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Am ... Juli gemeldet, ärztlich untersucht, trotz aufgeschossenem Wuchse brauchbar befunden, wegen der Größe sogar belobt und als »ein guter dritter Flügelmann« qualifiziert, den Tag darauf in starker und lauter Gesellschaft von Kriegsfreiwilligen dem kleinen Städtchen im östlichen Baden zugedampft, wo die Ersatztruppen ausgebildet wurden. Unteroffiziere begleiteten uns. Wie gern gehorchte man. Viele von uns gehorchten zum erstenmal wieder seit ihrer Knabenzeit. Wie wohltuend ist, was den Strom des Lebens dämmt! Wie groß war unsre erste Freude an der Unterordnung im Soldatenstand! Du hast so lange frei in der Luft und im Licht gestanden, angestrahlt und angeweht, nun hast du Neben-, Vorder- und Hintermänner, bist ein Glied in einem Ganzen und siehst nur noch nahe. Daß der steife rote Kragen des Waffenrocks trotz der Elastizität der stachelnden Roßhaarkrawatte den Hals einengt, und daß die steifen roten Ärmelvorstöße die Knöchel in auffallender Breite über der Hand hervortreten ließen, änderte nichts daran, daß dies des Königs Rock war. Und ebensowenig vermochte das kreidige Blau abgeriebner Nähte und die allgemeine Grobheit des Uniformtuches das Gefühl herabzusetzen, daß wir mit ihm einen neuen Menschen mit neuen Pflichten und Aufgaben angezogen hatten, und ein entsprechendes Können schien sich trotz der lächerlichen Verstöße der ersten Exerzierstunde wie junges Selbstvertrauen zu regen. Darüber, daß das plumpe schwere Faschinenmesser, das allein sechs Pfund wog, ein ausgemacht unpraktisches Instrument sei, bestand bei uns kein Zweifel; aber indem wir, mit ihm gegürtet, den ersten Gang über den Bereich der Kaserne antraten, schien es, indem es mit jedem Schritt an die Waden anschlug, sagen zu wollen: Du gehst nicht mehr allein, du wirst mich von nun an mit dir tragen bei Tag und bei Nacht, und ich werde dich wie ein treuer Freund schützen. »Du Schwert an meiner Linken« tönte es im Ohre des jungen Rekruten.
Denselben Tag noch war Eidesleistung, wozu die drei Abteilungen auf dem Exerzierplatz zusammentraten. Die kraftvollen kurzen Worte des Majors und die drastische Militärmusik, deren Choräle einen »herumrissen,« machten einen mächtigen Eindruck. Die Heeresgliederung, gebaut auf Glauben an die Macht des Kriegsherrn und Gehorsam gegen die Vorgesetzten, beide bekräftigt durch einen religiösen Eidschwur, hat etwas, das an die katholische Kirche erinnert. Der Soldat gehört von jetzt an nur dem Heer. Die Treue dem Fahnenschwur ist auf der andern Seite die Voraussetzung der Zuverlässigkeit des Soldaten von oben bis unten. Nur so ist der »richtige Kerl« möglich. Und zwar schweigende, weil selbstverständliche Treue. Schweigen und Gehorchen ist die Losung für alle bis auf die Höchsten, die zu leiten haben. Moltke durfte nicht schweigen, Werder auch nicht in jedem Fall. Mit Schweigen und Gehorchen kommt man jedenfalls weiter als mit Honneur et Patrie; dieses klingt zwar angenehmer, ist aber in Wirklichkeit nicht viel wert, denn es ist kein Gebot, keine Forderung darin. Wir empfingen die Waffen und die neben ihnen wichtigsten Ausrüstungsgegenstände, Tornister und Patrontaschen, und fühlten uns fast erdrückt von der Menge neuen Besitzes. Nur wenige kannten die Bedeutung alles dessen, was uns da übergeben wurde. Wer wußte etwas von der Raumnadel und der Gewehrbürste? Daran, daß wir dies alles viele Monate in der Welt herumtragen würden, dachte damals niemand. Und doch welches Gewicht trugen wir! Der mit sechzig Pfund beladne Infanterist gehört schon heute vermöge des leichtern Gewehrs und Faschinenmessers der Vergangenheit an, in die sich der moderne Soldat nicht mehr hineindenken kann. Der Tornister ist trotz seiner Schwere doch nach dem Gewehr der wichtigste Ausrüstungsgegenstand. Man nennt ihn verächtlich »Aff,« hat ihn aber doch recht gern. Trägt er doch eine ganze Habe: den Kessel, den eisernen Bestand – Reis, Kaffee und Salz –, die Reservemunition. Wie oft hat man den müden Kopf darauf zur Ruh gelegt. Und endlich entsteht doch immer eine Art von zärtlichem Verhältnis zwischen dem Träger und seiner Last.
In den hohen gewölbten Gängen des alten Gebäudes glänzten die langen Reihen der Gewehre, die nach der Nummer aufgehängt waren, sodaß man sie im Dunkeln finden konnte, in den Schlafsälen standen die Pritschen paarweise mit den spreugefüllten Schlafsäcken und den bei Tage gerollten Decken, und über jeder stand auf rohem Brett der Tornister und was jeder an Habseligkeiten aufzustellen hatte. Zu jeder Zeit des Tages waren Gänge und Treppen von Uniformen belebt, und aus dem großen Hofe, den ein altes Lanzengitter abschloß, klangen die Signale. Das Wort Kaserne hat einen übeln Klang, und doch wurde es draußen im Felde mit einer gewissen Sehnsucht ausgesprochen, wenn wir uns an die schönen Zeiten erinnerten, wo wir als angehende Kriegsleute unsre ersten Anleitungen dort empfangen hatten. Den Schlagschatten dieser Erinnerung liefert die Luft im Schlafsaal, dessen Fenster auch in den heißen Julinächten nicht geöffnet werden durften, wenn der Unteroffizier in der Laune war, sich vor Zug zu fürchten.
Ich habe noch nicht von dem Kommandanten unsrer Ersatzabteilung gesprochen, dem Major Bosse, den ich freilich bis zum Tag vor dem Abmarsch ins Feld immer nur von weitem gesehen hatte. In seinen Mienen lag eine hohe aber enge Gesinnung, aus der alles ausgeschlossen war, was das Leben breit und heiter macht: Humor, Ironie waren ihm geile Triebe. Einer, der ihn länger kannte, sagte: Bosse ist auf einem steinigen Fleck gewachsen, wo es nicht viel Grünes gibt. Allerdings erinnerte seine hohe, schmale Gestalt an Pflanzen, die hauptsächlich aus Stengel bestehn. Wenn er vor die Kompagnie trat, merkte man an dem Blicke, den er die Reihen entlang sandte, wie zuwider ihm alles war, was irgendwie hervortrat. Er verfinsterte sich schon, wo er auf eine Nase stieß, die nach seiner Auffassung zu weit hervortrat: »Dieses Vogelgesicht verdirbt mir die Front.« Immer saß irgendein Helm nicht gerade genug, oder war eine Krawatte zu wenig oder zu viel über dem roten Kragen sichtbar. Zwei Finger der rechten Hand zwischen dem zweiten und dem dritten Knopf der Uniform, die linke auf dem Säbel, den er sich pallaschartig gerade ausgesucht hatte, so stand der Major halbe Stunden lang kerzengerade vor der Front und verzog keine Miene. Die Worte kamen spärlich und wie gequetscht aus seinem Munde, trafen aber immer irgendwie ins Schwarze, denn da er den Dienst gründlich kannte, entging ihm keine Abweichung vom Reglement, auch wenn sie kaum merklich war. Gerade für uns, die wir geneigt waren, weniger bedeutendes nebensächlich zu behandeln, war er ein vorzüglicher Lehrer. Freilich hatte der Offizier in ihm den Menschen fast aufgezehrt. Der Baum des Offizierkorps hat in den obern Rängen manchen dürren Ast. Es ist ein alter Baum. Ein Leben lang vom Ehrgeiz leben, trocknet das Herz aus. Bosse war aber nicht trocken im Militärischen, sondern das Leben selbst. Kameraden von mir, die zu Offizieren befördert ihm dienstlich näher traten, bewunderten seine Arbeitsleistung, haben aber freilich außer Dienst niemals ein Gespräch von ihm gehört. Als Kommandant auf einer der wichtigsten Etappenstationen im Elsaß hat er sich Verdienste erworben, die das auf ihn gemünzte Schlagwort: »Auf Kriegsdauer ausgegrabnes Fossil« beschämten. Er gehörte zu der nicht kleinen Zahl von Offizieren a. D., die, im Friedensdienst abgewelkt, durch den Krieg erst in die Lage kamen, ihre Tüchtigkeit zu zeigen, und ein rühmliches Nachgrünen erlebten. Bosse war eine von den Naturen, die das Leben verbrauchen muß, soll nicht die Ruhe sie töten.
Nun heißt es, allem dem, was wir seit Jahren gelernt und geübt haben, die praktische Spitze und Schneide geben; das wird schwer halten. Kannst du mit deinen Würmern etwas anfangen? Und was tue ich mit meiner Ästhetik? Ich fürchte, wir werden das ruhig in dieselbe Kiste packen und abschließen, in die unser äußerer Zivilmensch, unsre Bücher und unser Papier für unbestimmte Zeit verschwinden müssen. Ja, ich sehe ein. Das Vaterland braucht einstweilen nichts als unsre nackten Körper; so wie wir vor den Stabsarzt hintreten, so will man uns: Beine zum Marschieren und Arme zum Schießen und Schlagen, den Leib, der beide zusammenhält, und den Kopf mit richtigen Sinnen, mehr verlangt man nicht; aber dieses wenige will gut geübt und imstand gehalten sein. Was mich betrifft, so würde ich mich mit dem Wechsel der Beschäftigung auch dann einverstanden erklären, wenn ich etwas dazu zu sagen hätte. Aber das finde ich ja gerade das Wohltätige, daß das gar nicht möglich ist. Freund, das Schicksal, das uns unser Los so vom blauen Himmel herab hinwirft, ist doch etwas Wundervolles. All mein Wollen und Streben, mein scharfes Hinsehen auf das Ziel, mein Denken an den Wettbewerb der andern ist von mir genommen, ich fühle mich ungeheuer frei, wie ichs nie gewesen bin, indem ich das Joch des gemeinen Kommißsoldaten auf mich nehme.
Ich habe mich mit Schatten- und Spiegelbildern begnügt, wie anders ist das lebendige Wesen und Wirken. Ich wirke einstweilen nicht, ich werde gewirkt, aber ich fühle, daß ich zur Masse gehöre, mit der zusammen ich ein sicheres Gewicht übe. Und dieses Bewußtsein, irgendwo fest zu stehn und eine Spur zu lassen, auch wenn sie nur eine unter vielen ist, das macht doch den eigentlichen Mann aus. Wenn ich bedenke, daß es in diesen Tagen Hunderttausenden so geht, so kommt mir diese Zeit wie ein großes Fest der Mannesweihe vor. Hunderttausend Einzelmänner werden in die Masse hineingeschmiedet und werden als bessere gehärtet hervorgehn, nachdem das Feuer dieser Tage sie durchglüht haben wird.
Jetzt kommt gerade diese Art von Gedächtnis ins Spiel, die wir nicht geübt haben: Sachen, Lokalitäten wollen festgehalten sein. Was nützt da das Namen- und Zahlengedächtnis? Bourienne sagt, Napoleon habe kein Gedächtnis für Eigennamen, Wörter und Daten gehabt, dagegen Tatsachen und Örtlichkeiten, die er einmal gesehen habe, habe er nie vergessen. »Die er einmal gesehen habe,« das ist die Hauptsache daran. Was ich gesehen habe, ist mein Eigentum, was ich gelesen habe, ist nur geliehen. Soweit ich mit Selbstgesehenem, d. i. Selbsterfahrnem arbeite, bin ich original. Wörter und Zahlen lernen, ist das Geschäft eines Wiederkäuers.
Reiske holte aus seinem Gedächtnis die Erinnerung an Napoleons durchdringenden Blick. Irgendein Jugendgenosse schildert sein Gesicht in der Zeit der italienischen Feldzüge, das ganz auf den Ausdruck der Augen reduziert gewesen sei, die durchdringend und willenskräftig geblickt hätten. Napoleon selbst hat sich noch auf St. Helena dankbar an Korsikas Täler und scharfgeschnittne Berge erinnert, die seine Augen früh geschärft hätten. Das Sehen im Dunkeln ist auch eine Soldatentugend. Der Soldat kann nicht immer mit der Laterne wandern, er darf es zeitweilig nicht einmal. Wessen Auge das Dunkel einer schwarzen Regennacht durchdringt, dem sind manche schmerzliche Stürze, Quetschungen, Schärfungen erspart. Er wandert nicht mit dem Bauche in eine Wagendeichsel und stürzt nicht über einen schlafenden Ochsen. Was im Handeln eines Menschen straffe Zweckmäßigkeit ist, wirkt ebenso als eine Schönheit wie jede vollkommne Erfüllung eines Gefäßes durch seinen Inhalt. Die Haut, die der Muskulatur fest anliegt, die Rinde der Buche, die ohne Risse und Auswüchse den Stamm umgibt, als sei sie mit ihm aus einem Stahlblock geschmiedet, das sind Bilder, deren Eindruck ich in dem Handeln des Mannes wiederfinde, das ohne Umschweife das Rechte erzielt, besonders ohne viel Reden, das den starken Stamm des Willens zur Tat oft efeuartig überwuchert und erstickt. Das Alter bildet den Stamm immer einfacher und kräftiger aus, und so wächst mit den Jahren die Schönheit der Handlungen der Menschen, die zu handeln wissen. Große Staats- und Kriegsmänner sind deshalb im höchsten Alter oft schöner als in der Jugend, wo sie noch nicht wußten, welcher Ast sich zum Stamm auswachsen werde.
Was ists, das eine Truppe kriegstüchtig macht? Die Bewaffnung? Nein! Die Franzosen haben in ihren Chassepots weitertragende Gewehre als die Zündnadel gehabt, und ihre Chassepots waren dabei leichter, und sie haben doch nicht widerstanden.
Das Kommando, die Führung? Nein! Davon hängt wohl der Erfolg in großen Treffen ab, aber die Truppe muß auch tüchtig bleiben, wenn sie keinen Erfolg hat, und jede Kompagnie muß dieselbe Tüchtigkeit zeigen, ob sie auch alle Offiziere verloren habe.
Es ist die Disziplin. Jeder muß jedem Befehl aufs genaueste und sofort Folge leisten, er darf sich nicht einmal besinnen, so wenig wie er sich über eine Wendung oder einen Griff besinnt. Einer wie der andre, und einer mit dem andern; wenn es so geht, daß die Kompagnie wie ein Mann exerziert, dann würden auch ihre 250 Mann wie einer schießen, vorgehn und siegen. Das ist Kriegstüchtigkeit. Und darin liegt auch das Geheimnis, warum es im Soldatenleben keine »Nebensachen« gibt. Das beständige Putzen und Flicken erhielt uns tätig und steigerte in jedes Mannes Auge seinen eignen Wert und den Wert des Soldatenstandes. In dem bei Vorgesetzten beliebten Wort »Der Mann hält was auf sich« liegt ein großer pädagogischer Grundsatz.
In den seltenen Fällen, wo der Soldat Zeit und Gelegenheit hatte, Uniform und Ausrüstung aufzufrischen und einen Parademarsch, sei es auch in der Dorfstraße, auszuführen, fuhr der Geist des Exerzierplatzes in ihn. Nur die Trägsten blieben dann zurück. Wer die Erfahrung hätte, welche Freude der Mann an einem gut ausgeführten Marsch hat, würde den vielverspotteten Parademarsch anders beurteilen. Mit der Marschierfähigkeit hängt eng die Manövrierfähigkeit zusammen. Und diese ist nichts weniger als eine besonders wichtige Anwendung der Kriegstüchtigkeit auf die Bedürfnisse des Schlachtenkriegs. Ihr liegt zugrunde der möglichst enge Zusammenhalt der Einheiten von der Sektion aufwärts, die sich immer von selbst wiederherstellen, zusammenfinden müssen, wie auch der Marsch, die Schlacht, besonders aber der Rückzug, sie durcheinandergeworfen haben mögen. Ohne Marschfähigkeit keine Manöver im großen Stil, wie z. B. die große Rechtsschwenkung Ende August. Sagt, was ihr wollt, die Härte kann schön sein und ist es auch sehr oft, die Weichheit ist immer häßlich. Die Nachgiebigkeit, die Empfindlichkeit, das Schwanken sind absolut häßliche Dinge. So wie du gern die gerade Linie des Horizonts siehst oder auch die leichtwellige, die von leichter Beweglichkeit spricht, so ist der Wille, der gerade durchgeht, schön; es schadet nichts, wenn die leisen Schwankungen darin sind, ohne die man sich das Leben nicht denken kann, aber unerfreulich wirken starke Hebungen und Senkungen hart nebeneinander.
Eine Hauptsache war: Keine Eile, wenn sie nicht befohlen wird. Ruhig avancieren, und wenn es das Schicksal will, ebenso ruhig unter gründlicher Benutzung jeder Deckung retirieren. Dabei das schärfste Augenmerk auf die Waffe haben. Keine Patrone soll verloren gehn, geschweige denn ein Gewehr. Gern wiederholte der Sergeant die Geschichte, die er 1866 mit angesehen hatte, wie ein verfolgter Dragoner, dem das Pferd erschossen war, kaltblütig seinen Karabiner vom Sattel schnallte und nach Abgabe eines einzigen wohlgezielten Schusses auf seine Verfolger sich unbeschädigt zu den Seinen zurückzog. Versäumt keine Gelegenheit, die gut ist, dem Feinde eins auf den Pelz zu brennen.
Wir sehen nicht über die nächste Stunde, was kommen wird, und unsre Erfahrung macht halt bei den Doppelposten unsers Kantonnements. Wirklich, ganz nur Werkzeug! Was wäre diese Maschine ohne Vertrauen? Nur Vertrauen ist die Brücke zwischen dem Feldherrn oben und dem letzten Wachtposten unten. Eine Truppe kann von Ratlosigkeit überfallen werden, daß sie nicht aus noch ein weiß, aber es ist dann immer noch ein Weg zu finden. Mangel an Vertrauen ist eine Herzkrankheit, die den innern Organismus der Truppe so lange schwächt, bis Verzweiflung an allem entsteht. Das Ende der Vertrauenslosigkeit ist der Zusammenbruch: eine Herde, von den bösen Geistern des Ungehorsams und der Furcht auseinandergetrieben.
In den Kreisen, denen ich bisher angehört hatte, war der Einzelne alles, eine Gemeinschaft gab es im wahren Sinne nicht, der Wert des Mannes lag in seinen besondern Gaben, die er darum auch bis zum Übermaß entwickelte. Umgekehrt kam nun in der Kompagnie alles auf das Ganze an. Wer sich am besten in die Sektion, den Zug, die Kompagnie einfügte, war der brauchbarste. Der Soldat ist kein kompliziertes Wesen, je einfacher, desto besser. Sein Vorgesetzter beurteilt ihn nach wenigen hervortretenden Eigenschaften, für die eben das Ganze den Maßstab abgibt: er sei gesund, unverdrossen, gehorsam, entschlossen, im besondern marschfähig und ein guter Schütze.
Der »theoretische Unterricht« wurde unsrer Abteilung von einem jüngern Unteroffizier erteilt. Der Hörsaal war eine Scheune. Weisheit von der unmittelbarsten Verwendbarkeit wurde da gepredigt. Auf einen mit erhobner Stimme vorgetragnen Lehrsatz, wie: Die Ordnung und die Sauberkeit jedes von den Hunderttausenden von Rädchen in dem großen Mechanismus sind die Voraussetzung der Leistungsfähigkeit des Ganzen, folgten die Anwendungen auf das Gewehrputzen, den Glanz des Lederwerks, die Instandhaltung der Montur. Es wurde interessanter, wenn der Vorpostendienst zur Sprache kam und z. B. die Kennzeichen der Nähe des Feindes aufgezählt wurden, zu denen auch die auffallende nächtliche Unruhe der Hunde in besetzten Dörfern gehörte. Verirrten Patrouillen wurde empfohlen, die Himmelsrichtung bei dunkler Nacht in einem Walde durch Betasten der Bäume zu suchen, die an der Westseite bemooster zu sein pflegen. Kommt ein Soldat aus dem Zusammenhang mit seinem Zug, so schließt er sich sofort der nächsten geschlossenen Abteilung an; vereinzelt zu bleiben ist ein großer Fehler, militärisch ganz unmöglich. Das leuchtete uns ohne weiteres ein, und wer ein Gedächtnis für unsre Stunden hatte, erinnerte sich vielleicht angesichts der zahllosen zerstreuten Gefangnen, die die Franzosen nach jedem Treffen zurückließen, an diese wichtige Lehre.
Ich will aber nicht behaupten, daß wir im theoretischen Unterricht sehr viel gelernt hätten. Der Unteroffizier, der ihn erteilte, war zu gutmütig. Ich sehe ihn auf der Deichsel eines Wagens in der Hörsaal-Scheune sitzend, auf dem Wagen und um denselben sein Auditorium zum Teil in sehr bequemen Lagen, alle ohne Ausnahme todmüde von dem endlosen Exerzieren, Marschieren, Putzen usw. Einige schliefen immer einmal ein, andre fanden noch Zeit, das Gehörte zu parodieren. Ich fand z. B. folgenden Satz nicht übel: Auch Dummheit ist eine Gabe, die der Soldat nicht verachten darf; er muß sie nur recht anzuwenden wissen, doch nicht im Übermaß!
Es wurden kurze Aufklärungen über die Organisation und die Uniformierung der französischen Armee verteilt. Mündlich wurden wir über die Fechtweise der Franzosen unterrichtet; als wir die uns gemachten Mitteilungen mit der Wirklichkeit verglichen, merkten wir wohl, daß die Hauptsachen anders waren, denn von der Fernwirkung der Chassepots wußte unser Instruktor nichts, er sprach dagegen viel von dem katzenartigen, springenden Vorgehen der Franzosen, das diese sehr wenig geübt haben. Man merkte allen Mitteilungen des Leutnants die übertriebnen Vorstellungen von der französischen Taktik an, die seit 1859 in deutschen Offizierkreisen kursierten. So weit war also doch das Studium der französischen Heereseinrichtungen in Deutschland nicht vorgedrungen, daß man diese wesentliche Stärke der Franzosen richtig geschätzt hätte. Was wäre geworden, wenn die französische Artillerie in ihrer Art der unsern ebenso überlegen gewesen wäre wie das Chassepot der Zündnadel?
Von unsern Unteroffizieren lernte ich den jüngsten und liebenswürdigsten schon auf der Fahrt zum Depot kennen, auf der er sich das unvergängliche Verdienst erwarb, uns die Elemente des Regimentspatriotismus, verkörpert im Regimentslied, zu lehren. In jenen Stunden, wo er unermüdlich das Lied vorsang, bis wir es innehatten, gab es für ihn nichts in der ganzen Welt über dem Regiment. Das war uns allen neu und interessant. Daß wir uns in diese kleine Welt in kurzem fast ebenso eingelebt haben würden wie er, hätten wir nicht für möglich gehalten. Die Unteroffiziere, die wir beim Bataillon trafen, teilten wir sofort in alte und junge. Diese waren erst befördert worden, jene gehörten zum alten Eisen und blieben größtenteils im Depot zurück. Unter den jüngern haben sich einige im Felde ganz vorzüglich benommen. Von andern gewann ich den Eindruck, mancher wäre ein besserer Mensch gewesen, wenn er den bunten Rock nicht gehabt hätte, der ihn eitel und aus Eitelkeit großmannssüchtig und überhebend, gelegentlich auch brutal machte. Ich habe einen von denen, die uns gegenüber nie den richtigen Ton finden konnten, immer ins Kleinliche und Tölpische fielen, später als Wirt im Odenwald wieder getroffen, wo er durch sein biederes, militärisch offnes und pünktliches Wesen den besten Eindruck machte. Das Befehlen, schon über eine Korporalschaft von zwanzig Mann, ist eben eine Kunst! Ein älterer Sergeant sagte einmal von einem etwas streberhaft auftretenden jüngern, der sich auffallend rasch besserte: Der Hauptmann schält solche Leute wie eine Zwiebel, der Unteroffizier N. wird noch kleiner werden.
Wie viele andre Paare, die ihrer Vereinigung noch sicher sein wollten, ehe ein ungewisses Kriegsgeschick sie vielleicht auseinanderriß, hatte auch unser Sergeant P. gleich am Tage der Mobilmachung den Pfarrer gebeten, ihn mit der Erkorenen seines Herzens zu trauen. Da aber die Dinge sogar damals nicht so rasch gingen wie die Wünsche der Menschen, hatte die Trauung erst an dem Sitze der Ersatztruppe geschehn können, und es war da von einem Honigmond nicht die Rede, nicht einmal von einem freien Tage. Von der Kirche in den Dienst war die Losung des Neuvermählten. Die junge Gattin aber mochte bei allem Trennungsschmerz froh sein, als sie durch die Erlaubnis unsers Kommandanten die Möglichkeit gewann, sich mit einem Munitionszug, der rheinwärts ging, aus dem Kriegsgetümmel zurückzuziehn. P. wurde noch lange mit dieser Hochzeitsreise geneckt. Wer sich einmal an die Waffen gewöhnt hat, mag aus mancherlei Gründen sagen: Schade, daß es nicht mehr Kriege gibt. Ein Philister, wer diese Ansicht überhaupt nicht für möglich hält oder sie als frivol in Bausch und Bogen verdammt! Darf ich nicht das Gefühl haben, daß wenn alle die gewöhnlichen Werte des Lebens rings um mich sinken, mein unverlierbarstes, mein »selbstestes Selbst,« wie einmal Lenau es nennt, um ebensoviel steigt?