimkehr nachhängen könnte! Und wie gut, daß die Morgenkühle so etwas Kräftigendes, Aufregendes in sich hat! Der schwarze Kaffeesud, den man glühendheiß hinuntergießt, trägt von innen heraus zur Ermunterung bei. Die Korporalschaft sammelt sich und eilt im Laufschritt zum Ort des Abmarsches. Man freut sich jeden Tag von neuem, ins Bataillon einzurücken, es ist doch ein imposantes Ganze, diese lange Front von tausend Mann in sechs oder zwölf Gliedern. Eben noch voll Bewegung, Reden, Lachen, jetzt still, daß man ein Blatt fallen hört, und in eine Linie gerichtet: Bild der Unterordnung von tausend selbständigen Menschen, und eben deshalb Bild der Ordnung und der hohen Zweckmäßigkeit. Mit Musik hinaus aus dem fremden Dorf, und nun »ohne Tritt,« d. h. Riemen gelockert, Brotrest des Frühstücks gekaut, Zigarre angezündet. Unser Marschieren ist in der ersten Stunde ein reines Wandern, und da wir Deutsche sind, der Wanderpoesie trotz Waffenlärm nicht bar. Wie freuen wir uns der Sonne und des Taues, wir schlürfen die frische Morgenluft, die uns freudig entgegenweht. Was schadets, daß man nicht an schönen Punkten verweilen, die Blicke genießen kann, um so mehr sehen wir im Fluge: die Welt ist neu, in die wir hineinmarschieren, der Tag ist jung, und wir sind jung. Freilich führt jeder Schritt, den wir vorwärts tun, von der Heimat weg. Denken wir nicht daran, schauen wir vorwärts. Doch halt, noch einen Blick zurück, einen letzten auf die Forts von Metz. Wie rötlich sie von ihren schöngeformten Hügeln herableuchten! Vorgestern verließen wir sie, und sie sind schon so weit, so weit, als lägen hundert Stunden zwischen uns. Der Gedanke der Trennung ist in diesem Leben voll Bewegung und Veränderung ungeheuer expansiv, er rückte sie fern von uns weg, als wir nur wußten, daß wir westwärts weiterziehn würden.

Noch eine praktische Bemerkung zum Schluß. Der Wagentroß ist das Mittelalterlichste in der ganzen modernen Kriegführung. Mit Pferden und undisziplinierten, unwilligen Fuhrleuten tausend Wagen aus grundlosen Wegen mitzuführen, die unter Umständen die Bewegungen der Truppen hemmen und einfach stehn gelassen werden müssen, steht durchaus nicht mit allen den sinnreichen Verbesserungen auf andern Gebieten der Kriegführung zusammen. Bei Le Mans haben wir im Januar 1871 die Bagage von drei französischen Armeekorps abgeschnitten und als tote Masse in und um die Stadt liegen sehen. Tausende von Fuhrwerken aller Art, mit und ohne Fuhrleute, mit toten und halbtoten Pferden, und noch mehrere unbespannt, Wagen zer- und ihre Ladungen erbrochen, von den hungernden Pferden angenagt, die verwildert waren und Kämpfe miteinander aufführten. Und was hängt nun alles von dem richtigen Gang dieser Kolonnen ab, vor allem Verpflegung und Munitionsersatz und der Rücktransport der Verwundeten und der Kranken. Wenn wir bedenken, welche Anforderungen an die Beweglichkeit der einzelnen Körper allein schon die Größe der Truppenmasse stellt, die ein künftiger Krieg in Aktion setzt, und wenn wir die Umgehungs- und die Rückmärsche erwägen, zu denen die weittragenden Waffen nötigen werden, muß uns die Reform des Militärtransportwesens als eine der ersten Notwendigkeiten der Kriegsbereitschaft erscheinen. Die Manöver der letzten Jahre haben meines Erachtens an rasch zu legende Feldeisenbahnen und an Selbstfahrern noch nicht das gezeigt, was die Beweglichkeit der Feldarmeen verlangt.

*

Zurückkehrend bin ich an einem Sommermorgen von 1871 auf anderm Wege, von den blutgedüngten, weiten ebnen Getreidefeldern von Amanvillers her ins Moseltal hinabgeschritten. Über dem Fluß stieg ein feiner blauer Hauch auf, von der gestern gepflügten Erde zog leis und kühl der Bodengeruch her, der immer an Leben, an Keimen erinnert; jemand fragte, ob er von der blutgedüngten Erde nicht schärfer wehe. Die ersten Arbeiter wanderten auf das Feld hinaus, und eine Kuh, die am Wege wiederkäute, hob langsam den Kopf und schaute uns unbesorgt nach. Das tägliche Leben schien fast wieder eingerenkt zu sein. Der Sturm war heftig gewesen, aber, am menschlichen Leben gemessen, kurz. Man mußte sich sagen, ein tüchtiges Volk könnte viel leisten, so Gott ihm lange genug das Leben und die Kraft ließe.


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