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Die Schwüle vor dem weltgeschichtlichen Gewitter des Sommers 1870 ist keine Stilblüte der Geschichtschreiber; sie lag wirklich in der Luft und drückte auf die Gemüter, die allmählich des Hangens und Bangens der deutschen Einheitsbestrebungen, die nicht zum Ziele kamen, der französischen Drohungen, denen keine Taten folgten, und des österreichischen Rachegefühls, das dumpf brütete, müde wurden. Heil dem Krieg, der kommen muß, und der alles in die rechte Ordnung rüttelt! rief es in jungen Gemütern, die sich des Krieges von 1866 erinnerten, wie er als ein die Luft reinigendes Gewitter schrecklich hereingebrochen und heilsam vorübergezogen war, heilsam auch für den Feind, der unterlegen war.
In Deutschland war für die genannte Schwüle noch ein besondrer Grund, den wir damals höchstens geahnt, aber erst nach Jahren erkannt haben. Die Jahre 1864 und 1866 und was folgte hatten uns das Gefühl gegeben, auf dem Schlachtfelde die ersten zu sein, aber auf andern Feldern wußten wir uns noch nicht in demselben Maße anerkannt, wiewohl wir zu wissen glaubten, daß auch auf ihnen die Überlegenheit der Nachbarvölker nicht mehr so groß sei, wie sie einst gewesen war. Besonders der Alp Frankeich drückte bei weitem nicht mehr so auf Deutschland wie bisher, es traten dort immer mehr Symptome innerer Zersetzung zutage, und die Regierung, deren dunkle Pläne so viele Jahre drohend an unserm Horizont gestanden hatten, war seit 1866 immer schwächer geworden. In demselben Maße, wie dieser Druck wich, wuchs bei uns ein Kraftgefühl, das keine der Generationen seit 1813 gekannt hatte. Rußland war mit innern Reformen und asiatischen Plänen beschäftigt, Österreich niedergeworfen, jenseits der Alpen wuchs dem lange vereinzelten Deutschland ein neuer Freund heran. Es konnte nicht anders sein, als daß bei uns mehr Kraft und Selbstvertrauen da waren, als unter den gespannten Verhältnissen Verwendung finden konnten, es war wie der Überschuß negativer Elektrizität, der das Gewitter herbeizieht: die Krisis lag in der Luft, man wußte nur noch nicht, wann die Ausgleichung eintreten würde; das Wo? dagegen war nicht mehr zweifelhaft, es konnte nur der Rhein sein, dessen schöne Gelände der Blitz zerreißen und das Kriegsungewitter mit Blei übersäen und mit Blut tränken würde. So wie es im Leben der Natur Zeiten gibt, wo Töne durch die Luft ziehn, man weiß nicht woher, so erklangen die Rheinlieder der Befreiungskriege plötzlich an allen Orten, als hätten sie sich selbst angestimmt, und hallten in jeder Brust nach, als hätten die rechten Saiten nur gewartet.
Der Schwüle draußen auf dem Markt des Lebens entsprach die dumpfe Stimmung unter manchem Dache. Seit den Erfolgen Preußens im Jahre 1866 waren bei uns viele Leute konsterniert, d. h. sie blieben einfach stehn, ließen die Ereignisse an sich vorüberfließen und sahen ihnen mit dem Gefühl nach, daß es ebenso unmöglich sei, gegen diesen Strom zu schwimmen, als gefährlich, sich ihm anzuvertrauen. Das Gerüst ihrer politischen Ansicht war erschüttert, aber sie wagten es noch nicht abzubrechen. Da jede lang hinausgezogne Unfertigkeit unzufrieden macht, grollte ein unbestimmtes Unbehagen in vielen. Neben den Konsternierten standen die, die in den Strom neuer Meinungen hineinzusteigen wagten und sogar fröhlich mit ihm schwammen. Sie drückte nichts, höchstens empfanden sie Ungeduld, daß sich Deutschland nicht rascher und gründlicher auf den Einheitsstaat zu entwickelte. Noch viel größer als gewöhnlich war die Zahl der Unentschiednen und Gleichgültigen; ihre Zahl war größer, weil der seit so vielen Jahren dauernde Gärungsprozeß eine Masse von Unschlüssigkeit aufgehäuft hatte, und ihre Unentschiedenheit war in demselben Maße gewachsen, als die Politischen Verhältnisse verwickelter, die Bestrebungen in Deutschland und draußen widerspruchsvoller geworden waren. Sie warteten einfach, bis eine unbekannte starke Hand eingreifen, das Rechte bewirken werde.
Im Hause meiner Eltern hatte, wie in so vielen deutschen Beamtenfamilien, die Politik in der freudigen Gutheißung aller Akte der Regierung bestanden, die aus einem fast kindlichen Vertrauen zu der Weisheit und zu dem guten Willen des Fürsten hervorging. Nach Karfreitag und Weihnacht stand dessen Geburtstag unbedingt in der ersten Reihe der Feiertage. Man ging zur Kirche und betete von Herzen für das Wohl des Landesvaters, dann aß man Kalbsbraten mit Kopfsalat. Seit 1860 warfen die deutschen Reformbestrebungen ein neues Thema auf. Der Vater war großdeutsch in Erinnerung an das reiche und lustige Wien, und zum Teil wohl auch, weil er sein kleines Vermögen in österreichischen Papieren angelegt hatte; er überschätzte, wie fast alle Süddeutschen, die guten Seiten des österreichischen Charakters, den er als eine etwas weichere, noch gutmütigere und harmlosere Varietät des süddeutschen auffaßte. Daß ein solcher Charakter nichts für die Politik ist, übersah man. Man war viel eher geneigt, die dazwischenliegenden Bayern als wesentlich verschieden von uns Schwaben und Franken zu betrachten. »Wir und die Österreicher trinken Wein, wir verstehn uns, die Bayern trinken Bier, sind plump und träg,« urteilte man leichtherzig. München war noch nicht die geistige und künstlerische Hauptstadt Süddeutschlands, man reiste vom Oberrhein fast leichter und jedenfalls lieber nach Paris als nach München. Die Urteile über die Bayern bezog man aber aus der Pfalz, und besonders in der uns nächstgelegnen Vorderpfalz war damals die Abneigung gegen die Altbayern noch sehr groß.
Wenn ich zurückschaue, erscheint mir das Volk Süddeutschlands in jenen Tagen wie ein zwischen Schlaf und Wachen ringendes. Weil es gesund war, mußte es erwachen. Wie eine lebenskräftige Idee Leben schafft, das zeigte in jenen Jahren die gewaltige Wirkung des vaterländischen Gedankens im deutschen Volk. Es ging ein allgemeines Wecken dessen, was in Schlummer versunken war, hindurch. Das war der wahre Sinn der Barbarossasage, die zu dieser Zeit gerade deshalb so volkstümlich wurde, weil man in der eignen Brust das Erwachen vaterländischer Wünsche und Hoffnungen erlebte. Wie wirr auch in dem großen Kessel Deutschland, das damals noch Großdeutschland war, die Stämme und die Parteien durcheinander brodelten, es stieg ein einziger Rauch aus ihm zum Himmel, immer wärmer und immer dichter.
Ich, der ich zu den Füßen Häussers, Baumgartens und Treitschkes gesessen habe, darf wohl Zeugnis für das ablegen, was die Hochschulen für diese Bewegung gewesen sind. Gerade ihnen danken wir es, daß es in der Hauptsache eine geistige Bewegung blieb. Diese Männer und ihresgleichen haben das Fiasko des deutschen Parlaments von 1848/49 aufgewogen, indem sie denselben idealen Faden zu bessern Zeiten hin spannen. Hohes, warmblütiges Verzichten auf den gemeinen ausbeutenden Genuß des Lebens rühmte einmal Häusser als den Geist der deutschen Jugend der Befreiungskriege; und die sittliche Ordnung ist nie fertig, wir alle sollen Arbeiter daran sein, lernten wir von Baumgarten. Gleich ihnen war auch Treitschke vor allem eine offne männliche Natur und hatte am wenigsten Professorenhaftes. Aus seinen Reden ist mir die Verklärung des von Schwachherzigen gescholtnen Krieges eingeprägt geblieben: Trotz aller kleinen Leiden, es ist etwas Großes um den Krieg; man muß es nur nicht verlieren können. »Er hat die bessere Hälfte des Lebenskelches getrunken, die Hefe ist ihm erspart geblieben,« sagte er von Theodor Körner. Und wohl keiner ging damals aus dem Kolleg ohne Wunsch oder Gelöbnis. Wenn im Juli 1870 die Kriegsdrohungen der Franzosen niemand erschreckten, sondern nur noch Öl in die Flammen der Begeisterung gossen, so haben wir viel davon diesen männlichen Historikern zu danken, die zwar zugaben, daß der Krieg ein grausamer Töter von Männern, aber doch lehrten, daß er zugleich ein Schöpfer neuer Männer aus Knaben und Weichlingen sei.
Wie konnten wir jemals glauben, unsre Wege so allein zu gehn? Wir wähnten nur, allein zu sein, in Wirklichkeit ist jeder von uns nur ein Baum im Walde seines Volkes; so war es, und so wird und muß es sein. Wir leben mit ihm, wir sterben mit ihm, wir ernten die Früchte seiner Siege mit und büßen seine Schuld mit, wenn Übermut oder Leichtsinn es zu Falle bringt. Heute fühlte ich, wie ein Rausch über uns hinwegging, und wir alle, Menschen dieses Volkes, die sich einzig und einsam hielten, rauschten mit, so wie der Nachbar seine Blätter regte.
Der Sommer von 1870 war einer der trockensten des Jahrhunderts gewesen. Von Ende Mai bis zu dem mächtigen Gewitter des 28. Julis, unter dessen Schlägen die Vortruppen der deutschen Heersäulen den Rhein passierten, waren keine starken Regen gefallen. In manchen Gegenden waren die vertrockneten Wiesen kaum des Mähens wert, der Weizen stand dünn, der in dem Gebirge des östlichen Frankreichs da und dort gebaute Roggen stand kaum fußhoch, die Kartoffeln fingen erst nach den Gewittern im August an, sich zu entwickeln. Aber allgemein erwartete man einen trefflichen Wein, und da der Mai ohne schädlichen Frost verlaufen war, hingen die Obstbäume voll Früchte. Das war auch in Frankreich so, wo die Massen von Trauben und Obst aller Art das Leben auf den langen Herbstmärschen erträglicher gemacht haben. Im August folgte ein schöner Tag dem andern. Als am 17. Juli, es war ein Sonntag, die Sonne an einem fast wolkenlosen Abendhimmel hinabsank, stand ich mit einem Freunde, der eben als Einjährigfreiwilliger diente, auf einem der Wiesenhügel über dem Höllental, zurückkehrend vom Feldberg, wo wir die Sonne hatten aufgehn sehen. Hinausblickend über den Rhein weg und tief in die Vogesen hinein, die in einem freundlichen Veilchenblau den Westhimmel einsäumten, stiegen wir zu dem einsamen Sternenwirtshaus hinab, um unsre müden Glieder zur Ruhe zu betten. Wir hatten einen stillen Abend vor uns. Der Urlaub meines Wandergenossen reichte bis zum nächsten Mittag, und mich selbst rief keine Pflicht in die Stadt zurück.
Im Gasthaus keine harmlos freundlichen Gesichter wie sonst, sondern gespannte, erschrockne. Was ist hier geschehn? Die nächste Sekunde brachte die Aufklärung: Kriegsgerüchte! Drohreden in den französischen Kammern, mutvolle, begeisterte Artikel in den deutschen Zeitungen. Und das alles seit den zwei Tagen, die wir im Gottesfrieden der Schwarzwaldbergheiden ahnungslos verlebt hatten. Der Wirt berichtete, wie die Gäste, die sich zu längerm Verweilen eingerichtet hatten, beim Eintreffen der letzten Zeitungen sein Haus verlassen hätten. »Wer weiß, wann die Rothosen vom Elsaß her einbrechen? Sie sind jedesmal in den alten Kriegszeiten bald über den Rhein gewesen.« Ein Blick in die Zeitung lehrte uns zwar, daß so nahe der Krieg nicht war, aber wir sahen freilich die Wolken hoch aufgetürmt am Himmel stehn, und wer sieht voraus, wann der erste Blitz hervorzuckt? Unser Entschluß war gegeben: Rasch eine Stärkung, und dann den Weg zur Garnison unter die Füße genommen. »Es wird eine gute Vorbedeutung sein, meinte mein Kamerad, der erste Nachtmarsch dieses Feldzugs.« So schritten wir denn in die sinkende Nacht, aus der sich endlos das weiße Band der Straße herausrollte, erst an erleuchteten Häusern vorbei, hinter deren Fenstern vielleicht schon Sorgen um Söhne oder Gatten heranwuchsen, dann an schlafenden, die die Sicherheit gaben, daß auch in drohenden Zeiten sein bester Freund den Menschen nicht verläßt. Unsre Reden verstummten bald, wir wanderten uhrenhaft regelmäßig fürbaß. Schon zitterte der Schatten des hohen Münsterturms in der Morgenluft, als wir den ersten Halt vor einem Brückenwirtshaus machten, wo in langer Reihe alle die ungefügen, schweren Holzfuhrwerke hielten, die die Nacht durch gefahren waren. Bei einem Glas Kirschwasser fiel meinem Genossen das einst oft gesungne Herweghsche:
Wie weht so scharf der Morgenwind!
Frau Wirtin, noch ein Glas geschwind vorm Sterben!
ein, und hell sang er es in die Morgenluft hinaus. Es ist doch schön, das Sterben, das keinem erspart bleibt, in dieser Form so nahe gerückt zu sehen!
Vor der Kaserne, die an dem Ende der Stadt liegt, das unserm Wege das nächste ist, trennten wir uns. Ich warf einen Blick auf das rege Treiben in dem weiten Hofe, wo eben Ausrüstungsgegenstände gemustert und abgezählt wurden. An einer Seite wurden aus einer langen Reihe von Mänteln, die auf gespannten Seilen hingen, Staub und Motten herausgeklopft. Die Energie, mit der darauf losgeschlagen wurde, gefiel mir ausnehmend, sie begeisterte mich geradezu. Klopft nur zu, laßt die alten fuchsigen Mäntel frisch und munter werden! Der Sturm wird vieles und viele wegfegen auch bei uns. Die welken Blätter und die angestochnen Früchte der deutschen Eiche wird er in alle Winde wehen; der Baum wird bis ins innerste Mark erbeben vor der Wucht dieses Stoßes. Es wird eine Prüfung für uns so gut wie für die da drüben.
In der Stadt war heute das Gegenteil von der verschlafnen Stimmung, die sonst auf Montagvormittagen liegt. Überall bewegte sichs in rascherm Tempo. Und da nach deutscher Sitte die Begeisterung nicht trocken bleiben konnte, streckten sich aus den Wirtshäusern Arme mit Bierkrügen und Weingläsern und tränkten Unbekannte, von denen sie Gemeinsamkeit der Begeisterung und des Durstes verlangten. Rufe, Gesänge überall. Dazwischen der geschäftige Gang oder der Galopp von Ordonnanzen oder Offizieren. Kaum hatte ich mich aus einem an einem Wirtshausfenster hängenden Knäuel losgemacht, der sich gebärdete, als habe er schon Siege zu feiern, als ich von rückwärts gefaßt und durch zwei vorgehaltne Hände blind gemacht wurde; die wohlbekannte Stimme Rollers rezitierte:
Daß ein erfrischendes Windesweben
Kräuselnd errege das stockende Leben.
Der Wille von gestern ist welk, fuhr er fort, das Licht von heute treibt neue Blätter zutage, laß sie im Windesweben dieser Zeit wachsen. Als er meine Augen frei ließ, sah ich in die seinen, sie schwammen etwas; der alte Student hatte »der Zeit« offenbar schon ein gutes Maß von Öl zugegossen.
Hier ist ja nichts als Bier und Gesang, sagte ich, laß uns aus den Gassen hinaus ins Freie. Mich bedrückt dieser Lärm. Was will er sagen? Die Leute betäuben sich.
Sei nicht kritisch in solchen Tagen. Sie wissen es nicht besser. Es ist eine ganze Anzahl dabei von solchen, die sicher morgen ins Feld ziehn. Ich habe auch mitgekneipt, und morgen denke ich mich in R. zu stellen.
Das ist gut, ich habe vor, dasselbe zu tun. Du wirst gewiß zur Kavallerie gehn wollen, um deine Kunst als Säbelschläger zu verwerten?
Getroffen. Und du wirst ebenso sicher in das xte Regiment eintreten, wo deine Freunde dienen? Also Infanterist?
Ebenfalls getroffen. Übrigens gehe ich natürlich dahin, wohin man mich stellt. Denn weißt du, was außerdem, daß wir unsre verdammte Pflicht und Schuldigkeit tun, indem wir die Waffe in die Hand nehmen, mich ins Heer treibt? Ich muß! Das ist eine Wohltat. Weißt du noch, wie wir sonst ein Tuch in die Luft warfen, um die Richtung zu erfahren, in der wir gehn sollten? Das hört nun auf. Vorhin ging ich hinter einem Zug Soldaten, die kamen etwas auseinander, da die Hintermänner langsamer ausschritten, als die Vordern vorangingen. Da kam das Kommando Aufgeschlossen! und im Nu war es wieder ein kompakter Haufe. Da dachte ich, wie oft wir auseinander liefen, der vorauseilend, der zögernd, und eine kräftige Kommandostimme erscholl in meinem Innern: »Aufgeschlossen! Nicht zaudern und zögern!« Und daran will ich nun festhalten.
Die Menschen hielten es nicht in ihren Häusern, nicht einmal in den geliebten Wirtshäusern aus, alles drängte ins Freie, jeder wollte hören und reden, die kleine Stadt selbst schien für die große Bewegung der Herzen zu eng. Was ist in die Menschen hineingefahren? Sie reden miteinander, als ob sie sich kennten, und wenn man von dem Fremdesten weggeht, ist es einem, als habe man einen alten Bekannten gesprochen. Neues erfuhr man zwar nicht. Es war der Tag vor der Unterredung König Wilhelms in Ems. Der Blitz der Emser Depesche hatte noch nicht den Westhimmel erhellt. Aber es hatten die wenigen Tage schon eine Klärung insoweit hervorgebracht, als die Verblüfften und Ängstlichen zu einer Minderheit zusammengeschmolzen waren, und eine ruhige Entschlossenheit ohne Überhebung gewann immer mehr Raum. Schon war jeder Zweifel geschwunden, daß die Süddeutschen an der Seite der Norddeutschen fechten würden.
In unsern Universitätskreis hatte der Sturm gehörig hineingeweht. Fast die Hälfte war schon zu ihren Regimentern abgegangen, andre waren in dem Fall wie ich: bereit, als Kriegsfreiwillige in Reih und Glied zu treten, nur noch so lange in der Universitätsstadt verweilend, als zur Abwicklung nötig war. Das Semester nahte sich ohnehin seinem Ende zu. Die jüngern Professoren begrüßten das Auseinanderstieben ihrer Hörer freudig, die ältern waren etwas verdutzt. Ich kam zu dem alten Historiker der Philosophie, mich zu verabschieden. Es ist auch Tapferkeit, in solchen Zeiten seine stille Pflicht zu tun und tausend Stimmen, die uns ins Gewühl des Lebens rufen, nicht zu folgen; also sprach der alte Professor, bei dem ich noch verspätet ein Kolleg über Plato gehört hatte. Es klang zwar sonderbar in dem allgemeinen Sturm und Drang nach einer andern, neuen Art der Pflichterfüllung; aber doch hatte er Recht aus seiner Anschauung heraus. Er, der alte Held des Wortes, der kein andres Schlachtfeld als den Hörsaal und zur Not noch das »Literarische Zentralblatt« kannte, hatte Recht, und es gehörte eine Art von Mut dazu, etwas zu sagen, was damals wie ein Mißton klang. Aber er hatte doch nur Recht für sich und seinesgleichen, die von der Natur zum Kampf mit dem Wort und der Feder bestimmt waren. Leider haben sich viele die »stille Pflicht« zum Vorwand genommen, ihrer Feigheit und Bequemlichkeit nachzuleben. Was für einen Bodensatz von gleichaltriger Erbärmlichkeit ließen jene Hunderttausende Jünglinge zurück, als sie im Sommer 1870 über den Rhein gingen. Er blieb zuerst ruhig am Boden, dann aber, als die frühen großen Erfolge die Lage sicher gemacht hatten, fing es an zu gären und zu wühlen, und als die jungen Helden zurückkehrten, fanden sie in diesen Heuchlern der »stillen Pflicht« ihre Neider und Verkleinerer, und manch einer, der sein Bestes fürs Vaterland getan und gewagt hatte, sah sich zur Seite geschoben von einem Wettbewerber, der die Kriegszeit wohl angewandt hatte, sich in aller Stille den Boden zu bereiten, der eigentlich den andern gehörte.
Andres als bei dem Philosophen vernahm ich bei dem alten Philologen, der mich seinerzeit im Doktorexamen freundlich vor dem Auflaufen auf Sandbänken der Unwissenheit behütet hatte. In diesem schien etwas von altrömischem Staatsgefühl zu sein; in Wirklichkeit war es sein Preußentum, das ihn veranlaßte, meinen Entschluß mit leuchtender Freude willkommen zu heißen. Eine Welle, die emporträgt, wie der Krieg, gibt es in unserm Leben nicht, sagte er. Sie sind glücklich, daß Sie sich ihr anvertrauen können. Sie kann auch in den Abgrund ziehn; jedoch es können und sollen ja nicht alle Bäume stehn bleiben, der Boden und der kleine Nachwuchs wollen auch Sonne haben. Ich freue mich ganz besonders, daß sich die jüngsten aus unsrer Mitte tatbereit zeigen, die sogenannten unreifen Elemente, die noch nicht die Erfahrung haben, die zur völligen Stumpfheit erfordert wird. Wir Alten allein sind zu bedauern, die im sichern Nest daheim bleiben. Was einmal dagewesen ist, kehrt nie wieder. Die Welt ist ein Strom, der ewig abwärts fließt. Machen wir uns bereit, abzutreten, wenn unsre Zeit um ist, und hegen wir nicht den vergeblichen Wunsch, wiederzukommen. In solcher Erkenntnis dürfen wir auch nicht wünschen, daß die Jugend ebenso sei wie wir.
Spät am Abend trat mein Kamerad, mit dem ich am Tage vorher vom Feldberg herabgestiegen war, in mein Zimmer.
Laß uns ein paar Schritte ins Freie tun. Ich bin ganz betäubt von Reden und Hören, und müd vom Zusammennehmen aller Kräfte und Sinne. Aber das Schlimmste liegt hinter uns. Wir sind marschfertig, morgen früh um fünf stehn wir am Bahnhof, um acht Uhr beziehn wir das neue Quartier in den Kasematten von R.
Wir stiegen die Landstraße hinan, die gleich neben der Stadt in einen Kastanienwald führt, verließen sie in halber Höhe und traten in ein tiefbeschattetes Rund, dessen Mitte ein alter steinerner Tisch einnahm. Manchen Abend hatten wir an dieser Stelle gesessen, wohin nur noch in vereinzelten Tönen die Lebenslaute der Stadt drangen, die viel ferner zu sein schien, als sie in Wirklichkeit war. Hier war vielerlei besprochen, manches Gespräch auch bis zu seinem letzten Ende geführt, mancher Entschluß gefaßt worden. Pläne zu wissenschaftlichen Arbeiten waren hier ersonnen, Bücher hier ausgedacht worden. Wie weit lag das alles nun hinter uns! Kein Ton aus dieser Zeit drang herüber, die letzten vierundzwanzig Stunden hatten alles verwandelt.
Wir saßen schweigend einander gegenüber, der eine fühlte in und mit dem andern, Worte, die aussprechen wollten, was wir empfanden, gab es nicht, sie wären doch profan gewesen. Ich fühlte wieder, was mir in höchsten Momenten unsers gemeinsamen Lebens bewußt geworden war: die alle kleinen Unterschiede auslöschende Seeleneinheit standhafter Freundschaft. Ich hätte nichts angeben können, was ich für mich dachte oder wünschte. Die Überzeugung, daß er wolle, was ich wollte, und ich, was er, ließ überhaupt keinen Sondergedanken aufkommen.
Als wir uns erhoben, war die Straße blau vom Mondlicht, die Bäume wiegten sich schwarz über dem blauweißlichen Band, die Gebüsche schlossen es fest auf beiden Seiten ein. Die Stimmung war fremdartig und behaglich.
Gut, daß es solche Stellen in der Welt gibt, diese hier wird mir vielleicht manchmal wohltun, wenn ich draußen ihrer gedenke.
Ich blieb stehn, wo Lichter heraufschauten, und der dunkle Streifen eines Turmes in der Luft erzitterte. Auch ich will dieses Bild mit hinaustragen. Die überrheinische Natur wird vielleicht noch Schöneres bieten, aber wieviele Erinnerungen umranken dieses. Laß michs noch einen Augenblick betrachten.
Du gehst also mit?
Natürlich, gleich morgen früh fahre ich nach T. und melde mich.
Das ist gut. Eigentlich ist es selbstverständlich, daß du mitgehst. Mache nur, daß wir mindestens in dasselbe Bataillon kommen.
Ich fürchte, ich komme zu spät hinaus. Denke dir, was es heißt, die Elemente des Soldatentums von unten an zu lernen.
In der Stadt waren die patriotischen Töne verklungen, in den Gärten war es dunkel, die Musikanten waren nach Hause gegangen, und die Sänger hatten, wenn sie es nicht ebenso gemacht hatten, ihre Töne auf Gesprächshöhe herabgestimmt. Nur die langen Lokomotivpfiffe von der Eisenbahnseite mochten mit den großen Dingen zusammenhängen, die heute nicht schlafen gingen.
Es wird jetzt still wie alle Tage, sagte mein Freund, und doch ist es so ganz anders als alle Tage. Wir gehn zur Ruhe und schlafen vielleicht auch ein, aber die Dinge außer uns sind in Bewegung, und wer kann sagen, wann diese Bewegung endet?
Abstrakt gesprochen: gar nicht, wenn nicht etwa beide Völker, die die Sache zunächst angeht, sterben, was nicht zu erwarten ist. Was gestern und ehegestern begann, hat ein Morgen, das niemand erschauen kann. Es wird in ganz kurzer Zeit eine Lawine von Ereignissen sein, in der eine Bewegung die andre hervorruft, und noch in Jahrhunderten wird es nachdonnern.
Je stiller es mit sinkender Nacht geworden ist, desto bestimmter vernehme ich in mir selbst Akkorde. Als ob sich zu gewaltigen Tonmassen kleine und vereinzelte Laute vereinigten, die früher um uns verschwebten, nun aber dem Taktstock eines mächtigen Weltenkapellmeisters folgend in herrlichen Melodien dahinwallen.
Ja, ich höre auch etwas rauschen, das muß die Zeit sein oder das Schicksal. Zeit ist ja Schicksal, meint irgendein indischer Philosoph. Zum erstenmal höre ich diesen gewaltigen Ton. Mir kommt es vor, als hätten wir bisher in einem stillen Nebenarm gelebt, durch den der angeschwollne Strom nun seinen brausenden Weg nimmt.
Der Mensch trägt ahnungslos sein Schicksal mit sich, es lenkt ihn auf allen Wegen, es belauert ihn auch, wo er weit von dem bestimmten Ziele abschweift.
*
In meiner kleinen Heimatstadt war alles so viel friedlicher, da kamen die Nachrichten so spät und so langsam, durch diese Blätter ging es nur wie leises Rauschen; das Brausen des Sturmwindes hörten nur die, die es im eignen Innern fühlten, hoch oben in der Luft drüber weggehn. Ich hatte mirs ganz anders vorgestellt. Diese Handwerker, Krämer und Kleinbeamten hatten nicht viel zu fürchten, oder sie glaubten es in ihrem beschränkten Optimismus. Auf den Feldern arbeiteten die Leute rastlos aber still. Sie hielten den Krieg für näher, als er war. Konnten nicht morgen die Franzosen da sein? Ob die goldne Frucht in den Scheunen sicherer stehe als unter Gottes Himmel, fragte die bange Sorge nicht.
In meinem Vaterhause herrschte dieselbe Stimmung. »Sich nur nicht aus dem Geleis werfen lassen,« war der Spruch meines Vaters. Ihm mißfiel mein Entschluß, unter die Soldaten zu gehn; da sich aber mein Leben schon seit Jahren sein selbständiges Bett gegraben hatte, mißbilligte er ihn nicht mir gegenüber. Du handelst auf deine Verantwortung. Hast du aber auch daran gedacht, daß du als Krüppel zurückkehren kannst? Brich nicht alle Brücken hinter dir ab!
Obgleich ich etwas Unbekanntem entgegenging, und hinter mir im tiefsten Schmerz meine Eltern ließ, erfüllte mich doch eine eigentümliche Freude, wie ich sie noch nie empfunden hatte; es schien mir, als sei mein ganzes Wesen, Geist und Leib, von dieser Freude ergriffen und durchdrungen von dem Augenblick an, wo ich mich entschlossen hatte, mein ganzes Ich einzusetzen. Bei Licht betrachtet, hatte ich viel aufgegeben und wußte nicht, wie sich meine Zukunft gestalten sollte. Aber ich war einig mit mir selbst. Kein Bedenken trübte die Klarheit der innern Erkenntnis dessen, was der Augenblick gebot.
Auf uns, die wir in einer Gedankenwelt gelebt hatten, in der es keine Unterschiede der Völker und der Staaten gibt, wirkten die Ausbrüche des überwallenden Stammesgefühls, wie alles, was im Grunde egoistisch und beschränkt ist, abstoßend. Wir hatten die menschheitlichen Regungen als die edelsten schätzen gelernt, und dieser Völkerhaß, der sich schrankenlos äußerte, schien unsre Ideale wie eine trübe Flut zu umtosen. In einer der großen Versammlungen, in denen die hinausziehenden Kämpfer verabschiedet wurden, hörten wir einen unsrer größten Gelehrten eine Rede reden, deren Sätze an einen zum Schwindel geneigten erinnerten, der einen schmalen Steg zuerst mit Vorsicht langsam passiert und mit einigen Sprüngen endigt. Eine gute Volksrede muß so sein, daß jeder, der sie hört, glauben muß, daß er sie selber hätte halten können. Das Volk muß sich darin sprechen hören. Ich habe in diesen Tagen viel stammeln und doch, in diesem Sinne, nie besser sprechen hören.
Auf die Kältesten und Widerwilligsten wirkte die große Einheit und Klarheit im Wollen und Streben der Masse. Eine Volksbewegung, in der die Masse nichts Dummes tut, wie ihre Neigung ist, sondern den Winken eines genialen Staatsmannes mit der ganzen Inbrunst folgt, deren die Volksseele fähig ist, imponierte nicht bloß den »Achtundvierzigern,« die ganz andre Volksbewegungen gesehen hatten. Hier war in der Tat eine elementare Kraft an der Arbeit.
Über die große Erregung des Augenblicks hinaus lag das weit über den Gesichtskreis dieser bewegten Tage hinausziehende Gefühl, an großen Taten, auch an großen Gefahren teil zu haben, und die Aufforderung, die daraus an jeden erging, für beides die besten Kräfte bereit zu halten.
Die patriotischen Gesänge, die wir so oft aus einem unbestimmten Drange nach hohen Gefühlen angestimmt hatten, waren mit einem Schlage Wirklichkeit geworden. »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte,« das fühlten wir ja so tief, und darum eben handelte es sich, dieses Gefühl nun in die Tat umzusetzen. Und wie war heute das andre Lied zur Tat geworden: »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, wer legt noch die Hände jetzt feig in den Schoß?« Die Worte kamen uns so schal vor, sie welkten ab, die Frucht der Tat war in diesen Sturmtagen unversehens gereift. Es wäre jedem trivial vorgekommen, nun noch den alten Sang zu wiederholen.
Ich habe heute früh in der Kirche das Wort vernommen: Mit Gott wollen wir Taten tun. Ich habe es mir tief eingeprägt. Es ist gut, aus den Worten herauszukommen, sich auf Taten wenigstens vorzubereiten. Es wird zuviel des Redens. Der Sturm, der die Volkstiefen aufwühlte, ist matt geworden von den vielen Worten und dem vielen Gedruckten, das er aufwehte, er scheint in eine gewöhnliche Brise abzuflauen. Das ist gut für die, die daheim bleiben. Wir aber wollen etwas von seiner Kraft mitnehmen. Darum hinaus!