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Südwestdeutsche Wanderungen

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Der geniale Verfasser der »Geschichte der Sage,« der viel zu früh verstorbne Julius Braun, pflegte sein badisches Ländle das Reich der Mitte zu nennen. Er, Badenser durch Geburt und auch von Humor, kannte sehr gut die stolze Selbstzufriedenheit und das warme Behagen seiner zwischen Rhein und Schwarzwald so schön warm gebetteten Landsleute. Er legte aber seinem Scherz einen tiefern Gedanken unter: Baden ist im räumlichen Sinne wirklich ein Land der Mitte. Zwischen der Schweiz und dem Elsaß, der Pfalz und Württemberg, sich im Nordosten bei Wertheim und Prozelten mit dem bayrischen Franken, an der obern Donau mit Hohenzollern-Preußen berührend und endlich im Südosten noch durch den Bodensee mit Österreich verbunden, steht es den allerverschiedensten und entlegensten Einflüssen offen. Neulich wurde Baden in einer altbayrischen Zeitung als das »Probierlandl« von Deutschland bezeichnet, wozu die überaufgeklärte Bureaukratie es gemacht haben sollte. Lange vor der Bureaukratie hat die Natur selbst Baden zum Probierlandl gemacht. Denn so wie es in Badens Lage geschrieben steht, daß auf dem Schwarzwald alpine und an den heißen Geländen des Rheintals südfranzösische Pflanzen wachsen, oder daß der Wein von Durbach mehr an den Elsässer, der Bauländer an den Württemberger und der feurige Gerlachsheimer an den Frankenwein erinnert, so fliegen den offnen Köpfen in diesem offnen Lande hier französische und dort schweizerische Ideen an, und in diesem Winkel herrschen Würzburger und in jenem Heilbronner Einflüsse vor. Wenn dies nun auch leider gar nicht selten zu dem Ergebnis geführt hat, daß der von allen Seiten befruchtete Volksgeist einem Acker glich, in dessen Saaten von allen Himmelsgegenden Samen blühenden Unkrauts verweht wird, so hat es doch zu der Art von Bildung beigetragen, die, nach dem badischen Ausdruck, den Mann gewürfelt macht. Nicht umsonst trägt der Rhein seine grüngrauen Fluten durch die ganze Länge des Landes, wobei er an beiden Ufern die reichsten Sammlungen alpiner Gesteine in endlosen Kiesbänken ablagert. Einst wurden die abgeschliffnen Bergkristalle, die »Rheinkiesel,« bald wasserklar, bald gelblich und rötlich, als Halbedelsteine wert gehalten. Heute haben sie sehr an Schätzung verloren. Auch das Gold des Rheines wird kaum mehr gewaschen, seitdem der Tagelohn das Doppelte und das Dreifache des durchschnittlichen Ertrages einer mühsamen Tagesarbeit mit dem Waschtrog beträgt. Mitte der fünfziger Jahre, als Handel und Wandel darniederlagen, lohnte es sich noch, einen Verdienst von vierundzwanzig Kreuzern zu erwaschen. Damals prägte die Karlsruher Münze noch die schönen hellgelben Dukaten aus Rheingold, die heute nur noch der Sammler sieht, und die Ehepaare des badischen Fürstenhauses trugen Eheringe aus Rheingold. Bald wird der Rhein seinen Anwohnern das Gold in andrer Form bringen. Man wird ihn bis Straßburg für größere Fahrzeuge schiffbar machen und hoffentlich auf den Seitenkanal Straßburg-Ludwigshafen verzichten. Dann wird das Land zu beiden Seiten des Oberrheins in noch höherm Maße werden, was es zur Römerzeit war und seitdem immer mehr geworden ist: eines der belebtesten Straßenländer Europas. Der Rhein, die Ill, Kanäle, Straßen, Eisenbahnen, diese meist doppelt auf beiden Seiten, wie Bergstraße und Talstraße: stärker und unaufhaltsamer noch als das Wasser strömen die Menschen und die Waren landauf landab, Schweiz und Niederlande verknüpfend und bis nach Österreich und Frankreich hinein von den zwei großen links- und rechtsrheinischen Plätzen Straßburg und Mannheim aus mächtig anziehend wirksam.

Wer hätte es sich träumen lassen, daß das langweilig in den Rheinsand hingewürfelte Mannheim der fünfziger Jahre, die Stadt ohne Altertümer und Straßennamen, die ohne ihr Theater in einem dunkeln Winkel der deutschen Geschichte stünde, ein Welthandelsplatz werden würde? Heute ist Mannheim einer der ersten Süßwasserhäfen Europas, für Oberdeutschland und die Schweiz mindestens das, war für das Österreich nördlich von der Donau das mächtig aufblühende Aussig ist, für Getreide und Tabak noch viel mehr. Was Frankfurt an oberdeutschem Verkehr verloren hat, das ist fast alles Mannheim zugute gekommen, und das zur Wettbewerbung hingesetzte Ludwigshafen hat Mannheims Größe nur noch vermehrt. Mannheim hat seiner jungen Nachbarin klugerweise die Großindustrie überlassen und ist nicht bloß eine der reichsten Rheinstädte geworden, sondern auch eine der reinlichsten geblieben. Der Spuren der kleinen engen Residenz der katholischen Kurfürsten von der Pfalz sind immer weniger geworden. Noch vor vierzig Jahren gab es Straßen, deren kleine einstöckige Häuschen in die Breite der vom fröhlich sprossenden Gras grünlich angehauchten Straßen hinter ihren schmalen Sandsteinsteigen hinabzusinken schienen: das versteinerte Kleinbürger- und Kleinbeamtentum. In Darmstadt, Homburg, Wiesbaden, Karlsruhe gab und gibt es zum Teil noch dieselben Häuser, die alle aus der Wende des Jahrhunderts stammen. Auch Stuttgart hat noch Spuren davon. So wie in Mannheim herrschten sie doch nirgendswo. Hatte doch keine von allen diesen Städten so schwer gelitten und gekämpft. Jene gediehen unter dem Schutz ihrer Fürsten zu einem wenn nicht großen und rühmlichen, doch auskömmlichen Leben, während Mannheim eigentlich erst mit dem Eintritt Badens in den Zollverein sein eignes unabhängiges Leben gewann. Ich habe Mannheim nie betreten, ohne daß mich wie ein junger, frischer Hauch die Empfindung anwehte: von allen blühenden Städten Deutschlands dankt diese am meisten ihre Blüte dem, was Gesamtdeutschland geeinigt und groß gemacht hat. Es ist auch kein Zufall, daß zwei der namhaftesten badischen Staatsmänner, die am Reich haben bauen helfen, Mathy und Jolly, aus Mannheimer Familien stammen. Und da so oft dem Judentum ein Löwenanteil an dem geschäftlichen Aufblühen Mannheims zugeschrieben wird, möchte ich die bezeichnende Tatsache hervorheben, daß Mathy und Jolly französischen Ursprungs sind. Diese jugendliche Gründung hat wie eine Kolonie in überseeischen Landen Menschen aus allen Gegenden angezogen; und sicherlich waren es nicht die energielosesten, die sich in dem sandig-sumpfigen Winkel zwischen Neckar und Rhein niederließen. Mannheim hat oft versucht, so wie wirtschaftlich auch politisch allen badischen Städten voranzuschreiten, was ihm nicht immer gelungen und noch viel weniger bekommen ist. Die Zeiten, wo Hecker und Struve Mannheim zum Brennpunkt einer oberdeutschen Bewegung in republikanischem Sinne zu machen strebten, sind fast vergessen. Doch blieb seitdem eine Eifersucht und ein Mißtrauen zwischen Karlsruhe und Mannheim lebendig, das ja nun auch beseitigt zu sein scheint, wie so manches Kleine und so manches Mißverständnis im deutschen Leben. Wer aber das unerwartete Aufblühen Karlsruhes verfolgt hat, zweifelt nicht daran, daß es wesentlich durch die Übertragung der in Mannheim heimischen Tatkraft in die schläfrig und unselbständig gewordnen Kreise der Residenz gefördert worden ist. Es ist derselbe Prozeß, der zwischen Mainz und Darmstadt und entfernter zwischen Nürnberg und München, Leipzig und Dresden gespielt hat; wie denn mit jeder deutschen Residenz eine Schwesterstadt in Wettbewerb getreten ist, wobei sich das dort gedrückte und geduckte Bürgertum, durch den Gegensatz angespornt, freier regte. Das ist ein sehr heilsamer Wettbewerb, der in der Neubelebung bürgerlicher Tugenden ungemein glücklich gewirkt hat. Ich rechne hierher auch die Pflege des Theaters, deren Einseitigkeit man den Mannheimern oft verdacht hat. Man warf ihnen vor, daß sie außer vom Geschäft nur noch vom Theater zu reden wüßten. Welche französische oder englische Stadt hat aber aus eigner Kraft eine so respektable Pflegestätte der Kunst erhalten? Alle Achtung auch darin vor Mannheim!

Um auf das Wirtschaftliche zurückzukommen, so werden die in den letzten Jahren von schwäbischer Seite viel erörterten Pläne zur Hebung der Neckarschiffahrt – Vertiefung bis Heilbronn, Nebenkanal für Eßlingen – natürlich auch dem badischen Rhein-Neckarhafen zugute kommen müssen. Eine Zunahme des Neckarverkehrs hatte Mannheim in den letzten Jahren ohnehin schon zu verzeichnen. Sogar der Passagierverkehr hat auf dem untern Neckar wieder Aufnahme gefunden. Wir, die das badische Land nur durchwandern, freuen uns dieses Aufblühens einer jungen Stadt nicht in dem lokalpatriotischen Sinne, der in Mannheim von der stark jüdisch durchsetzten Großkaufmannschaft bis hinunter zum »Neckarschleim« – die untersten Volksklassen, vor allem Schiffer und Hafenarbeiter – sehr stark ist, sondern weil Mannheim uns das Wiederaufblühen des gesamten deutschen Wirtschaftslebens verdeutlicht. Und außerdem verzeichnen wir mit Befriedigung das dabei zutage tretende einträchtige Zusammenwirken der Stadt mit der Regierung, die bei den Ausgaben für die neuen Hafen- und Bahnanlagen in Mannheim wahrlich bewiesen hat, daß man in Baden nicht bloß die Kühnheit und die Beweglichkeit hat, die zum Probieren gehört, sondern auch die den Erfolg sicher fassende Weitsicht. Muß ich mich vielleicht zu den unpraktischen Ideologen rechnen lassen, weil ich die Ansicht der Mannheimer nicht teile, ihre Stadt werde »von oben herunter« nur so kräftig gefördert, weil man den Plänen zur Hebung Straßburgs eine große unverrückbare Tatsache, Mannheim als die Haupthandelsstadt Oberdeutschlands, entgegensetzen wolle? Diese herrlichen, wohlgelegnen Länder, Baden auf der einen, das Elsaß auf der andern Seite, können zwei große Handelsstädte nähren. Schreitet Deutschland, wie wir alle hoffen, vorwärts, dann wird die Ausdehnung der Großschiffahrt bis Straßburg nichts andres für Mannheim bedeuten, als was Frankfurt erlebt hat, als sich ein Teil seines Handels nach Mannheim verlegte; Frankfurt hat durch die Kanalisation des untern Mains reichlich wieder gewonnen, was es vorher verloren hatte, und die Zukunft wird ihm noch viel mehr, nämlich sein altes Verkehrsgebiet, das Mainbecken bis Böhmen und zur Donau, wieder erschließen, wenn es den bayrischen Plänen auf Verbesserung der Mainschiffahrt und der Main-Donauverbindungen kräftigen Vorschub leistet. Für Straßburg ist man ja leicht versucht, eine noch viel größere Perspektive zu eröffnen: den mitteleuropäischen Zollbund im engen Verein mit Frankreich, wo dann Straßburg natürlich eine großartige Aufgabe zufiele. Ich bin aber kein Freund von Nebel, nicht einmal im schönen Rheintal, wo der Nebel nicht so schmutzig braun und grau wie im Norden, sondern von tadelloser Weiße ist, als sei er von den Alpengipfeln mit dem Rhein herabgeflossen, und nicht einmal im Weinlande, wo der Nebel als guter Freund des Winzers gilt, weil er die Traubenbeeren weich mache, und auch von den Vorbergen des Odenwalds und des Schwarzwalds herab sehe ich ihn nicht gern, auf denen die Sonne um so wärmer liegt, je dichter da unten das Nebelmeer wogt. Diese Rhein- und Neckarnebel gehn aber immer rasch vorüber, und gewöhnlich folgt noch an demselben Mittag ein heller Sonnenschein.

Halten wir uns also an das, was wir deutlich sehen und greifen können, so zweifeln wir keinen Augenblick, daß Baden im Elsaß ein Hinterland oder, wenn es höflicher klingt, ein Nebenland gewonnen hat, mit dem es einen sich unerwartet entwickelnden Verkehr pflegt. Früher war der Lokalverkehr zwischen den beiden Ländern ungemein beschränkt. Nur eine stehende Brücke auf der langen Rheinlinie Basel-Mannheim! Wie wenig bedeutete der Verkehr über die Schiffbrücken von Rheinau und Selz! Es ist doch kein Zufall, daß, so oft ich über die Selzer Brücke gegangen bin, Elsässer Bauern badische Ferkel vom Rastatter Markt gen Hagenau trugen, weiter nichts, wobei sich mir immer der törichte Gedanke aufdrängte, wie schön es wäre, wenn die Elsässer die altdeutschen Menschen ebenso freundlich behandelten wie die altdeutschen Ferkel, die sie mit Zärtlichkeit in weichen Säcken über den Rhein trugen. Sollte nicht die jahrelange Erfahrung, wie gutartig diese altdeutschen Tiere sind, das unter blauer Bluse schlagende Herz dieser fränkisch-alemannischen Hartköpfe auch für altdeutsche Menschen wärmer schlagen machen? Doch weg mit solchen Rheinnebeln! Da taucht die alte Rheinauer Schiffbrücke vor mir auf, wo ich 1870 Posten stand, als Fuhre um Fuhre die Regiezigarren der Benfelder »Manufaktur« gen Lahr gefahren wurden. In jeglichem Sinn konfiszierte Ware! Die Rheinauer Bauern waren einig; einen solchen Verkehr hätte sich die alte Brücke nie träumen lassen. Der Rhein bildete eben bis zum Fall von Straßburg hauptsächlich eine Schranke, die nur der Schmuggel gewohnheitsmäßig überschritt. Es genügt, an die Tatsache zu erinnern, daß damals Hagenau und Karlsruhe, in der Luftlinie achtundvierzig Kilometer, also einen starken Tagemarsch, voneinander entfernt, durch eine Eisenbahnfahrt von einem vollen Tage getrennt waren. Heute ist Karlsruhe, das über Rastatt-Durmersheim in einer Stunde von Hagenau erreicht wird, ein wichtiger Markt für die Bodenerzeugnisse des untern Elsaß. Und wer hätte sich träumen lassen, daß Karlsruher Bier auf elsässischen und südlothringischen Dörfern getrunken und dazu statt des einst alleinherrschenden Münsterkäses Käs »usm Badische« gegessen würde?

Ich hoffe, daß mein altdeutsches Herz mir keinen Streich spielt, wenn ich erkläre, daß ich das ganz vernünftig finde. Denn das Elsässer Bier war in der französischen Zeit gerade so »umgestanden« wie der elsässische Volkscharakter. Es war kein Bier, sondern eine süßliche, schwach gehopfte Limonade, für die französischen Kaffeehausbummler und die Dominospieler an kleinen Boulevardtischchen gebraut. Könnte ich hier doch jenen württembergischen Hauptmann von der Ulmer Artillerie sprechen lassen, dessen Leute im heißen September 1870 beim Batteriebau in Königshofen einen großen Bierkeller anschnitten, der seinen Inhalt dann in die fernsten Stellungen der Belagerer ergoß, bis der Genuß der schalen hellen Flüssigkeit in dem weit um Straßburg lagernden Ringe durstiger Menschen wegen ihrer abführenden Eigenschaften verboten, der Rest des Kellers zugeschüttet wurde. Mir stehn die kräftigen Schwabenflüche nicht zur Verfügung, mit denen der breitbetreßte Hauptmann »das saumäßige Gesöff« in die Tiefe zurückverwünschte, aus der es jubelnd ans Licht gehoben worden war. Auch der braune Spiegel des Bieres spiegelt in seiner Weise treu die Weltgeschichte zurück. Bis zum Rhein war in den sechziger Jahren die von Altbayern ausgegangne Bierverbesserung vorgedrungen. Hier hatte sie Halt gemacht. Die Rechtsrheinischen hatten sich an das kräftigere Gebräu gewöhnt, das der in diesem Fache sinnige Bayer bierehrlich zum kräftigen Männergetränk ausgestaltet hat. Den Linksrheinischen mundeten mehr süßliche Biere, wie sie die Franzosen liebten. Es lag nicht am Hopfen, den damals die Hopfengärten von Hagenau, noch nicht durch amerikanischen Wettbewerb gedrückt, so edel wie je lieferten, und nicht an der Gerste, wiewohl diese die besten deutschen Sorten nicht erreichte. Das Ideal des Elsässer Brauers war ein Bier, das die Lederhosen des standhaften Trinkers auf die Bank leimt. So trennte also der Rhein nicht bloß zwei Reiche, sondern zugleich zwei Geschmacksrichtungen. Man könnte sagen, er floß als Grenzstrom zwischen Bierprovinzen.

Es ist aber merkwürdig, wie es dabei nicht sein Bewenden hat. Der Weingeschmack ist auf beiden Seiten nicht minder verschieden. Seufzend muß es der Elsässer Wirt zugeben, daß sogar die lieben guten Freunde aus der Schweiz den Markgräfler allem Elsässer Wein vorziehn, und der Altdeutsche, der sich mitten in der angeheirateten Oberelsässer Weinbauerfamilie die Unbefangenheit der Zunge wenigstens im Weinkosten bewahrt hat, gibt mit Achselzucken zu, daß von keinem Elsässer Weine Hebel hätte singen können, wie von seinem Markgräfler »z'Müllen uf der Poscht! Trinkt mer nit en guete Wi? Tusig Sappermoscht! Goht er nit wie Baumöl i (ein)?« Der halbgelehrte Agronom schreibt die Rauheit des Elsässer Weins gewissen Unvollkommenheiten der Kellerei zu. Weg mit dieser rationalistischen Klügelei! Es sind dieselben unbegreiflichen, aus irgendeiner unbekannten Tiefe herauf wirkenden Ursachen, die auch die Menschen auf beiden Seiten des Rheins sich nicht haben gleich entwickeln lassen, wiewohl ihr alemannisch-fränkischer Grundstock ebenso wenig verschieden gewesen sein dürfte wie die Reben der römischen Kolonisten, die von den Vogesenhängen nach den Schwarzwaldbergen gebracht worden sind. Warum dann freilich die Hardthügel bei Neustadt, Dürkheim, Edenkoben usw. einige der feinsten Weine der Welt erzeugen, die hart hinter den besten Sorten vom Rhein und der Mosel kommen, während gegenüber auf der badischen Seite vom Rhein bis zur Tauber nur ländliche Gewächse gedeihen, ist ebenso unerklärlich wie die Tatsache, daß der linksrheinische »Pälzer« derber und beweglicher ist als der rechtsrheinische ernstere und gesetztere Badenser. Die körperliche Erscheinung weist auf eine reinere Erhaltung des alten Frankenstammes rechts vom Rhein, wo zwischen Karlsruhe und Mannheim einer der hochwüchsigsten Stämme des Deutschen Reichs sitzt. Die Pfalz dagegen hat, wie schon die Familiennamen zeigen, sehr viel französisches Blut aufgenommen, und vielleicht ist am Fuß der Hardt auch mehr römisches lebendig geblieben als im Lande zwischen Schwarzwald und Odenwald. Der badische Anteil der Pfalz liegt weniger frei, ist auch weniger Stürmen ausgesetzt gewesen.

Es ist auch heute ein stilles Land, diese Lücke zwischen Schwarzwald und Odenwald, erdgeschichtlich so etwas wie eine nicht ganz vollendete Versenkung. Im badischen Lande nennt man sie mit den unberühmten Namen Kraichgau und Bauland. Diese Gaue dürften auch heute nur von wenigen Fremden durchwandert werden, denn weder ihre Natur noch ihre sonstigen Denkwürdigkeiten bieten Anziehungen für die Menge. Kunstfreunde besuchen in Bruchsal das Rokokoschmuckkästchen des bischöflichen Schlößchens, wobei sie einen scheuen Blick auf das halbrunde, fensterreiche Zellengefängnis werfen, das besonders durch die Erinnerungen einiger Revolutionäre aus dem Jahre 1849 berühmt geworden ist. Freunde der Reformation statten dem stillen Bretten einen Besuch ab, um ehrfurchtsvoll dem hier gebornen Melanchthon ihre Neigung zu beweisen. Sie müssen aber deutlich nach Melanchthon fragen. Denn Bretten hat noch eine andre Berühmtheit, die in weiten Kreisen viel mehr Teilnahme weckt als die Erinnerung an den – ich gebrauche die leise tadelnden Worte eines Apothekers der Gegend – früh aus seiner Heimat fortgezognen Melanchthon, der zwar ein berühmter Mann geworden sei, aber für Bretten oder sein Bezirksamt weiter nichts mehr getan habe. Diese zweite Merkwürdigkeit ist das »Brettemer Hundle,« ein urmythisches Geschöpf, das alle Völker Europas kennen. Bei einer Belagerung durch die Schweden schickten die ausgehungerten Bürger das gemästete Hündchen ins feindliche Lager, dessen Anführer über den fetten Anblick außer aller Fassung geriet und die Belagerung aufhob. Ebenfalls in die Schwedenzeit führt uns der nicht ganz mythische, sondern zum Glück vollbezeugte Opfertod der Pforzheimer Bürger in der in derselben Gegend geschlagnen Schlacht bei Wimpfen, ein klassisches Beispiel der gerade im mittlern Baden so recht ausgeprägten Fürstentreue des Volkes.

Aus diesem Lande nach Osten führen gutgehaltne aber staubige Landstraßen den Wandrer Welle auf, Welle ab. Geht er im Muschelkalk, so ist der Staub weißgrau, geht er im Keuper, so ist er gelblichgrau und ein bißchen weniger reichlich. Sonst ist kein großer Unterschied. Die Wellen sind gleich mild, eine gleicht der andern zum Verwechseln, nur trägt die eine einen dunkeln Waldschopf, wo die andre von einer Cyklopenmauer von Kalkplatten gekrönt ist, die ein fleißiger Bauer aus seinem steinigen Acker herausgelesen und zusammengetragen hat. »Hinten« im Gänsschmauserland, in der Gegend von Buchen und Krautheim, werden diese Mauern beängstigend lang und breit, dort ist eine der steinreichsten und kornärmsten Gegenden des Landes. Wie Oasen von Fruchtbarkeit sind die fetten Auen und Hänge des Neckartals, des Taubergrundes und des Maintals zwischen diese höhern und rauhern Striche hineingelegt, und es ist bezeichnend, wie sich auch hier das geschichtliche Leben an das Wasser angeschlossen hat, wie eine Pflanze, die Feuchtigkeit braucht, um zu gedeihen.

Von den vielen, die alljährlich Rothenburg ob der Tauber besuchen, dessen Bedeutung als Schatzkästlein der städtischen Renaissancearchitektur nach unsrer bescheidnen Meinung übertrieben wird, gehn sehr wenige ein paar Kilometer rechts oder links ins Land hinein. Und doch würde sichs verlohnen, den Gegensatz der Muschelkalkhochebene zu dem breit eingeschnittnen Taubergrund kennen zu lernen. Der Volksmund hat wieder einmal Recht, wenn er hier nicht von Tal, sondern von Grund spricht. Das Wort wird unter ähnlichen Umständen von den grünen Flächen gebraucht, die in den Sandstein der Sächsischen Schweiz gleichsam versenkt sind. Der Taubergrund liegt wie ein grünes Band zwischen den flachen Wellen des grauen Kalkes. Viel lohnender als immer nur die Giebel und Mauern Rothenburgs zu bewundern, wäre eine Wanderung von Rothenburg über die Höhen, die Schlingen der Tauber abschneidend, nach dem saubern Mergentheim, deutschordensgeschichtlichen Namens, über das römerfundberühmte Lauda und Tauberbischofsheim nach dem schönen Wertheim. Es wäre eine der an geschichtlichen Erinnerungen und Denkmälern reichsten Wanderungen, die man an einem kleinern deutschen Flusse hin irgendwo unternehmen könnte. Es würde freilich dem Wandrer nicht erspart bleiben, auf der Höhe über Tauberbischofsheim die zerschossene Feldkapelle zu besuchen, an deren Wände 1866 schwerverwundete Württemberger die Grüße Sterbender an das fliehende Leben schrieben. Er würde aber dort auch versöhnende Worte gemeinsamer Siegeszuversicht lesen, die im Juli 1870 württembergische und badische Soldaten vor dem Ausmarsch nach Frankreich eingegraben haben. Tauberbischofsheim, vor der Eisenbahnzeit der Typus eines Hinterlandstädtchens, wo ein stillstehendes Kleinbürgertum ärmlich und behaglich und im allgemeinen etwas stumpfsinnig lebte, ist heute ein regsames, fortschreitendes Städtchen geworden, das nicht mehr so tief unter dem aufgeklärten, vom Mainverkehr berührten und von löwenstein-wertheimischer Fürstengunst beschienenen Wertheim steht.

Man würde Wertheim die Perle des Taubertales nennen müssen, wenn es nicht doch mehr dem Main angehörte. Mögen sich die Rothenburger nicht gekränkt fühlen, gegen die Natur kann man nun einmal nicht an. Von allen deutschen Städten gleicht Wertheim am meisten Heidelberg, natürlich in verjüngtem Maßstabe. Der Main kann es hier mit dem Neckar, die bewaldeten Hügel am rechten Mainufer können es mit dem Heidelberger Schloßberg und der Molkenkur aufnehmen; die Wertheimer Burg ist eine der schönsten unter ihresgleichen; etwas einziges wie das Heidelberger Schloß ist sie allerdings in keiner Weise; dafür ist ihr nun auch die Schmach erspart geblieben, daß ein Wirtshaus über sie gesetzt worden ist, wie es das Heidelberger Schloß und die ganze Landschaft verunstaltet.

Der Wandrer kann, wenn er will, seinen Fuß noch weiter setzen und in Miltenberg den durch Luthers Aufenthalt berühmt gewordnen, hochgiebligen alten Gasthof zum Riesen besuchen, wobei er allerdings auch an den Bauernkrieg wird denken müssen, dessen klassische und blutigste Stätten: Rosenberg, Jagstfeld, Würzburg, hier herum liegen. Nicht weit davon kann er auch ein Stück portugiesischer Geschichte mitten in diesen stillen Winkel Deutschlands hineinflackern sehen, denn ob Brombach erhebt sich die Gruft der katholischen Löwensteine, in der Dom Miguel bestattet ist. Vielleicht zieht aber der Wandrer vor, von diesem langen Gang durchs Taubertal im gastlichen Wertheim auszuruhn, wo ihm einer der edelsten, wegen seiner geringen Menge wenig bekannten Frankenweine, genannt Kalmut, ein braungoldnes Getränk von fast beängstigendem Feuer, winkt, während das sehr nahe bayrische Kreuzwertheim ein Bier von gediegnem Rufe braut. Das Land umher ist gerstenberühmt.

Es wird dem Wandrer auch nicht leicht an trautem Wechselgespräch fehlen, das gut zum Ausruhn ist. Das Volk ist zutraulich und von fränkisch-leichter Auffassung. Als ich zum letztenmal in diesem Gau weilte, war mein Tischgenosse ein badischer Postillon, der sich bitter über die bayrischen Kollegen beschwerte, die ihn hänselten, daß er nicht mehr großherzoglicher, sondern Reichspostillon sei. Sein Schlußsatz lautete ungefähr: Das will ich gar nicht untersuchen, ob ein Reichspostillon nicht doch am End grad soviel ist wie ein blauweißer; das steht aber fest, daß die Blauweißen besser täten, auf ihre Landstraßen zu schauen, daß sie besser unterhalten werden. Jetzt ists eine Schand; wenn man auf die württembergischen kommt, ists schon nichts mehr rechtes, aber die bayrischen sind noch weniger nutz. Einstweilen fahren wir in Baden noch am besten. In Hessen solls jetzt ziemlich ordentlich sein.

Ich lächelte in mich hinein: O du glückliches Volk der Mitte.

Die Neckereien zwischen den Angehörigen verschiedner Stämme und Staaten, die in der ganzen Welt vorkommen, treten natürlich in einem Grenzlande wie Baden ganz besonders hervor. Es ist für die Kenntnis der Volksseele auf beiden Seiten, der urteilenden und beurteilten, wertvoll zu wissen, welche Meinungen, Neigungen und Abneigungen sich ausgebildet haben. Denn merkwürdigerweise handelt es sich dabei nicht um die tiefen Unterschiede, sondern um die feinern und feinsten Schattierungen von Begabungen und Gewohnheiten. Der Bauer von der Hardt (Gegend von Karlsruhe) sieht im Pfälzer, von dem ihn nur der Rhein trennt, einen lebhaften aber etwas geschwätzigen und windigen Nachbar; er kauft im Zweifelsfalle mit mehr Vertrauen von einem Schwaben als von einem »Driwwe-riwwer« (Drübenherüber), wie er den Pfälzer nennt. Für den Pfälzer dagegen ist der badische Nachbar, soweit er oberhalb Mannheims wohnt, schon ein halber Schwabe. Auf den Schwaben aber schauen beide Angehörige der nobilis gens Francorum als auf eine beschränktere oder doch langsamer denkende Abart hinab. Der »dumme Schwob« ist sprichwörtlich; und doch kann darüber kein Zweifel herrschen, daß der Schwabe mehr geschichtliche Zeugnisse für hervorragende Begabung aufzuweisen hat als der Badenser von der Tauber bis zum Bodensee. Besonders auch auf dem politischen Gebiete haben sich die Schwaben in ihrem prächtig geschlossenen und abgerundeten Württemberg sicherlich viel verständiger benommen als die immer zwischen Extremen schwankenden Badenser. Auf deren Rechnung stehn seit der Einführung der Verfassung viel mehr und größere politische Schwabenstreiche als auf der der schwäbischen Nachbarn, solange es ein Württemberg gibt. Ihren Ruhm, politisch vorgeschrittner zu sein als alle andern Deutschen, haben die sanguinischen Badenser bis auf den heutigen Tag teuer bezahlen müssen. Das hat sie aber nicht abgehalten, auf den Schwaben hinabzusehen. Einen merkwürdigen Beleg der badischen Überlegenheit liefert die Tatsache, daß diese großen Politiker noch nie eine größere Zeitung zustande gebracht haben. Sie lesen landauf landab die Frankfurter Zeitung, so wie früher das Frankfurter Journal, die Straßburger Post, den Schwäbischen Merkur. Die Badische Landeszeitung, Landesbase genannt, ist das größte, aber zugleich engherzigste fanatisch nationalliberale Blatt Badens. Entsprechend sind die ultramontanen Blätter geschrieben. Die Masse ist farblos und kraftlos.

Eigentümlich und besonders interessant ist das Verhältnis der drei Zweige des alemannischen Stammes, die am Oberrhein zusammenstoßen: badische Oberländer, Elsässer und Schweizer. Die Alemannen sind unter allen deutschen Stämmen der einheitlichste; auch die des Allgäu und des Vorarlbergs sind den westlicher wohnenden sehr ähnlich. Früher haben sie das auch selbst anerkannt. Man nehme nur das Leben Johann Peter Hebels mit seinen innigen Beziehungen zur Schweiz und seinem gewaltigen Einfluß auf die elsässische Dialektliteratur. Hebel ist der Vertreter des erwachenden alemannischen Gemeinbewußtseins, das sich allerdings sehr bald durch die politischen Grenzen Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz wieder trennen ließ. Doch sind die badisch-elsässischen Beziehungen noch bis 1870 in engen Kreisen sehr warm geblieben; Familienbande, die seitdem zerrissen sind, waren bis dahin gepflegt worden, und Straßburg war trotz der Zollschranken die alte Hauptstadt auch für den gegenüberliegenden Teil von Baden. Der französierende Elsässer verspottete die Kleinstaaterei der benachbarten »Schwowe,« aber der Bürger und der Bauer des Elsaß hegten das lebhafte Gefühl der Verwandtschaft, das sich erst von der Ensisheimer Gegend an auf Grund alter geschichtlicher Verbindungen mehr dem schweizerischen Alemannentume zuwandte.

Für den unbefangnen Betrachter hob sich gerade von dem Schweizer sowohl der badische wie der elsässische Alemanne durch die übereinstimmende Eigenschaft einer gewissen Weichheit und Nachgiebigkeit ab, die den Eigensinn der Einzelnen nicht ausschließt. Ob sich nun die kräftigern Leute des alemannischen Stammes in die Alpen gezogen haben, oder ob die Burgunder, deren Reste man in der Westschweiz vermuten darf, ein besonders reckenhafter Stamm gewesen sind, weiß niemand zu sagen. Vielleicht genügt aber zur Erklärung der härtern, knochigern Züge, die das Volk jenseits des Rheins und des Bodensees merklich auszeichnen, die Einwirkung der den Körper und die Seele stählenden Gebirgsluft und überhaupt der Gebirgsnatur. Wer von den weichen Oberdeutschen in Bausch und Bogen redet, vergißt, daß an Kriegsruhm und Staatssinn kein deutscher Stamm dem schweizerisch-alemannischen voransteht. Daran ändert gar nichts die Neigung des Badensers, seinen freundnachbarlichen Spott über die militärischen Bestrebungen der Schweizer auszugießen, die im ganzen achtunggebietend sind, im einzelnen aber natürlich viel Lächerliches haben. Seitdem aber die schweizerische Miliz durch einsichtige und energische Führer wesentlich nach deutschem Grundgedanken reformiert ist, sieht der benachbarte Süddeutsche das Kriegswesen der Eidgenossen wieder mit günstigerm Blick an. Er erkennt mit alemannischer Billigkeit an, daß der Deutschschweizer doch ein natürliches Talent zu strammem Auftreten hat. Daß der liederliche französische Pumphosenschnitt aufgegeben worden ist, bedeutet nur eine Äußerlichkeit, aber die Haltung hat entschieden dadurch schon gewonnen. Man sieht jetzt Schweizer in Uniform, die das »Herausdrücken« der Waden verstehn, als hätten sie bei der Garde in Berlin Parademarsch studiert.

Der Badenser hat ja auch sonst allerlei an dem Schweizer auszusetzen, und umgekehrt. Und doch, wie eng hängen die Länder geschichtlich zusammen. Man kann sagen, sie haben eine gemeinsame Geschichte von tausend Jahren von den Römern an. Die Zähringer haben auf heute schweizerischem Boden früher eine rühmliche Tätigkeit entfaltet als auf dem, wo das badische Fürstenhaus ihnen entsprossen ist. Man braucht nur an die Bedeutung dieser Dynastie in der Westschweiz zu erinnern, die sich in der Geschichte Berns und Freiburgs im Üchtland ausprägt. Ihre Stellung ist auf die Habsburger übergegangen, die sie nicht so glücklich zu wahren wußten. Kann man die Geschichte von Glarus schreiben ohne die Säckingens, der alten klösterlichen Schutzherrschaft und der Stadt des heiligen Fridolin? Von dem gemeinsam alemannischen Grundstrom, der die Schweiz mit Oberdeutschland auch dann verwandtschaftlich verband, als sie als Eidgenossenschaft tatsächlich und seit 1648 rechtlich von Deutschland getrennt war, zeugt jeder Blick auf die Reste der Jahrhunderte in ländlichen und städtischen Bauwerken. Gerade wie im Sundgau, im Schwarzwald und in Oberschwaben sind die Häuser einzeln und in Gruppen sinnig und sonnig in die Landschaft hineingestellt, wie es der selbständigen Natur ihrer Erbauer gemäß ist. Dasselbe zeigt sich auch in größern Ansammlungen. Man betrachte sich einmal Flüelen. Und wer von Waldshut oder Säckingen nicht etwa nach dem nahen Laufenburg oder Rheinfelden, sondern nach einem so echt innerschweizerischen Städtchen wie Zofingen verschlagen wird, den mutet dort die eigentümliche Architektur gerade so deutsch an wie das behäbige Leben der Bürger. Basel, wo unser Hebel geboren ist, und wo er sich, weil er dort »daheim« sei, noch in seinem Todesjahr zur Ruhe setzen wollte, ist die deutscheste unter allen großen Städten der Schweiz. Man muß einmal, etwa aus Frankreich oder von jenseits des Gotthard kommend, auf der alten Rheinbrücke gestanden und die prächtige Front gesehen haben, die Basel dem dort schon mächtigen grünen Strom zuwendet. Diese alten Häuser mit steilen Dächern und Giebeln, Galerien und Vorbauten, Gärtchen und Baumgruppen, darunter sogar dunkle Fichten, geben über der festen Ufermauer ein echt deutsches Städtebild, ohne Plan und Absicht, auch ohne Absicht zu gefallen, höchst ungleich, aber voll Reiz und Bewegung in dem reichen Wechsel von Licht und Schatten, wo hundert Winkel bestimmt zu sein scheinen, das nordisch spärliche Licht aufzufangen: der stärkste Gegensatz zu den großen einheitlich gefärbten und dekorierten Flächen des südlichen Städtebaues.

Politisch hat Baden niemals mehr nachhaltig auf die Schweiz gewirkt, wie ja überhaupt seit Jahrhunderten der offizielle und der nichtoffizielle Einfluß Frankreichs, der Einfluß der Ideen und der klingenden Münze, jeden andern zurückgedrängt hat. Über diesen und sein seit 1870 bemerkbar gewordnes, im Grunde schon seit dem Sonderbund beginnendes Rückschwenken wäre viel zu sagen. Es gehört aber nicht in den südwestdeutschen Rahmen, wo es uns viel mehr interessiert, daß die schweizerischen Alemannen auf die badischen Stammesbrüder einen starken politischen Einfluß geübt haben, den noch die badischen Aufstände von 1848 und 1849 bezeugten, und auf die elsässischen nach 1870 zu üben versucht haben. Dazwischen hat sich freilich immer die freundnachbarliche Abstoßung gerade wie an andern Grenzen gezeigt, und während in einigen Grenzgebieten republikanische Ideen Wurzel faßten, trat in andern das badische Staatsgefühl überraschend stark hervor.

Für diese Abstoßung des Ähnlichen kenne ich in der ganzen Ausdehnung der deutsch-schweizerischen Grenze kein schöneres Beispiel als die liebliche rebenbedeckte Insel Reichenau, die die deutsche Kaiser- und Kunstgeschichte von karolingischen Zeiten an kennt und mit hohen Ehren nennt. Die nur 1500 Einwohner zählende Insel liegt im Untersee, dem schweizerischen Ufer fast ebenso nahe wie dem badischen. Ihr schweizerischer Verkehr ist immer beträchtlich gewesen. In Dampfbootverbindung steht sie heut überhaupt nur mit dem schweizerischen Ufer. Die Reichenauer haben aber 1848/49, als Konstanz das Hauptquartier der besonders von Zürich aus geschürten Revolution im Seekreis war, ein in diesem Teile Badens fast einzig dastehendes Beispiel von Treue gegeben. »Se sinn oft gnue von Konschtanz go preddige kumme, 's hat ene awer niemand glaabe möge,« sagte mir ein alter Reichenauer. Als Großherzog Leopold in sein durch Preußen von den Freischärlern gereinigtes Land zurückkehrte, verlieh er den Reichenauern für alle Zeiten das Recht, fünfzig Mann Militär und dreißig Spielleute zu halten. Daß die kleine Insel auch im Ernst ihren Mann stellt, beweist das Kriegerdenkmal in Mittelzell mit einer langen, in Stein gegrabnen Liste von Mitkämpfern des 1870er Krieges. An einem Kreuzweg zwischen Mittel- und Niederzell ist außerdem zur Erinnerung an zwei in diesem Kriege gefallne Reichenauer ein Steinkreuz errichtet. Scheffel erzählte gern, wie er sich unter den alten Schattenbäumen vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flasche goldnen Reichenauers in die karolingischen Kaiser- und Klosterzeiten zurückgedacht habe, und wie wohl es ihm später nach 1870 wurde, wenn er von Radolfzell herüberfuhr und in demselben Schatten die neue Kaiserzeit überdachte, die ihn so tief ergriffen und manches in ihm, dem alten Großdeutschen und Preußenhasser, umgewandelt hatte.


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