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Das Dorfwirtshaus gehört in erster Linie dem Dorf, in zweiter erst dem Verkehr, der die Dorfstraße durchzieht; der Verkehr macht es zum Gasthaus. In abgelegnen, verkehrsarmen Gegenden hängt deshalb seine Güte, ja sein Dasein von den Ansprüchen der Dorfbewohner ab. Es hat bis vor wenig Jahren in manchen Teilen Deutschlands Dörfer gegeben, die überhaupt keine Wirtshäuser hatten, weil der Verkehr keine ins Leben rief, weil sich die Bauern mit einem alten Baumstamm vor dem Rathaus als Beratungsbank begnügten und ihren Durst mit dem Haustrunk stillten. Auf dem Fläming, dem sandigen Höhenrücken, der von der Gegend von Magdeburg nach der Niederlausitz zieht, hat die Verwaltung im Interesse des wachsenden Verkehrs erst neuerdings in einzelnen Dörfern die Gründung von kleinen Gasthäusern anregen müssen. Häufig sind die Wirtshäuser, die keine besondern Fremdenstuben haben, weshalb die bessern Gäste in dem besten Zimmer der Wirtsfamilie untergebracht werden. In dem wunderbar stillen Sibratsgfäll im Bregenzer Wald schlief ich so einmal in Gesellschaft der in Wachs nachgebildeten, früh verstorbnen Kinder des Hauses wie in einer Gruft oder einem kleinen Tempel des Seelenkults. Aber Deutschland ist doch fast in allen Teilen von Verkehrsäderchen so weit durchzogen, daß der Wandrer in allen größern Dörfern Stärkung und zur Not auch Unterkunft finden kann. Auf die Gastfreundschaft der Gutshöfe, Pfarrer usw. angewiesen zu sein, das beginnt erst im polnischen und ungarischen Osten. Nur als ein Rest vergangner Zeiten hat sich in einzelnen Teilen Süddeutschlands der Anspruch der »Studenten« auf Bewirtung im katholischen Pfarrhaus, zur Not auch auf Unterkunft und Viatikum erhalten; manche geistliche Herren werden dadurch ganz gehörig mitgenommen, und ich habe im Allgäu Klagen gehört über die große Anzahl von reisenden Gymnasiasten und Theologiestudierenden, die allsommerlich in die Pfarrhöfe einfallen. Daß der deutsche und der österreichische Alpenverein an den besuchtesten Orten der deutschen Alpen einzelne gute und billige Gasthäuser zu »Studentenherbergen« erklärt hat, wo die wanderlustige studierende Jugend billige Zehrung und Unterkunft findet, ist eine sehr löbliche Erneuerung des alten Rechts fahrender Schüler auf Erleichterung ihrer Reise.

So verschieden in unserm Lande der Verkehr war und ist, so wenig gleichen einander seine Wirkungen auf die Wirtshäuser. In Süd- und Westdeutschland mit seinem alten und weitreichenden Verkehr sind schon früh aus dörflichen Wirtshäusern Verkehrsstätten, echte Gasthäuser geworden. Kein deutsches Gebirgsland ist so reich an großen, guten Gasthäusern wie der Schwarzwald mit seinen Industrieorten und seinem alten, mächtigen Holzhandel. Hier sind lange vor dem Fremdenzuzug die Gasthäuser im Sommer und Winter von Leuten besucht gewesen, die einen guten Trunk und entsprechenden Bissen verlangten. Daß die guten alten Wirtshäuser auch sogar an einsamen Straßenkreuzungen und in kleinen Weilern nicht fehlen, gehört zu den Eigentümlichkeiten des Schwarzwalds, die man besser begreift, wenn man mitten im Winter Hunderte von Holzfuhrwerken an einem einzigen Tage beim Kreuz oder Sternen vorfahren sieht. Übrigens hat hier auch der Wein seine Wirkung getan, der überall einer reinlichen und auf die Küche bedachten Wirtschaft günstiger ist als das Bier. Der Geschäftsgeist, der sich in den Schwarzwälder Werkstätten äußert, ging natürlich auch nicht an den Gasthäusern vorüber, und die alemannische Reinlichkeit, die fast in jedem Bauernhause waltet, hilft auch dazu. Endlich hat auch die Nähe der Schweiz eingewirkt, dieses Musterlandes des modernen Gasthauswesens; die neuen großen Gasthäuser im Schwarzwald und in den Vogesen sind in ganz Deutschland die schweizerischsten im guten und im übeln Sinne.

Von den ursprünglich verkehrsärmern mitteldeutschen Gebirgen ist der Harz in gasthäuslicher Beziehung dem Thüringer Walde gerade so ähnlich, wie er geologisch mit ihm verwandt ist und landschaftlich soviel Ähnliches aufzuweisen hat. Harz und Thüringer Wald sind arme Gebirge im Gegensatz zum Schwarzwald, nur mit spärlichen Oasen fruchtbaren Landes, eher rauh als mild und schon außerhalb der Zone des Weines gelegen. Die Edelkastanien von Blankenburg, die nördlichsten auf deutschem Boden, sind nur noch Kuriositäten, verglichen mit den »Keschten«wäldern von Cronberg oder Gernsbach. Die arme Bevölkerung dieser Gebirge besuchte aus guten Gründen die Wirtshäuser wenig, Reisende gab es auch nicht viel, und so mußte denn der Reiseluxus, den der Vergnügungsreisende verlangt, ganz von außen hereingetragen und erst angepflanzt werden. In dem rauhen sozialen Klima der Waldgebirge ist er aber nicht so recht gediehen. Jedes Bett spricht von dem Kampf, den er mit den ärmlichen Lebensgewohnheiten der Gebirgsbewohner zu kämpfen hatte, und die Küche hat ebensowenig an einheimische Überlieferungen anknüpfen können. Es ist nur der regsamen Intelligenz der Bewohner zuzuschreiben, daß das Gasthauswesen in diesen Gebirgen in ununterbrochnem Fortschritt ist; die schlechten oder mittelmäßigen Zensuren, die es in den aufrichtigen Reisehandbüchern noch erhält, werden hoffentlich mit jedem Jahre günstiger ausfallen. Schade, daß so ziemlich überall die Preise immer rascher steigen als das, was dafür geboten wird! Ähnlich ist es im Erzgebirge, besonders auf der sächsischen Seite, und war es einst im Riesengebirge. Ähnlich ist es noch heute im Taunus, im Westerwald und auf der Eifel. Hier hat der Touristenstrom ganz neue Häuser ins Leben gerufen, da das alteinheimische Wirtshaus viel zu einfach war, daß es dem Bedürfnis eines plötzlich beginnenden Luxusverkehrs hätte dienen können. Die Wirtshäuser in den industriellen Gegenden des Erzgebirges und der schlesischen Gebirge sind häufig mit einem auffallend großen Saalanbau versehen, der allsonntäglich die vergnügungssüchtige Jugend der Arbeiterbevölkerung und gelegentlich sozialdemokratische Versammlungen beherbergt.

In Bayern und in Tirol haben wir ähnliche Verhältnisse wie am Oberrhein. An den einst vielbefahrnen Straßen des italienischen Handels über den Brenner und den Fern, an den Salzstraßen, die, die Isar und den Inn kreuzend, vor dem Gebirge herziehn, an der Donaustraße stehn die alten Gasthäuser der Fuhrleute und der Stellwagen. Einige haben sich in geschickter Art dem modernen Fremdenverkehr angepaßt, der die großen Räume wenigstens zur Sommerszeit füllt. Die beliebtesten Gasthäuser am Brenner, im Oberinntal, im Drautal, in den alten Durchgangspunkten des Augsburger Verkehrs, Mittenwald und Ammergau, gehören zu den alten Verkehrsstätten. Ihr durch manches bunte Wandbild von Heiligen oder von Frachtfuhren mit sechs Paar Gäulen bezeugtes Alter und ihre behaglichen weiten Räume haben dazu beigetragen, sie den modernen Vergnügungsreisenden angenehm zu machen. Welches »Hotel« kann einen Raum bieten, der sich an freundlicher Behaglichkeit mit dem zimmerartig breiten und hellen Vorplatz der Stockwerke eines solchen Hauses messen könnte, wo in Glasschränken die Familienschätze alter Gläser, Teller und Platten aufgereiht sind und zwischen den Fenstern der blumengeschmückte Hausaltar steht? Der eleganteste Konversationssaal ist fade und kalt neben einem solchen anspruchlos edeln Raum, der sich besonders auch dadurch auszeichnet, daß er durchaus nicht überflüssig ist, was man von vielen Räumen moderner Gasthausbauten nicht sagen kann. Bei diesen muß man unwillkürlich an den eignen Geldbeutel denken, der törichten Luxus mitzahlen muß, während jener alte Vorraum uns durch seine bürgerliche Gediegenheit beruhigt.

Nicht allen den alten Postgasthäusern war diese glückliche Auferstehung beschieden. Wer die von Touristen selten begangne Straße wandert, die in ziemlicher Entfernung vom Gebirge von München über Mühldorf am Inn und Braunau nach Linz und Budweis zieht, trifft in selten genannten Dörfern, zu denen auch das schlachtenberühmte Ampfing gehört, große weißgetünchte Häuser, deren dickes Mauerwerk und breite erkergeschmückte Fronten einen mächtigen Hof umschließen, der rückwärts von Pferdeställen und Ökonomiegebäuden umgeben ist. Wo einst Fremde aus aller Herren Ländern Rast machten, erzählen sich heute der Förster und der Pfarrer alte Geschichten, und den Platz der Postpferde nehmen Ackergäule ein. Aus einem berühmten Umspannplatz ist ein Dorfwirtshaus von imposanten, fast historischen Formen geworden, überschattet im günstigen Fall von dem Ackergut, das heute die Hauptsache ist, wo es früher nur ein Anhängsel des Gasthauses war.

Sind nun in solchen Gegenden die Wirte von der Höhe wichtiger Organe des Verkehrs wieder herabgestiegen und zu Bauern geworden, so sind sie doch eine besondre Art von Bauern. Überall, wo es noch einen tüchtigen Bauernstand gibt, bilden die Bauernwirte eine in ihrem Kreis hervorragende, einflußreiche Klasse, die die Vorteile des bäuerlichen Lebens mit dem Vorzuge verbindet, den die tägliche Berührung mit andern Schichten der Bevölkerung und die Verbindung mit den Kanälen bietet, in denen das Geld umläuft. Das Wirtshaus ist das größte Haus des Dorfes nächst dem Pfarrhaus, in seiner Einrichtung steckt ein stattliches Kapital, manches Zimmer scheint ja mit seinem ganzen Inhalt aus der Stadt hierher versetzt zu sein. An Kenntnis der Menschen und der Weltläufe übertrifft der Wirt oft den Pfarrer und den Lehrer, und gar nicht selten führt er mit Würde an dem Honoratiorentisch in seiner eignen Gaststube den Vorsitz. Das hindert ihn freilich nicht, die leeren Krüge und Gläser seiner Gäste mit eigner Hand zu füllen. Auch die Wirtin und das Töchterlein setzen sich mit ihren Strickstrümpfen an den gemeinsamen Tisch, wenn nach dem Nachtmahl ihre Geschäfte in der Küche besorgt sind. Mit der am Herrentisch gewonnenen Autorität wandert der Wirt zwischen den Bauerntischen umher, die übrigens in der Regel an den Werktagsabenden nicht sehr gefüllt sind. Verheiratete, die etwas auf sich halten, und auf die, was wichtiger ist, ihre Weiber etwas halten, sind, außer an den Sonntagen, Abends nicht im Wirtshaus zu treffen.

Natürlich hat der gesteigerte Fremdenverkehr in allen Industrie- und Touristenlandschaften Deutschlands auch den Wirt erfaßt und umgeändert, und mit ihm alle dienstbaren Geister. Dabei bleibt aber doch immer ein Rest von Natur; denn das Wirtsgeschäft ist zu einem so großen Teil angewandte Lebenskunst, daß es ohne angeborne Gabe ebensowenig gelingt wie eine andre Kunst. Es liegt nahe, zuerst an die Schauspielkunst zu denken; der Wirt muß sich ja »geben« können. Man könnte ebensogut an jene Kunst des Umgangs mit Menschen denken, die eine der allerwichtigsten Voraussetzungen der Erfolge regierender Fürsten ist. Dem Fürsten rechnet man es hoch an, wenn er die Menschen wiedererkennt, die er einmal gesehen hat, und wenn er denen ein passendes Wort sagt, deren Amt, Beruf, Verdienst ihm vorher mitgeteilt worden sind. Viel mehr leistet der Wirt, der auf einen Blick den in sein Haus eintretenden Fremden »nach Verdienst« würdigt, d. h. zunächst ihm die richtige Nummer gibt und ihn dann weiter »entsprechend« behandelt und – einschätzt. Laien behaupten, das sei keine Kunst, es genüge ein Blick auf das Gepäck; auch der Anzug verrate schon genug. Das sind sehr oberflächliche Urteile. Ich gebe zu, daß es am Anzug ein Stück gibt, das sehr weittragende Schlüsse auf seinen Träger erlaubt. Es ist das Schuhwerk. Ein Mann von Stand und Geschmack kann einen alten Filz, eine bäurische Joppe tragen: schlechtes Schuhwerk trägt er fast nie. Außerhalb Deutschlands ist dieses Kennzeichen unbedingt sicher. In Deutschland gibt es freilich eine höchst anständige Klasse, die noch immer schlecht »chaussiert« ist. Das sind die Gutsbesitzer, und zwar nicht, weil und seitdem der Landbau schlechte Zeiten hat, sondern weil das Herumwandern auf kotigen Feldwegen den Stiefel nötig macht. Eine Statistik des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im Deutschen Reiche würde ohne Frage eine Zunahme der beschuhten Männer und einen Rückgang der gestiefelten nachweisen, entsprechend der Zunahme städtischer Bevölkerung und städtischer Lebensweise. Wenn man aber Abends durch die Korridore eines internationalen Hotels geht, kann man ziemlich sicher aus der Zahl der vor den Türen stehenden Stiefel auf die der hier abgestiegnen deutschen Reisenden schließen.

Wenn man Gäste zu empfangen hat, muß man liebenswürdig sein. Ist der grobe Wirt dennoch nicht selten, so spricht sich darin die Schwierigkeit seiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt spielt in der bayrischen und der österreichischen Dialektdichtung eine charakteristische Rolle. Bayern und Deutschösterreich sind die Länder, wo der Wirt dem Bauer noch am nächsten verwandt ist. Aber der grobe Wirt hat doch eigentlich seinen Beruf verfehlt. Der Geschäftsgeist kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht ersetzen. In der Schweiz geht man mit der Zufriedenheit des Handelsmannes aus dem Gasthaus, der für sein Geld erhalten hat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogesen, im Schwarzwald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol gibt es viel mehr Wirte und Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, es dem Gast behaglich zu machen. Das sind Länder, wo es ein Bauerntum gibt, das durch die Kultur veredelt, aber nicht entartet ist.

In dem ländlichen Gasthaus haben sich gerade hier gute Seiten des Bauern- und Bürgertums erhalten, jene Seiten, die Goethe herausgefühlt und in »Hermann und Dorothea« für alle Zeiten festgehalten hat. So kenne und ehre ich eine Wirtsfamilie, die ein kleines Fürstentum von Tälern, Bergen, Seen und Flüssen besitzt; in ihrem Hause hütet sie einen Familienschatz von altem Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ist unzweifelhaft die erste im Ort, ihre Töchter sind, wie es dortzulande üblich, in einem Kloster im italienischen Tirol erzogen worden, dabei arbeiten sie aber alle in der Wirtschaft mit. Die eine, künstlerisch begabt, hat das Speisezimmer mit japanisch-englischen Irisstengeln ausgemalt und schmückt allmorgendlich die Tische mit den geschmackvollsten Blumensträußen. Wenn im Herbst die Blumen selten werden, weiß sie Kohl-, Rotrüben- und Salatblätter zu überraschend schönen Krautsträußen zu vereinigen. Alles ist so gut, wie es die Leute geben können, und die Preise sind anständig. Der Gast fühlt sich in einem solchen Haus gehoben, es geht ein aristokratischer Zug hindurch. Jeder tut seine Arbeit, niemand drängt sich auf. Die Leute freuen sich, wenn sie gute Gäste haben, und tun den andern gegenüber die Pflicht ihres Berufs. Ein solches Haus ist für den Reisenden eine Oase in der Wüste der modernen Reiseeinrichtungen und Reisemethoden, besonders wenn die Tüchtigkeit seiner Besitzer dafür sorgt, daß es auch »mit der Zeit fortschreitet.« Vor einigen Jahren kam ich die Mosel und die Saar herab, schlief die eine Nacht in Metz, die andre in Saarbrücken, die dritte in Trier. In Metz war ich in einem der alten französischen Hotels feinen Stils, es wurde von einem deutschen Gastwirtdilettanten kenntnis- und geschmacklos bewirtschaftet; in Saarbrücken war ich in einem neugebauten Haus für Geschäftsleute, das physisch und moralisch nach Kalk roch; in Trier in einem auf reisende Engländer zugeschnittnen Provinzialhaus. Am vierten Abend lief ich wie ein müdes Schiff in den stillen Hafen eines von Frauen liebevoll verwalteten kleinen, warmen Gasthauses in dem Moselstädtchen C. ein. Das Haus hat einen guten Namen, es trägt den Bädekerschen Stern, seitdem überhaupt Bädeker Hotelsterne verleiht, und es ist gut besucht. Auch diesmal saßen wir zu fünfzehn zum »gemeinschaftlichen Abendessen« nieder und tranken dazu fünfzehn bis dreißig Schoppen C.er Schloßberg, hellgelben, grünlich-topasig schillernden. Tochter und Nichte warten auf, mit Grazie und Bestimmtheit. Die weibliche Leitung der Küche verrät sich in der Schüchternheit der Würzung der Speisen, sonst ist alles aufs sorgfältigste zubereitet. Zeitungen, Reisebücher, Schreibzeug, alles in schönster Ordnung. Sogar der skatspielende Revierförster und der Schiffskapitän nebst Gesellschaft finden Karten und Kreide hübsch auf einem Nebentisch vor dem Ledersofa zurecht gelegt. Die Mädchen waren unablässig in Bewegung, die Wirtin überwachte sie vom Tisch aus, wo sie nach dem Essen die Zeitung las. Ein Wink genügte. Ich ging nach dem kleinen Zimmer, das man mir angewiesen hatte, und fand es leer. Man hatte mir ein besseres eingeräumt, das man bis zur Ankunft des letzten Zuges für Familien bereit hält. Statt der Öldrucke schmücken hübsche Stickereien die Wände. Alles spricht hier von Sorgfalt und Bemühen. Es sind eben Menschen, mit denen man es hier zu tun hat, nicht Rechenmaschinen.

Zu welchen Verzerrungen des Einfachen und Natürlichen führt doch unser Stadtleben, wenn es sich die hier so holde und in jedem Sinn gute weibliche Bedienung nicht mehr anders als mit einem unmoralischen Nebengeschmack vorstellen kann! Nur auf einer Wanderung in der Mark Brandenburg, nicht ganz nahe bei Berlin, ist es mir vorgekommen, daß sich in dem äußerlich anständigen Bierstübchen gegenüber dem einsamen Bahnhof die hochgewachsene Hebe als »Animierkellnerin« entpuppte, die mit unverschämt gestärktem Rauschkleid den Gast bedeutsam streifte, indem sie wie aus Versehen ein zweites Glas zu dem lauen Fläschlein Patzenhofer stellte. Der volantbesetzte Eindruck dieser verwehten Großstadtpflanze drängt in meiner Erinnerung sogar die an demselben Tage gewonnenen Bilder endloser gelber Lupinenfelder und kleiner rotbacksteinener Kotsassenhäuschen sowie des akazienumsäumten Bukower Sees zurück.

Mit dem Dorfwirtshaus hat der Kellner nichts zu tun. Der Hausknecht ist streng aus der Wirtsstube gewiesen, Stall und Hof sind sein Revier. Ursprünglich verkehrte er mit den Gästen nur, wenn er ihnen ausspannte oder sie frühmorgens weckte, um, mit schwankender Laterne voranschreitend, die Schlaftrunknen zur Post zu führen. Die Zunahme des Verkehrs hat auch das geändert. Jetzt kommen die Kellner wie die Schwalben mit der »Saison« und kehren im Winter in die Stadt zurück. Aber es wäre unbillig, den deutschen Kellner hier zu übergehn, weil er nur sporadisch auf dem Lande auftritt. Er ist uns eine willkommne Erscheinung in England und Australien, in Ägypten und Kalifornien. Wir wollen ihn darum in seiner Heimat nicht vergessen. Ehe er sein Glück in der weiten Welt versucht, verdient er sich die Sporen in dem Gasthaus einer kleinen deutschen Stadt. Wenn ich an dem deutschen Wirt oft manches auszusetzen hatte, so habe ich fast immer mit stillem Wohlgefallen und nicht selten mit Sympathie das eifrige Walten junger Kellner beobachtet. Das sind in den bessern Häusern kleinerer Städte Jünglinge, die eine gute Schule hinter sich haben und mit einer gewissen Liebe ihren Schatz von Ortskunde, Sprachkenntnissen usw. an den verschwenden, der ihnen hilfsbedürftig scheint. Wenn des Abends die Gäste näher zusammenrücken, und nur der anspruchslose »Stamm« noch übrig ist, wandert eine französische oder englische Grammatik hervor, die bei Tage unter Adreß- und Kursbüchern ruht. Indem der junge Mann die geistreichen Sätze Ollendorffs lernt, träumt er sich in ein Welthotel in der Rue de Rivoli oder der Victoria Street oder noch weiter in die Welt hinaus. In Lissabon schrieb einer meiner Freunde seinen untrüglich niederbayrischen Namen ins Fremdenbuch. Der internationale Oberkellner schaute ihn freudigfragend an: Kennen Sie den »Wilden Mann« in Passau? – Natürlich, sehr gut, und seinen siebzigjährigen Oberkellner kannte ich wohl, der leider tot ist. – Oh, der war mein Lehrer, ich habe vier Jahre als Kellner im »Wilden Mann« gelernt. Wissen Sie, dieser Alte war bei den Kellnern Europas bekannt, der hat mehr als zwanzig ausgebildet, die in alle Welt hinausgewandert sind. Er sprach vier Sprachen, hat Passau nie wieder verlassen und war, mit all seinen Ersparnissen, zufrieden, der erste und älteste Kellner seiner Vaterstadt zu sein.

Doch kehren wir aufs Land zurück. Das Dorfwirtshaus gehört dem Bauern, und bäuerlich bleibt es darum auch in allen Entwicklungen, die ihm der Fremdenverkehr auferlegt. Deshalb unterscheidet es sich ganz wesentlich von der »Pension,« die nur für die Sommerfrischler hingestellt ist; es hat seine eigne Notwendigkeit und ein ganz andres Leben. Das bayrische und das Schwarzwälder Wirtshaus wird nicht wie das schweizerische Hotel – und eine kleine Anzahl tirolische – im Winter geschlossen und wird nicht nur drei, in hohen Lagen gar nur zwei Monate dem Fremdenzuzug geöffnet, es ist den ganzen fremdenarmen Teil des Jahres auf seine ländliche Kundschaft angewiesen, die auch im Sommer nicht so scharf von der städtischen getrennt ist, sondern unverändert ihre Ansprüche auf Komfort und Verpflegung geltend macht. Die Ansprüche der Gaststube mit denen des »Herrenstübel« zu vereinen gehört zu den Aufgaben, die nur ein guter Wirt löst. Wenn die Bauern zu kegeln anfangen, während neben der Kegelbahn im Wirtsgarten eben das Essen für seine Gäste aufgetragen wird, lassen sie sich leicht Ruhe gebieten; nicht so leicht läßt sich der Lärm einer Bauernhochzeit mit dem Ruhebedürfnis nervöser Städter vereinigen. Doch schlägt hier die alte Anziehung zwischen Buabn und Madln manchmal die Brücke, da es die »Stadtfratzen« gar nicht unter ihrem Stande finden, sich im bäurischen Ländler zu drehen, was auch die Burschen gern annehmen. Am leichtesten ebnet aber ohne Zweifel das Bier, der Trunk, der allen zugänglich ist, die Verschiedenheiten aus. Ein gutes, billiges Bier, das dem Holzknecht ebenso gut mundet wie dem Touristen, gibt dem ganzen Wirtshausleben einen im guten Sinne demokratischen, daher behaglichern Charakter.

Wenn ich hier eine angenehme Seite der Vereinigung des Trinkhauses und des Gasthauses unter demselben Dache berühre, will ich nicht die Nachteile verbergen, die daraus so oft für das gute deutsche Gasthaus hervorgehn. Mit dem Egoismus der Genußsucht überschreitet die Kneipgesellschaft Raum und Zeit, in die eine billige Rücksicht sie bannen sollte. Am obern Ende der Wirtstafel trinken Familien Tee, während am untern das Wein- oder Biergelage mit Zigarrenqualm und banalem Gerede schon begonnen hat. Und zu später Stunde, wo reisemüde Wandrer gern Ruhe hätten, lärmt diese Gesellschaft, deren laute Unterhaltung sich zum Gebrüll gesteigert hat, in den Morgen hinein. Auch im Auslande zeichnen sich besonders Deutsche durch die Rücksichtslosigkeit aus, womit sie ihren Trinksitten frönen; es hebt nicht ihr Ansehen, daß sie, um ungestört kneipen zu können, die »Schwemm« dem Salon, das Rendezvous des cochers dem Speisesaal vorziehn. In der lieben Heimat bedroht diese Neigung am meisten das beliebte Gasthaus, von dem es in den Büchern heißt: Einfach, bürgerlich, gut, billig. Was will man mehr? Aber gerade diese Rose hat viele Dornen. Der einfachste und natürlichste Fall ist, daß mehr Leute so denken wie ich, und daß mich ihre Menge in meinem einfachen bürgerlichen Behagen stört. Es ist aber noch der beste Fall. Minder leicht ist die parasitische Dornenentwicklung der Stammgäste zu ertragen, die guter Wein oder alte Gewohnheit an das obere Ende des Speisetisches zieht, wo sie ihr Kartenspiel mit Faustschlägen auf den Tisch begleiten, überhaupt sich mit einer Ungeniertheit benehmen, die ich nicht nachahmen könnte, wenn ich auch wollte. So kämpft das deutsche Gasthaus den ungleichen Kampf mit dem Trinkhaus, in dem es vielleicht nur dann nicht unterliegt, wenn ihm Fremde ohne »Trinksitten« zu Hilfe kommen. Ich komme in ein ländliches Gasthaus, das wunderschön am Eingang eines vielbesuchten Parkes liegt. Er ist wie gemacht zum ruhigen Aufenthalt. Ich bin erstaunt, das als trefflich gerühmte Haus in Unordnung zu finden. Zimmerschlüssel verlegt, Zimmer nicht gelüftet usw.: die bekannten Übel. Der Wirt entschuldigt sich mit drei Berliner Bankiers, die gestern Abend gekommen und bis heute früh um fünf bei mehreren üppigen Bowlen sitzen geblieben sind. »Hoffentlich haben Sie die Herren ruhig trinken lassen und sie einem Kellner übergeben!« – »Wo denken Sie hin? Ich mußte aufbleiben, denn da handelte es sich um feinste Sorten. Nein, ich war der letzte.« Und heute, es ist Sonntag, hat dieser Mann sein Haus voll Gäste, die alle seine Aufmerksamkeit heischen. »Wie können Sie das?« – »Man muß! Das ist die ganze Kunst. Diese paar Sommermonate sind unser Geschäft, da heißt es, alle Nerven anstrengen, im Winter ruhn wir wie die Dachse.« Dabei kann natürlich das Haus nicht in Ordnung kommen. Der Mann wird im besten Fall ein paar Jahre früher Privatier, aber als Gastwirt bleibt er ein Stümper.


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