Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4

Der Bergwandrer, der bei sinkender Nacht noch das Joch überschritt, steigt auf kaum kenntlichem Pfad, über den sich gelegentlich eine morsche Wettertanne gelegt hat, ins Tal hinab. Durch das Gebüsch der Legföhren, aus dem nur einzelne schlanke Ebereschenbäumchen und schwanke Gerten der Zwergweide herausragen, glänzt ihm ein rötlicher Schimmer herauf, der erst klein wie ein Stern ist, dann breiter, voller leuchtet, endlich die züngelnde Flamme zeigt, vor der sich unkenntliche Gestalten hin und her bewegen. Es ist das Herdfeuer einer für einige Wochen als Sommerwirtshaus dienenden Alphütte. Welch tröstlicher Anblick empfängt nun den Müden, wenn er vor der breiten Tür des einfachen Blockhauses seinen Rucksack abhängt, um ihn neben dem Bergstock auf der Bank neben der Tür abzulegen, wo Reihen hölzerner Weidlinge (Milchschalen) zum Trocknen stehn. Über dem Herdfeuer hat die Stelle des gewaltigen Kessels, worin die Milch für den Käse zum Gerinnen gebracht wird, eine flache eiserne Pfanne eingenommen, in der ein Schmarren »brotzelt,« dem, indem er sich zu bräunen beginnt, ein herrlicher Geruch entqualmt. Eine kundige Hand bewegt dieses Mittelding von steifem Brei und Backwerk mit einem eisernen Schäufelchen, hebt es immer wieder vom Boden der Pfanne ab und zerschneidet es in kleinere Stücke. Dem Duft merkt man an, wie süß die Milch war, die hier mit dem Mehl gemischt wurde, und wie rein die Butter, in der der Teig brät. Die Pfanne wird jetzt vom Herd gehoben, einer von den Hirten, der den Wirt spielt, teilt die Blechlöffel aus, und die Gesellschaft greift mit Wohlgefallen zu, ohne indessen die Mäßigung zu vergessen, die beim Essen aus gemeinsamer Schüssel geboten ist. So alt wie das gemeinsame Mahl der im Kreise um die Speise gelagerten, so alt ist auch die Quelle des Anstandes in der Zurückhaltung der Hungrigen, von denen jeder gleich den halben Schmarren auffressen möchte, aber geduldig wartet, bis sein Nachbar »hineingelangt« hat. Der moderne Table d'hote-Mensch, der seinem Nachbar den letzten Bissen wegißt, kann von diesen einfachen Leuten lernen.

Das Mahl ist beendet, man löscht nun den Durst aus einer Bütte frischen Wassers, das eben von einer nahen Quelle geholt worden ist, gießt sich Wasser über die Hände, die man mit wergnem Handtuch abtrocknet. Vielleicht wandert noch eine Flasche Enzian aus dem Dunkel des Wandschränkchens dort in der Ecke unter dem Heiligenbild hervor und würzt zusammen mit dem unvermeidlichen Tabak die Unterhaltung der Hirten und ihres Gastes, die sich wieder um das Herdfeuer versammelt haben. Es plaudert sich auch ohne das vortrefflich angesichts der Flammen, die wie lebend auf und nieder steigen, sich ausbreiten und zurücksinken. Es liegt soviel beruhigendes, in Träume wiegendes im Anschauen eines Herdfeuers; ich würde es nervösen, schlafsuchenden Menschen empfehlen. Eine harzgefüllte Lücke zersprengt mitunter ein dürres Fichtenscheit mit lautem Knall und schleudert wohl gar einen Feuerbrand vom Herde. Der Gast, der vermutlich das luftarme Schlafkämmerchen neben dem zugleich als Käserei, Küche und Gastzimmer dienenden Raum verschmäht, steigt eine Stunde nach Sonnenuntergang mit wohlversicherter Laterne einen schmalen Hühnersteig empor zum Heulager über dem Ziegenstall, wo er sich zwischen zwei Wolldecken unbeschreiblich behaglich bettet. Schön ists dann, wenn bei der ersten Dämmerung die Sterne ohne Funkeln vom Himmel verschwinden, und nicht eine Wolke im regenverkündenden Morgenrot heraufzieht; es ist aber auch nicht so ganz unschön, wenn nach einem warmen Abend ein Landregen »einhängt,« der mit stiller Notwendigkeit herniederrieselt. Kennst du vielleicht, lieber Leser, auch eine Stimmung, in der du dem grauen Regenschleier dankst, daß er sich zwischen deiner Einsamkeit und der Welt zuzieht? Jedenfalls tut es beim einförmigen Ton der fallenden Tropfen gut, sich noch etwas tiefer ins Heu zurückzuziehen und das Gefühl der Geborgenheit im Trocknen und Warmen zu genießen.

So ungefähr denke ich mir auch das ursprüngliche Wirtshaus, das ähnlich bei Holzfällern im Walde und bei Fischern am Seestrand sein mochte. In erweiterter Form, aber im Kern dasselbe war das niedersächsische Bauernhaus mit dem Herd im Hintergrund der Tenne, über dem Ganzen der offne Dachstuhl wie in einer byzantinischen Kirche. Wenn in Westfalen oder im Lüneburgischen ein Bauernhaus Gäste aufnahm, so saßen sie gerade so um das Herdfeuer wie heute dort in der Alphütte; und ihre Schlafstelle war dann meistens auch über dem Schafstall neben dem uralten Langhaus.

Im heutigen Wirtshaus ist der Herd streng vom Gastzimmer gesondert. Der Herd ist eine Werkstätte geworden, die mit zahlreichen kunstreichen Geräten ausgestattet ist, womit eine entsprechend mannigfaltige Menge von Speisen zubereitet wird. Eine sehr tiefgehende Arbeitsteilung spricht sich darin aus. Der halb städtische Charakter des in ganz Mittel- und Süddeutschland vorherrschenden fränkischen Bauernhauses mit seiner Absonderung mehrerer Räume zum Wohnen, Schlafen und Kochen, außerdem nicht selten noch eines Prunk- und Vorratzimmers kam dieser Arbeitsteilung entgegen. Darum finden wir merkwürdigerweise das Wirtshaus auch in solchen Dörfern Niederdeutschlands nach fränkischem Stil angelegt, wo die Bauernhäuser noch niedersächsisch sind. In der Abtrennung besondrer Räume kommt auch das alemannische und das bayrisch-tirolerische Bauernhaus der Ausscheidung von Küchen- und Wirtschaftsräumen entgegen. Deshalb leuchtet uns hier überall nicht mehr der Herd vom Mittelpunkt des Hauses her mit seiner die Kultur und die Gastlichkeit symbolisierenden Flamme. Beim Eintritt in das Haus haben wir in der Regel gleich links von der Hausflur das Wirtszimmer, dessen in der rechten Ecke sich mächtig erhebender Kachelofen mit seinen behaglichen Bänken die Stelle des Herdes als Sammelplatz der Hausgenossen und Gäste eingenommen hat, während die gegenüberliegende Kammer als »Herrenstübchen« eingerichtet ist, wo dazu ein Bedürfnis ist. Aus dem Hintergrund her macht sich durch den Duft und das Geklapper der Töpfe die Küche bemerklich, und man muß froh sein, wenn man von der Flur aus einen Einblick in ihr Inneres gewinnt. Mit dem Herde, dem dunkeln Rauchfang, den leuchtenden kupfernen und zinnernen Geschirren, und durch den bläulichen Dampf, in dem alles erscheint, ist das oft der einzige noch malerisch gebliebne Raum im ganzen Hause.

Daß nun die Entwicklung doch nicht notwendig gerade diesen Weg nehmen mußte, lehrt die Erhaltung des großen Vorraumes mit dem Herde in den französischen und den italienischen Wirtshäusern nicht bloß der Dörfer, sondern auch ländlicher Städte. So wie das französische und das norditalienische Bauernhaus diesen Raum als Eintrittsraum, Küche und Wohnraum bewahrt, so ist er auch im Wirtshaus erhalten geblieben, wo sich daneben ein kleines Gastzimmer befindet, das mehr Speise- als Trinkzimmer ist. Es gibt aber auch größere, vortreffliche Gasthäuser, wo die Küche mit Bratspieß, Rost usw. im Hintergrund, alles glänzend und rein, von der Straße aus zugänglich ist; man findet darin sogar den Schreibtisch, an den Wänden die Eisenbahnfahrpläne, kurz es ist eine Verbindung von Küche und Kontor und symbolisiert klar die beherrschende Stellung der hier waltenden Wirtin. Daneben erst führt eine kleinere Tür zu den Gast- und Wohnzimmern.

Ist nun bei uns auch räumlich der Herd aus der Mitte des Hauses gerückt, so bildet für das Wirtshaus doch die Küche noch immer den Schwerpunkt, um den sich alles andre reiht und ordnet; und das auch dort, wo nicht eine energische Wirtsfrau am Herde den Kochlöffel als Feldherrnstab schwingt. In der Nähe der Küche pflegt der Eingang zum Keller zu liegen, und um Speise und Trank drehen sich ja die Wünsche und Hoffnungen der Gäste des Hauses. Für solche, die länger unter dem gastlichen Dach des Wirtshauses verweilen, ist selbstverständlich die Leistungsfähigkeit der Wirtsküche ebenso wichtig wie die Einrichtung des ganzen übrigen Hauses; aber auch dem Wandrer, der nur im Vorübergehen vorspricht, wird es erst recht wohl, wenn er sich in einen fruchtbringenden Rapport mit der Küche setzen kann. Am Aufprasseln des Feuers und am Klang der Küchengeräte merkt er, daß man sich dort für ihn in Tätigkeit setzt, und sein Behagen wird nun erst voll. Gewiegte Speisekenner verfügen sich wohl gleich selbst in die Küche, um Wünsche oder Ratschläge vorzubringen, z. B. die, die sich den Schnittlauch auf der Suppe oder die Zichorie im Kaffee zu verbitten wagen. Sie setzen sich aber dabei der Gefahr einer abweisenden Behandlung nach dem Grundsatz der Nichteinmischung und der territorialen Unverletzlichkeit eines Gebietes aus, wohin sich die Gynäkokratie als auf ihr eifersüchtig gehütetes Altenteil zurückgezogen hat.

Was und wie auch das Wirtshaus sein mag, von der in der Küche waltenden Kunst und Wissenschaft hängt ein großer Teil des Rufes des Hauses ab. Und darum seien am Schluß dieser Wanderstudie einige Erfahrungen aus dem Gebiet der deutschen Kochkunst bescheidentlich mitgeteilt. Sie bestreben sich, den schuldigen Respekt vor der in Deutschland, wie nirgends sonst, in der Küche alleinherrschenden Weiblichkeit mit dem Freimut zu verbinden, dem der deutsche Mann auch dort nicht entsagen darf, wo er von den Werken der holden Frauen spricht. Sie scheuen sich auch nicht, Dinge mit Wichtigkeit zu behandeln, die man hergebrachterweise als unwichtig hinstellt, während das Wohl und Wehe der Nationen auch von ihnen abhängt. Ist es nicht eine Torheit, der Küche wie einer unantastbaren Institution gegenüberzustehn, sich zu ärgern und zu schweigen? Ich bin überzeugt, daß ein guter Teil deutscher Grämlichkeit und Empfindlichkeit vom schlechten Essen kommt.

Es ist ein Grundzug des deutschen Dorfwirtshauses von den Alpen bis zum Belt, daß die Frau die Küche und der Mann den Keller verwaltet, während die Ordnung der Schlafzimmer den weiblichen Dienstboten obliegt. Der Mann unterhält außerdem die Gäste. Daß es anderswo ganz anders ist, haben wir schon bei der Erwähnung lothringischer Wirtshäuser erwähnt. In Frankreich und in Italien besorgt der Mann die Küche, die Frau die Gast- und Speisezimmer. Der Keller tritt dort mehr zurück. Dort taucht in stark besuchten Wirtshäusern überhaupt der Mann den ganzen Tag kaum aus seinem dunkeln Herdraume hervor, der Gast hat es nur mit weiblichen Wesen zu tun. Bekennen wir es mit dem oben gewahrten Freimut: die Küche fährt besser dabei. Der Mann erweist sich auch hier als der Träger des Fortschritts. Die beherrschende Stellung der französischen Kochkunst hat der Koch geschaffen und nicht die Köchin. Die Unselbständigkeit der deutschen Küche entspricht der Unselbständigkeit der deutschen Frau neben ihrem Mann. Alle Achtung vor dem ehrbaren Stand der Köchinnen. Aber man gibt allgemein zu, daß zu den höchsten Höhen der Kochkunst nur Köche emporgestiegen sind. Man muß auch zugeben, daß kochende Männer nicht Rückschritte zugelassen hätten, wie wir sie gerade in der Küche des Dorfwirtshauses beobachten müssen, wo sie allerdings nur ein deutlicher hervortretendes Symptom eines allgemeinern Verfalls sind. Der liebenswürdigen Flatterhaftigkeit der weiblichen Natur entspringen unzählige kleine Verstöße gegen die so einfachen Grundregeln der vernünftigen Speisebereitung. So wie man dem englischen Kunstgewerbe vielfach den überwiegenden Einfluß der Frau in Charakterzügen der Feinheit und Zartheit anmerkt, die aber oft ins Süßliche, ich möchte sagen ins Teehafte, abschweifen, so muß man in der deutschen Küche einen Mangel an Kraft, Würze, Gesalzenheit der Herrschaft des von Natur schwachen, empfindlichen weiblichen Geschmacks zuschreiben. Nur ein Mann konnte die Grundlagen der Paprikaküche Ungarns schaffen und die kräftige Olla potrida des Kastilianers auf wohlgewürzter Höhe erhalten. Unbillig wäre es allerdings, zu verschweigen, daß die deutsche Küche unter dem Druck der Volksverarmung in frühern Jahrhunderten so manches Gute verloren hat, das ihr einst eigen war, und daß die weibliche Sparsamkeit Bewundernswertes in der Anpassung an dürftige Lebensverhältnisse gerade in der Küche geleistet hat.

Bei allen landschaftlichen Unterschieden ist von einem Ende zum andern Deutschland das Land der großen Suppen. Die französische Küche spendet kunstreiche, gewürzte Suppen in so kleinen Mengen, daß sie kaum den Boden des Tellers bedecken. England brät sein Fleisch und läßt Beef-Tea nur tassenweis für schwache Magen zu. Italien hat seine kräftigen Minestras, Reis- und Gemüsesuppen, in deren dickflüssiger Masse soviel Fleischbröckchen, Fragmente von Leber, Herz und Stücke von unbestimmbaren Vögeln stecken, zum Glück unbestimmbar! denn sie könnten auch von Mäusen oder Maulwürfen stammen, daß sie eine ganze Mahlzeit in sich vereinigen. Deutschland allein ißt aus großen Suppenschüsseln dünne Suppen, in die die Kraft des gekochten Fleisches übergegangen ist, oder denen man in andrer Weise etwas Gehalt zu verleihen bemüht ist. Mit einer solchen Suppe muß das deutsche Essen anfangen. Undankbar wäre es, zu verkennen, daß in deutsche Suppen schon manche schöne »Ideen,« gebackne und andre, hineingelegt worden sind, wodurch man sie befähigte, ein Mittagsmahl nicht bloß in stofflich genußreicher, sondern auch in gemütlich ergötzlicher Weise einzuleiten. Denken wir uns einmal unter Vernachlässigung aller Unterschiede des Raumes Alldeutschland beim Essen. Welche mannigfaltigen Suppen erscheinen da! Immerhin sind landschaftliche Unterschiede wohl zu erkennen. Im Süden herrschen die Teigsuppen, schwimmende Mehlspeisen könnte man sie nennen, vom Wasgau bis zur Salzach, vom Bodensee bis zur Lahn; die hervorragendsten unter diesen Suppenbestandteilen sind die Nudeln (als Nouille sind diese kunstvoll dünn geschnittnen Bänder und Fäden aus Teig auch ins Französische übergegangen) und der geriebne Teig, auch Eiergerstl genannt, die Spätzle in Schwaben und am Oberrhein, deren Vertreter in Bayern die verschiednen Arten von Knödeln sind, die Flädle, die aus dünnen, in Schmalz gebacknen »Fladen« bandförmig geschnitten werden, die gebacknen Erbsen aus Tropfen eines dünnen Teiges, die man in heißes Fett fallen läßt. Es ist ein endloses Variieren über das Thema Mehl, Milch und Ei, ein Variieren mit Geschmack und Phantasie. In Schwaben erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. In Bayern, dem Lande des größten Fleischkonsums in Deutschland, kommt die kräftige Milzsuppe und jene herkömmlich am Samstag gegessene Suppe mit einer großen, mit flüssiger Fleischmasse gefüllten Wurst, deren Inhalt der Essende geschickt, wenn auch nicht immer appetitlich, in die Suppe streift. Diese mannigfaltigen Suppen nehmen nach Norden immer mehr ab, nördlich von Köln, Kassel, in Thüringen, Obersachsen treten Graupen, Reis, Hülsenfrüchte, Kartoffeln immer mehr an ihre Stelle, und es erscheinen dazu ganz neue Schöpfungen und Suppenzutaten: Rosinen im Nordwesten in der Pumpernickelsuppe, Kirschen, gedörrte Zwetschgen, Bier. Hier ist auch das Land der Kalteschale und der Fischsuppen, die in der Hamburger Aalsuppe eine wahrhaft phantastische Ausbildung erfahren haben. Der Kenner slawischen Volkstums wird hier manchen Spuren begegnen, die nach Osten weisen. Eine Fischsuppe und daneben ein mohnbestreutes »Striezel« sind mir immer als ganz fremde Erscheinungen auf deutschen Wirtstischen erschienen, und man begegnet jener auch nur im Osten, hier aber von Litauen bis Kroatien. Die im ganzen Südeuropa und in Frankreich und Belgien so wichtigen Gemüsesuppen, in die auch Rüben, Sellerie und Kartoffeln geschnitten werden, die Grundlage des französischen Pot-au-feu und der spanischen Olla potrida, sind in Süddeutschland nicht heimisch; in unsre Wirtsküchen sind sie nur in der sehr verdünnten Form der sogenannten Juliennesuppen eingedrungen. Die deutsche Küche hat überhaupt viel von der Kenntnis des Wertes der Suppenkräuter eingebüßt, die einst viel weiter verbreitet war. Das Sprichwort »Er ist wie Petersilie auf allen Suppen,« d. h. überall zu finden, versteht man in vielen Teilen Deutschlands schon heute nicht mehr. Der vortreffliche Lauch ist durch den besonders in Bayern grassierenden Schnittlauch übel ersetzt worden. Daß Sauerampfer und Kerbel treffliche Suppen geben, weiß man im östlichen Deutschland überhaupt nicht, und der in Frankreich beliebte Löwenzahn, den man für nichts auf jeder Wiese pflücken kann, wird bei uns verschmäht. In manchen Teilen Deutschlands ist die Gartenkunst nicht weit genug fortgeschritten, dem Gastwirtstisch die Gemüse, Salate und Würzpflanzen zu liefern, die notwendig sind, wenn die Speisen mannigfaltig und schmackhaft werden sollen. In manchem Wirtsgarten Frankreichs findet man ein Dutzend Salatarten, in ganz Oberbayern und Schwaben, im größten Teile von Mittel- und Norddeutschland nur eine, und zwar die schlechteste, grasgrüne, weichblättrige Kopfsalatart. Salate, die zu den Freuden des genußfähigen Menschen gehören, wie der römische, kommen überhaupt in dieser Zone auf keine Wirtstafel. So ist es mit den Gemüsen und dem Obst. Daher der Unsinn der Näpfe voll eingemachter Preißelbeeren im Hochsommer und der dürren Zwetschgen vom vorigen Jahr in der Zeit der Kirschen- und der Aprikosenernte. In einem Lande, wo es Boden und Sonne genug gibt, frische Gemüse, frisches Obst, frische Milch, frische Butter und frisches Fleisch in Masse zu erzeugen, muten mich die Pyramiden von Konservenbüchsen, Margarinetöpfen und geräucherten Schinken und Würsten, mit denen die Ladenfenster prahlen, als eine kolossale Verirrung an. Es ist ja ganz schön, daß Deutschland eine große Konservenindustrie für den Export hat, und auch für die Versorgung der Armee und der Marine sind Konserven nötig. Sie werden aber zum Unsinn und zur Landplage, wo sie dazu verführen, die frischen Erzeugnisse im Übermaß zu konservieren, um sie dann teurer, schlechter und ungesunder als die frischen auf den Markt zu bringen. Soviel, wie den Gästen an Genuß und Behagen, entgeht dabei den Wirten und Bauern durch die Vernachlässigung der Gartenzucht an Gewinn. Nicht vom Klima, wie man entschuldigend sagt, hängt die Armut der Gemüse- und Obstgärten in Bayern und im größten Teil von Mittel- und Norddeutschland ab; ich kenne vortrefflich gepflegte und ertragreiche Gärten in hoher Lage in Nordtirol und in den südwestdeutschen Gebirgen. Die Ursache dieses Verfalls ist allerdings zusammengesetzt, doch aus nahverwandten Eigenschaften des Volkes: der Trägheit der Arbeitenden und der Genügsamkeit der Genießenden. Das sind aber die Grundursachen aller Barbarei, die ja mit einer in andern Dingen sehr hohen Kultur zusammengehn kann. Ist es nicht barbarisch, die Gaben zu vernachlässigen, die dem Menschen verliehen sind, damit er sich sein Dasein immer mehr ausgestalte? Die Kulturfortschritte liegen in der Steigerung der Leistungen und Forderungen. Darum sind auch die kleinsten Merkmale der Ausstattung des täglichen Lebens so lehrreich.

Da ich hier gerade von Pflanzen gesprochen habe, die uns die köstliche Erfrischung der Salate liefern – der von Eichrodt besungne Schneckensalat ist spezifisch südwestdeutsch, der Ochsenmaulsalat ist wahrscheinlich auch ursprünglich nur in beschränkten fränkischen Gebieten bekannt gewesen –, so mögen auch einige Worte über Öl und Essig erlaubt sein, ohne die es keinen Salat gibt. Öl aus Nüssen und Bucheckern spielt heutzutage selbst in der Dorfküche keine Rolle mehr. Das Olivenöl herrscht unbedingt vor. Die deutsche Nase ist nun diesem welschen Produkt gar wenig gewachsen. Mit rauhem und ranzigem Öl kann man aber aus den zartesten Pflanzen keinen guten Salat bereiten. Und der Essig gehört heute der chemischen Industrie, die ihn aus Holz wasserklar und scharf wie Mineralsäure herstellt; früher galt er als ein Nebenerzeugnis der Bierbrauerei und der Weinküferei. Ihn durch Zusatz von Würzkräutern zu verbessern, versteht man fast nirgends in Deutschland mehr. Französischer Essig und französische Essigkonserven von Maille und andern werden dagegen massenhaft nach Deutschland eingeführt. Von Pfeffer verbraucht Deutschland nur die mildesten Sorten, und wenn auch seit vierzig Jahren Gulasche und andre Paprikagerichte in Deutschland in die Wirtsküche und im Süden auch in die bürgerliche Küche eingedrungen sind, so ist ihre Würzung doch nur ein blasser Schatten von der brennenden Schärfe des spanischen Pfeffers in Ungarn und Spanien. Auch die englische Küche würzt schärfer und mannigfaltiger als die deutsche. Wenn diese ihre guten alten »Tunken« und »Brühen« bewahrt hätte, so könnte sie freilich mit Verachtung auf die Batterien von Saucen in Gläsern hinabsehen, die den englischen Wirtstisch zieren. Aber irgendein ärmlich verneinender Geist hat die Erfindung gemacht, daß man jeder Bratenbrühe mehr »Konsistenz« verleihen kann, indem man sie mit billiger Kartoffelstärke zu einem ekelhaften braunen Kleister verrührt. Und damit verderben nun unsre Wirte ihre besten Braten, indem sie eine einzige Generalsauce über jegliche Art von Fleisch gießen.

Die Zeiten sind vorbei, wo sich die Dienstboten am Rhein ausbedangen, nicht jeden Tag Lachs essen zu müssen, und wo Wildbret in den waldreichen Gegenden Mitteldeutschlands billiger war als Rindfleisch. Deutschland ist indessen noch immer ein wildreiches Land. Seinen Fischreichtum hat die Industrie schwer geschädigt, aber die Fischzucht hat auch wieder manches Gewässer fruchtbarer gemacht, und die Hochseefischerei liefert ihre Erzeugnisse tief ins Binnenland, wo sonst Seefisch eine unbekannte Größe war. Auf den Tischen der höchstgelegnen Alpengasthäuser wechseln Nordseefische mit Frutti di mare des Mittelmeers ab. Aber die zunehmende Bevölkerung hat die Fleischpreise überall in die Höhe getrieben. Seit etwa zehn Jahren sind sogar im Osten und im Südosten Deutschlands, wo Breslau und München die billigsten deutschen Großstädte waren, die Klagen über die hohen Fleischpreise immer lauter geworden. Auf dem Dorfe ist Fleisch immer eine Feiertagsspeise geblieben, aber der Bedarf der Städte nimmt das gute Fleisch dem Lande und läßt ihm das schlechte. Fleisch ist darum die schwächste Seite der Küche des Dorfwirtshauses, und im Sommer tritt in den überfüllten Sommerfrischen und Seebädern gelegentlich einmal ein Fleischmangel ein, dem durch schleunigen Bezug aus der nächsten Großstadt vorgebeugt werden muß.

Wo man am Fleische sparen muß, sucht man es doppelt auszunutzen; man kocht es, um seine Brühe zu haben, und ißt dann das gekochte Fleisch oder brät es noch einmal. »Suppe und Fleisch« ist das Losungswort der bürgerlichen Küche in ganz Deutschland. Für den Tisch bedeutet das soviel wie Suppe und Suppenfleisch. Früher war der Unterschied des Wertes der Fleischstücke vom Rind so gering, daß auch die besten Stücke gekocht wurden, und da stand das gesottne »Tellerfleisch,« das der Bayer vom Holzteller ißt, keinem Braten nach, und das »Rindfleisch mit Beilage« war am Gasthaustisch der Kern des Mittagmahls. Das hat sich in den meisten Gegenden stark geändert, und auf dem Lande essen auch die wohlhabenden Bauern ein zähes Kuh- oder Stierfleisch, das dem Städter ungenießbar vorkommt. Deswegen nimmt auch die Zubereitung des Fleisches in solchen Formen überhand, wo die schlechte Beschaffenheit des Stückes verdeckt wird: das Kochen des in Stücke geschnittnen Fleisches mit Kartoffeln, das gehackte Fleisch als Kuchen, Klops usw., vor allem aber die zu Zusätzen aller Art einladende Wurst. »Gebacknes« war einst nur der österreichischen Küche eigen, und die Backhähndl bleiben charakteristisch für Wien und alles Land östlich von Wien, während sich die Schnitzel als die bequemste Zubereitung des schlechtesten, zu hautartiger Dünne ausgezognen Kalbfleisches weit verbreitet haben.

Wo ist die alte Kunst des Bratens hinverschwunden, die wir auch darum als eine edle bezeichnen müssen, weil sie dem einfachsten, natürlichen Vorgang noch so nahe stand? Der Jäger, der ein Stück Wild erlegte, schnitt ein Stück Fleisch ab und briet es an einem Stab, den er schräg in die Erde steckte, sodaß das Fleisch gerade vom Feuer bestrichen wurde. Er drehte ihn einigemal herum, und der Braten war fertig mit dem naturmäßigsten, besten Geschmack, dem des frisch gerösteten Fleisches, um das ausgetretnes Blut und Fett eine schöne, wohlduftende Rinde bilden. Das Braten am Spieß ist eine leichte Abänderung dieses Verfahrens. In England und in Frankreich hört man das Geräusch des durch ein Uhrwerk gedrehten Bratspießes aus der Wirtsküche, Deutschland ist fast überall vom Spieß abgegangen. Für die meisten sind die großen Bratspieße in den alten Schlössern fossile Merkwürdigkeiten, und erst das Zeitalter der Butzenscheiben und Truhen hat auch den Spieß da und dort wieder in die Küche zurückgeführt. Das Braten zwischen zwei beweglichen eisernen Rosten, in England vor den Augen des Gastes im Grill-Room geübt, in Frankreich und in Italien noch weit verbreitet, ist bei uns ebenfalls außer Gebrauch gekommen. Es ist wahr, daß beide Methoden nicht so einfach sind wie das deutsche Braten in der Bratröhre des Herdes; aber ein Huhn vom Spieß oder ein Beefsteak vom Rost ist auch etwas andres als ein Braten in der Pfanne, der immer in der trocknen heißen Ofenluft von seinem natürlichen Saft und Duft verliert. Gar nicht zu reden von jener zur Verhüllung der schlechten Qualität des Fleisches erfundnen Verballhornung des Lendenstücks, des »deutschen« Beefsteaks, des zerhackten, mit Zwiebeln dicht bestreuten und infizierten, das mit dem echten Beefsteak nichts als den Namen gemein hat, oder des Rostbratens, der ungleich dem italienischen arrosto nie einen Rost gesehen hat, oder des bayrischen Kalbsbratens, der zuerst gekocht und dann leicht angebraten wird! Diese und viele andre würde der Biolog »Kümmerformen« des echten Bratens nennen, mit dem sie nur den Schein einer Berührung mit dem Feuer gemein haben. Das einzige Beefsteak hat die natürliche Eigenschaft des Bratens bewahrt, die Kraft und den Wohlgeschmack der Fleischfaser und des Blutes gleichsam in verdichteter Form zu bieten. Zum Teil sind diese Entartungen aus Sparsamkeit geboren, zum größern Teil aber aus Dummheit und Bequemlichkeit, die sich in der deutschen Küche mit einer merkwürdigen Unbeständigkeit verbündet haben. Gerade die Geschichte des Bratens zeigt, wie fest die Engländer an einmal bewährten Gebräuchen halten, und auch die Franzosen sind in der Küche viel konservativer als die Deutschen. So wie bei uns das Gewerbe und besonders das vielgelobte Kunstgewerbe auf die Massenerzeugung billiger Scheinwaren, die im Kern nur Schund sind, mit einem gewissen Radikalismus ausgeht, so ist in der deutschen Wirtsküche die rasche und billige Massendarstellung der Speisen im Fortschreiten, wobei sich eine kurzsichtige Weisheit in Surrogat und schön sein sollenden Spielereien gefällt. Was nützt mir die Muschelschale, in die man ein gemeines Hackfleisch füllt? Oder die alten Krebsschalen, in die man gekochte Semmelkrumen hineinstopft? Ich kann mich dabei nie enthalten, an die Petroleumlampe mit schlechtem Brenner und verschnörkelten »Renaissance«-Füßen zu denken. Die liebevolle Vertiefung in die Geheimnisse der Kochkunst schwindet immer mehr. Ich sehe die Zeit kommen, wo man im deutschen Wirtshaus dem nach einem Mittagessen verlangenden Gast eine Erbswurstsuppe und eine Fleischkonservenbüchse in heißem Wasser hinstellt, die er sich öffnet und aus dem Blech heraus leer ißt. Der Wirt als Händler, vielleicht auch als Spekulant in Konserven und sonstigen »Dauerwaren«: das ist das Ziel, dem unsre Küche zustrebt, oder vielmehr der Strudel, in den sie hineingerissen wird. Zum Glück scheint man die Gefahr zu erkennen und sucht durch Kochschulen der kulinarischen Verrohung und Verflachung entgegenzuwirken, die in der kleinbürgerlichen und Arbeiterküche noch viel bedenklichere, unmittelbar das Familienleben bedrohende Wirkungen hat als in der Wirtsküche.

Genug nun von der Küche! Es gibt Dinge, von denen man einmal muß abbrechen können. Mit Recht gilt es als ein Zeichen schlechter Erziehung, viel vom Essen zu reden. Wir konnten aber an der Küche bei unsrer Wanderung durch das ländliche Wirtshaus nicht vorübergehn, und wollten es nicht, denn sie ist der Beachtung wohl wert. Vielleicht hat unsre Plauderei, die nur Einzelnes berühren konnte, schon gezeigt, daß sich auch in der Küche der Charakter und die Geschichte eines Volkes spiegeln. Die Wissenschaft sollte das wohl in Betracht ziehen. Ich hoffe auch dafür viel von der aufblühenden Volkskunde. Zwar ist noch in dem neuen Werke »Deutsche Volkskunde« von Elard Hugo Meyer (Straßburg, 1897), das in vielen Beziehungen vortrefflich ist, die Küche und die Volksernährung so kärglich behandelt, daß man von einer auffallenden Lücke sprechen kann. Die Bedeutung der Speisen und Getränke, ihrer Bereitung und ihres Genusses hat der Verfasser dieses Buches offenbar zu gering geschätzt. Sind sie aber nicht mindestens ebenso wichtig wie Dorfanlage, Hausbau, Arbeiten, Feste, Sprüche und Sagen? Ist es vielleicht weniger der Forschung würdig, der Verwandtschaft des schlesischen Hefenkloßes, dieser von Dichtern gepriesenen Nationalspeise, mit der schwäbisch-fränkischen Dampfnudel nachzugehn, als den Beziehungen des schlesischen und des fränkischen Bauernhauses? Auch die Verbreitung der Kochkunst und ihrer Werke zeigt große Züge, die den Zusammenhang des Alltäglichen mit mächtigen Bewegungen der Geschichte zeigen.

Es gibt zu denken, daß im allgemeinen in Deutschland von Westen nach Osten die Kochkunst abnimmt. In Süddeutschland ist Bayern, trotz manchem Guten, tief unter Schwaben, in Mitteldeutschland ist Sachsen ein ausgesprochnes Minimalgebiet, in Norddeutschland bietet Westfalen viel mehr eigentümliche gute Dinge als alles Land östlich davon. Spiegelt sich nicht auch darin der Gang der deutschen Kultur aus ihren alten rheinischen Sitzen nach Osten wider, und die Veränderung und Verarmung als die Folge der Anpflanzung auf neuem kolonialen Boden, dessen eignes Wachstum niedergetreten war? Rätselhaft bleibt allerdings der Tiefstand der Kochkunst in ganz Mitteldeutschland von der belgischen bis zur polnischen Grenze, und ebenso schwer ist die Dürftigkeit der deutsch-schweizerischen Küche außerhalb des Bannkreises der Fremdengasthäuser zu erklären. Österreich ist ein Gebiet für sich, dessen Küche unter dem Einflusse Italiens und Ungarns in manchen Beziehungen noch die Südwestdeutschlands übertrifft, und zwar sind in Österreich Böhmen und Schlesien noch trefflich ausgestattet, wo wir auf der deutschen Seite schon einer traurigen Verarmung gegenüberstehn.


 << zurück weiter >>