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Die waldreichen Mittelgebirge Neuenglands und des nördlichen Newyork haben vor den deutschen die tiefe Einsamkeit, die mannigfaltigere Zusammensetzung des Waldes und Buschwerks und den Reichtum an stillen, klaren, waldumrandeten Seen voraus, mit denen die Seen des Schwarzwalds und der Vogesen und des Böhmerwalds nicht zu vergleichen sind. Der Harz und der Thüringer Wald haben keine Seen, in ihren Wäldern herrschen die Fichte und die Tanne über weite Strecken hin unbedingt, und ihre Ruhe unterbricht sogar im Winter die Schar der Gäste, die selbst nur zu oft die Einsamkeit aufstören, die sie suchen. Es ist aber dennoch ein ganz andrer Genuß, den Harz zu durchwandern, als in den Urwäldern der Adirondacks zu streifen. Wir sind nun einmal Kulturmenschen, ob wir in Europa oder in Amerika wohnen, und die Würze unsers Naturgenusses ist eben die Kultur, die die Landschaft eines alten geschichtlichen Gebiets wie mit einem feinen Duft durchdringt, den man nicht immer genau bestimmen kann, dessen Fehlen aber bald ein Gefühl der Entbehrung erweckt. Der geschichtliche Hauch, der durch alle unsre Lande weht und in jedem Dorfe und um jedes alte Gemäuer webt, macht uns alle zu Aristokraten. Er erinnert uns daran, wie alt wir als Volk auf diesem Boden sind, dessen Mitbesitzer wir uns nennen können, wie unsre Väter dessen Miterwerber waren. Es quillt ein warmes Gefühl der Beheimatung daraus hervor. Vielleicht hat der Fremdgewordne, wenn er in den Bann dieser Erinnerungen zurückkehrt, eine feinere Unterscheidung dafür. Jedenfalls sind die geschichtlichen Stätten aus der Zeit der sächsischen Kaiser die leuchtendsten Erinnerungen meiner Harzwanderung.

Was an der Harzlandschaft Natur ist, das ist ja echt deutsch, weil eben ein gut Stück deutsche Kulturarbeit darin steckt. Nicht der Wald an sich, sondern der schön gepflegte Wald, den nicht einmal der uralte Bergbau des Oberharzes in so häßlicher, rein zerstörender Weise gelichtet hat, wie bei uns drüben der unersättliche wälderfressende Holzhandel, ist der Schmuck des Harzes. Wo die mit saftigem Grase bewachsenen Lichtungen an den Bächen hin in diesen dunkeln Harzwald hineinziehen, entstehn überall die schönsten Gegensätze der Lage und der Farbe. Die Bevölkerung des innern Harzes ist arm, aber ihre Dörfer sind reinlich und gut gehalten. Und unter den größern Orten des Harzrandes gibt es manche, so freundliche altertümliche Städtchen, wie Wernigerode mit seinem ragenden Schloß, und so modern blühende, wie Harzburg, die Stadt der Gasthäuser und der Pensionen. Alle diese Randstädte haben irgendein eigentümliches Verhältnis zu der Natur: einst suchten sie in ihr Schutz, heute begünstigt dasselbe Verhältnis ihre Entwicklung zu vielbesuchten Sommerfrischen. Die wilden Felsenmeere von Schierke, die Granitblöcke des Brockens, die wundervoll leuchtenden Moospolster auf den Felsen der braunen murmelnden Waldbäche, das Brockengespenst: das sind ja Dinge der Natur; aber es sind wilde Gewächse im Garten der Kulturlandschaft, die bei der lichtenden Arbeit stehn geblieben sind. Sie hauchen einen kräftigen Duft hinein. Man sollte sie nicht ausgehn lassen, es ist für manche von ihnen ohnehin Gefahr, daß sie ganz verdrängt werden und das Schicksal teilen des Bären und des Luchses, deren alte Knochen man mit Staunen aus Höhlen herträgt, oder der Eibe, deren dunkelbraun gewordne Stämme in der Tiefe der Moore ruhn.

Es ist ein tröstlicher Gedanke, daß nicht ganz so ausgestorben die Geschlechter der Menschen sind, die einst hier ruhmvoll walteten. Die Leiber der alten Welfenherzöge und der Sachsenkaiser modern in den Grüften von Braunschweig, Magdeburg, Quedlinburg, aber es ist sicher, daß mancher Teil ihres Blutes in der Kette der Generationen bis in das Geschlecht der Jetztlebenden herabgelangt ist. Ich habe nicht die geringste Neigung, darüber genealogische Studien anzustellen, die ich unter den überflüssigen zu den unnützesten rechne. Ich sehe mich vielmehr unter den Menschen um, die hier wandeln und handeln, und da finde ich Tatkraft und Zähigkeit, die aus Zügen sprechen, die vielfach den Zügen jener Alten, Großen gleichen. Besonders Otto der Große, der auch nach seiner äußern Erscheinung am besten gekannte unter den sächsischen Kaisern, hat so manchen lebendigen Vertreter unter den Förstern oder den Husarenmajoren, aber auch unter den Holzfällern von heute. Wohl ist halbslawisches Blut auch in die Harzlande gedrungen und hat breite ausdruckslose Gesichter mit demütigen Mienen erzeugt, die übrigens von alters her unter kriegsgefangnen Sklaven erblich sein konnten. Aber ich glaube gerade auf diesem Boden nicht an Ammons Lehre von dem notwendigen Aussterben der herrschenden Klasse und ihrem Ersatz durch aufsteigende niedere Schichten von niedrigen Anlagen. Mehr noch im westlichen Niedersachsen, besonders in Westfalen, als hier sehe ich ein Volk von Herrschergestalten, das sogar in den Industriegebieten nicht entartet ist. Ammons Lehre ist in Baden entstanden, wo seit mehr als zweitausend Jahren Kelten und Römer mit Germanen gemischt sind. Vielleicht hat auch die in demselben bevorzugten Winkel Deutschlands heimische Bildungs- und Parteiprotzerei dieses anthropologisch-politische Gewächs begünstigt.

Die Verteilung der Brennpunkte der deutschen Geschichte hat über so viele Landschaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen ausgegossen, daß man sagen kann, der deutsche Boden sei von einem Ende bis zum andern geschichtlich durchgearbeitet. Der Unterschied von den geschichtlichen Landschaften Westeuropas liegt hauptsächlich in dem raschen Wechsel der Schauplätze und dem Mangel eines alten Macht- und Kulturmittelpunkts: keine große Kulturquelle, aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß sind. Manche der bedeutendsten Erinnerungen liegen auch so weit zurück, daß sie jahrhundertelang fast vergessen waren. So die der sächsischen Kaiser in den Landen um den Harz von der Unstrut bis zur Ocker.

Versetzen wir uns einmal an die mittlere Unstrut. Da schaut Memleben, die alte sächsische Kaiserpfalz, mit satt rötlichbraunen Farben an Häusern und Dächern und an dem ernsten massigen Quadratturm seiner Kirche aus dem Grün der Obstgärten und über die begrasten Ufer der Unstrut her, die hart an dem Gartenrande des dorfartigen Fleckens hinmurmelt. Von oben blickt ein auch noch jetzt dichtbewaldeter rundlicher Bergrücken herein. Ein Unstrutkahn »vor Anker« zeigt, daß Memleben noch nicht ganz verkehrlos ist. Von der Pfalz stehn noch ein paar Pfeilerreste, und von dem Kloster, das hart daneben lag, ein Stück Gewölbe. Nur die Pietät wird bei diesen Resten verweilen. Der alte Ort hat im übrigen nichts Historisches an sich. Die einfache Landkirche mit ihrem festen Turm ist aber wenigstens nicht kleinlich wie so viele. Und wenn am »Ablaßtag,« am ersten Sonntag Trinitatis, Memleben seine Kirchweih feiert, da tanzen die jungen Leute unter der Linde und den Kastanienbäumen, daß man den Kirchhof, einen schönen Garten um die Kirche, ganz vergißt und nur der Lebenden gedenkt.

Vom ostwärts gewandten Söller des Klostergartens übersieht man die Schlangenwindungen der Unstrut, hat unmittelbar vor sich den auch heute nur einen starken Büchsenschuß vom Bau entfernten Wald der Finne, einen hochstämmigen dichten Laubwald, der auch im Osten den Horizont abschließt, und im Norden einen niedrigen, geradlinig abschneidenden Zug, der oben mit Nadelholz bewaldet, unten in stärkerm Maße als die Finne in Acker und Wiesen verwandelt ist. Von der Pfalz aus muß man den Wendelstein mit seinen in mächtigen Mauern erhaltnen Befestigungen vor sich gehabt haben. Das alles zusammen war eine Kulturoase und ist heute eine historische Landschaft. Der Name Großes Rieth, den die ganz ebnen Unstrutniederungen zwischen Artern und Memleben führen – Memleben liegt gerade auf dem erhöhten Rande dieser Niederung, an den sich die Unstrut hindrängt –, scheint darauf zu deuten, daß hier eine weite sumpfige Ebene zur Austrocknung und zur Wiesenwirtschaft einlud; hier konnte also die Arbeit des Eindringens in den Wald gespart werden. Kreuzt man die Unstrut auf der aus der Pfalz herausführenden Heubrücke, so geht man auf einem breiten Damm am linken Ufer des Flusses bis zum Fuße des Gipsfelsens, auf dem Wendelstein in imposanten Trümmern liegt. Dieser Damm schützt den östlichen, Memlebner Teil des Rieths vor Überschwemmung und bot zugleich die notwendige Verbindung mit der Burg auf dem Wendelstein, die wir uns als die militärische Ergänzung der Kaiserpfalz denken müssen.

Wie einsam es trotzdem in dem vom Verkehr entlegnen, als Sackgasse im Wendenland endigenden Tal gewesen sein muß, zeigt die Tatsache, daß Memleben immer Dorf blieb, und wenn es auch Residenz war, immer nur Bauern außerhalb der Pfalz beherbergt hat. Auch als der Verkehr wuchs, gingen seine großen Linien in diesem Gebiete nicht im Unstruttal, sondern Erfurt und Nordhausen bezeichnen die Hauptwege. Was war es im damals noch menschenarmen Deutschland, das einen welterfahrnen Herrscher wie Kaiser Otto den Ersten in diese Waldeinsamkeit zog? Er, der in Rom residieren konnte, zog ein kleines Jagdschlößchen in einem der waldreichsten Gebiete Deutschlands vor. Er war also kein Städtemensch, sondern es lebte etwas von der altgermanischen Naturliebe und ein Wunsch zu der Selbständigkeit in ihm, deren Nahrung die Einsamkeit ist. Noch heute ist die Lage von Memleben friedsam umhegt und umwallt; friedlich sind auch die rundlichen, langgezognen Umrisse seiner Berge. Wenn der Kaiser an einem Frühlingsabend des Jahres 973 – von dem wir zufällig wissen, daß er hier weilte – nach Westen schaute und die walddunkeln Berge, die heute die Hohe Schreck heißen, purpurn durchleuchtet und den Unstrutspiegel in Gold verwandelt sah, mochte er sich selbst auch wohlig eingehegt fühlen. Da trat wohl ein Rudel Hirsche, an der Spitze ein Sechzehnender, aus dem Walde gegenüber der Pfalz und äste das junge Grün des noch schmalen Wiesensaums. Und aus dem Forste hörte man Laute, die heute verstummt sind, Stimmen des Bären, des Luchses oder des Wisent.

Kaiser Ottos Leiche wurde nach Magdeburg gebracht, wo sie im Dome ruht. Aus der Waldeinsamkeit in die Stadt an der großen Heerstraße, vom Ufer des kleinen Zuflusses an den mächtigen Strom! Damals war Magdeburg eine junge Stadt, von der vielleicht nichts als das hohe Schiff des Doms mit seinem massigen romanischen Turm über die Mauern hervorragte. Aber sie war einer der geschichtlichen Mittelpunkte, zeitweilig der Ausstrahlungspunkt weltgeschichtlicher Wirkungen. Heute denken viele, die den Namen des altberühmten Magdeburg nennen hören, nur an Zucker, Maschinen und Elbschiffahrt. Magdeburg gilt nicht für eine Stadt von dem geschichtlichen Range Kölns oder Lübecks. Und doch steht seine geschichtliche Bedeutung nicht bloß in den Urkunden, sondern spricht sich in seiner ganzen Erscheinung aus. Viele fahren an Magdeburg vorbei, als ob es ein Häusermeer gleich allen andern wäre. Aber die paar Jahrhunderte, um die die niedersächsischen Städte früher als die ostelbischen von den großen geschichtlichen Bewegungen Süd- und Westeuropas ergriffen worden sind, haben auch hier ihre Spuren gelassen. Von dem Hauch geschichtlicher Größe um den Dom zu Magdeburg oder das altehrwürdige Kaiser-Otto-Denkmal auf dem Magdeburger Altmarkt haben Leipzig, Dresden und Berlin nichts. Nur an der baltischen Küste ist dieser Abstand nicht so deutlich, weil von Lübeck bis Marienburg die Triebkraft kolonialer Entwicklung in dem einzigen dreizehnten Jahrhundert unglaublich viel nachgeholt hat. Magdeburg ist reich an Türmen. Der Dom ragt schon mit seinem Schiffe so mächtig hervor, wie nur ein Bau aus einer Zeit, die ihr Größtes einzig in den Kirchenbau legte. Außerdem ist sein Turmpaar eine bedeutende Erscheinung. Viel altertümlicher sind die zylindrisch spitzdachigen Türme der Marienkirche mit dem echt niedersächsisch-romanischen giebelartig hohen, einfachen und doch nicht unzierlichen Mittelbau. Wenig hat die alte Stadt aus den spätern Jahrhunderten aufzuweisen, aber die Mauern der alten Zitadelle, die das rechte Elbufer überhöhen, erzählen von der hohen Stellung Magdeburgs als Festung in der preußischen Zeit. Endlich der rege Schiffsverkehr auf dem Strom und an den Länden; die langen Linien der Lagerhäuser zeigen uns die Bedeutung Magdeburgs als Hauptstadt des Verkehrs auf der mittlern Elbe. Wenn man, aus diesem Treiben hinaufschauend, hinter den Bäumen des Domplatzes das massige hohe Turmpaar des Doms mit seinen zackigen Kanten auftauchen sieht, so nahe an dem Strome, wie der Dom von Köln am Rheine oder der Frankfurter Dom am Main, vermischt sich die Erinnerung an die große Vergangenheit Magdeburgs mit den Eindrücken des pulsierenden Lebens. Der Strom verbindet Altes und Neues. Diese Lage des Doms deutet den engen Zusammenhang einstiger und jetziger Blüte mit dem Strome an. Man könnte das sich weiter oben anreihende, übrigens mit Magdeburg eng zusammenhängende Buckau mit seinen Fabriken und staubigen Ladeplätzen als eine vierte Art von historischer Landschaft, als die industrielle neben den Elbuferlandschaften der alten Stadt, der Zitadelle und der Dampfschiffländen bezeichnen.

Magdeburgs Straßen durchflutet ein bewegtes Geschäftstreiben; aber der Eindruck der Stadt wird nicht in dem Maße davon beherrscht wie der Leipzigs oder Halles. Er behält mehr Altes, Edles. Aus der modernisierten, lebhaften Regierungsstraße, die aus alter Zeit wesentlich nur die Enge bewahrt hat, tritt man in den Kreuzgang des Klosters zu Unsrer lieben Frau, eines der zierlichen, bei aller Strenge phantasiereichen Werke des romanischen Stils. Heute umgibt er einen grünen Rasen mit blühendem Gebüsch. Eschen, Birken und Weiden schauen in die kleinen, säulengeteilten Rundbogenfenster. Es ist eine wohltuende Stätte des Friedens. Wie sie reinigend auf uns wirkt, bezeugt sie die tiefe Berechtigung dieser Werke der Weltflucht, die so lange bleiben wird, als sich menschliche Herzen vom öden Alltagstreiben abwenden. Ich muß in diesen Hallen an Memlebens Kaiserpfalz und stillen Klostergarten denken.

Wenn man über die preußische Grenze aus Sachsen oder Anhalt kommt, empfängt man überall und immer den Eindruck eines stark in die Peripherie hinauswirkenden Staats, der kein toter Begriff, sondern ein höchst lebendiges Wesen ist. Nicht die Soldaten, die auf dem Domplatz Stechschritt üben, auch nicht die zahlreichen Ruhmestafeln an der Nordwand des Doms, worauf die Namen der Gefallnen der Feldzüge seit 1813 in langen Reihen verzeichnet sind, nicht einmal die anspruchsvollen Posaunenengel, die am Gouvernementsgebäude den schwarzen Adler halten, wozu sie ein Duett blasen, das nicht sehr bescheiden zu sein scheint, erinnerten mich in Magdeburg daran, sondern der ganze Gang der offiziellen Maschine. Bestimmt wenn auch kurz, stramm wenn auch barsch, ordentlich wenn auch nüchtern: es tut nicht unbedingt wohl, aber es erzwingt Achtung. Ich rechne zu den Spuren der preußischen Regierungskunst auch eine so eigentümliche Erscheinung wie das von Schinkel entworfne Gesellschaftshaus auf dem Hügel zwischen Magdeburg und Buckau, wo einst Kloster Bergen stand, und sich jetzt die schönen Anlagen des Friedrich-Wilhelmparks zur Elbe hinabziehn. Es ist doch entschieden preußische Kunst in diesem nüchternen aber korrekten und sogar steif-edeln Aufbau griechischer Säulen. Sogar die Vergnügungen der Bürger, Bürgerinnen und künftigen Bürger von Magdeburg sollen unter veredelnden, vom Staate weise und großmütig verordneten Einflüssen vonstatten gehn. Das Gebäude mag etwas biedermeierisch aussehen, aber es ist doch ein schönes Denkmal und ersetzt reichlich die Königs- und Feldherrndenkmäler, die merkwürdigerweise in dieser kriegerischen Stadt vor kurzem noch gänzlich fehlten. Welche Erleichterung!

Landschaftlich wird die Elbe unterhalb Dresdens und zur Not noch Meißens noch weniger gewürdigt als nach ihrem geschichtlichen Wert. Man tut sie als die gelbe Elbe, als die trübe Elbe ab. Ich möchte wohl, wenn es möglich wäre, die Statistik der Rheinreisenden mit der Statistik der Elbreisenden vergleichen. Es würde sich ein Unterschied herausstellen, der ganz außer Verhältnis steht zu dem ästhetischen Vorzug der flachrückigen Rheinberge vor den ebnen Auen des Elblaufs unterhalb der meißnischen Berge. Die Bevorzugung der Rheinlandschaft hat viele gute Gründe, ist aber weit übertrieben. Ich rechne besonders die schönen Parklandschaften der Elbauen im Anhaltischen, wo die schönsten Eichen-, Ulmen- und Schwarzpappelgruppen auf den grünen Uferwiesen stehn, zum landschaftlich Anziehendsten Mitteldeutschlands. An Türmen, Schlössern und alten ummauerten Städtchen ist gewiß der Rhein reicher. Aber ich möchte wenigstens an einen alten Turm an der anhaltischen Elbe erinnern, der ein historisches Denkmal ersten Ranges ist. Ich meine den Zollturm von Roßlau. Man kann diesen klotzigen alten Elbzollturm, den jetzt ein lieblicher Wirtsgarten umgibt, nicht ansehen, ohne der Zeiten zu gedenken, wo hier eine wahre und wirkliche Zollgrenze die Elbe durchschnitt. Insofern ist das eine bedeutsame Stelle. Als diese Linie nach vielen Mühen vom Zollverein durchrissen wurde, gewann Deutschland seinen Elbstrom ganz und ungetrennt zurück und damit eins der wichtigsten Organe seines innern Verkehrs. Die Blüte Hamburgs und Magdeburgs, der festere wirtschaftliche Anschluß Sachsens an Norddeutschland waren die nächste Folge davon. Der Kampf um den Elbzoll war auch ein Kampf für deutsche Einheit.

Die Kunstblüte aus der Zeit der Größe der sächsischen Kaiser hat sich weiter im Westen entfaltet. Der Elbstrom war damals noch zu sehr Grenzstrom zwischen Deutschen und Slawen, Magdeburg nicht Mittelpunkt der Beherrschung, sondern Ausgangspunkt der Eroberung, Mission und Kolonisation und zur Not ein fester Platz zur Deckung. Nach dem Harz zu, dessen Erzreichtum eben damals neu erkannt wurde, und nach den nordwestdeutschen Verkehrsgebieten zu liegen die Kleinodien der niedersächsischen Bau- und Bildnerkunst aus den ersten Jahrhunderten unsers Jahrtausends. Während Deutschland sonst in wenig Gebieten eine durch Jahrhunderte hindurch ununterbrochne Entwicklung aufweist, sehen wir hier an die romanische Kunst der Kaiserzeit sich die jüngere Kunst der Blütezeit des Bürgertums anreihen, an die Paläste die Rats- und die Bürgerhäuser. Daher der Reichtum an Denkmälern, die sich auf sechs Jahrhunderte verteilen. Gleich die alte Kaiserstadt Goslar ist so reich an Baudenkmälern und Denkmälern alter Sitte und Lebensanschauung, besonders auch in den prächtigen Hausinschriften, wie wenig andre niederdeutsche Städte. Einige von seinen Fachwerkbauten gehören zu den besten ihrer Art. Seinem Marktbrunnen hat keine Stadt von dieser Größe etwas an die Seite zu stellen. Und dazu kommt nun das Kaiserhaus, dieser große romanische Profanbau, dessen Lage über der Stadt mit dem Blick in den Harz man der Beachtung jener kurzsichtigen Leute empfehlen darf, die den Sinn für das landschaftlich Schöne oder Große zu einer Entdeckung des letzten Jahrhunderts stempeln wollen. Goslar hat es mehr als andre Städte dieses Gebiets verstanden, sich originelle Mauertürme, hübsche Stücke der Stadtmauer, die sie einst verband, dazu mächtige Tortürme zu erhalten. Man hat die alten Reste den neuen Bedürfnissen liebevoll angepaßt, was freilich leichter war in der verhältnismäßigen Ruhe, in die die alte Kaiser- und Bergwerksstadt schon lange zurückgesunken ist. Die Abtragung des Doms in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war ein starkes Stück selbstgerechter Biedermeierei, bei dem man es glücklicherweise gelassen hat, nachdem die eingeschlummerte Pietät für die Werke der Väter einmal wachgerüttelt war. Ich muß leider bekennen, daß mich die einst bewunderten Fresken aus der deutschen Geschichte im wiederhergestellten Kaiserhaus als eine nicht geringere, wenn auch besser gemeinte Geschmacklosigkeit angemutet haben. Was haben moderne Bilder, die immer zum Teil Tendenzbilder sein werden, an den alten Mauern zu tun, die an sich schon beredt genug sind?

Quedlinburg ist eine echt deutsche behagliche Stadt, die, man muß das gleich hinzusetzen, nie von einem großen Brande heimgesucht worden ist. Jetzt eben fängt sie an, stärker über ihre Mauern hinauszuquellen, und da wird denn auch die Erneuerung im Innern stärkere Schritte machen. Es sind aber noch ganze Straßen in ihrer alten Enge und mit ihren Fachwerkgiebelhäusern erhalten. Die Häuser sind einfach gehalten, zu den stolzesten gehört noch das Geburtshaus Klopstocks mit seinem auf zwei Säulen ruhenden Erker. Aber sie sehen sauber und behaglich aus. Das Fachwerk gibt jedem Hause etwas Lebhaftes und Schmuckes und einen Halt. Es ist die einfachste und natürlichste Art von Verzierung. Der Schloßplatz und seine Linden, unter deren Dach schon der Knabe Klopstock gespielt hat, und mehr noch der engere Hof zwischen Dom und Schloß sind stimmungsvolle Räume, altstädtisch klein, aber behaglich. Diese Städte haben ja alle nicht den Raum für große Plätze. Wie wohltuend sind die Formen des Doms, die zierlichen Gesimse, Bogenreihen, die Friese voll Ungeheuern und die formenreichen Kapitäle der rundbogigen Fenster! Aber wie schade, daß der Platz, der den einzigen ganz freien Blick über Stadt und Harz bietet, nach der Stadt hin mit Gärten besetzt und durch Gitter abgesperrt ist. Eine Vordrängung des Privatbesitzes, die nicht geduldet werden sollte. Quedlinburg ist eine berühmte Gartenstadt geworden, aber seine Anlagen sind noch mäßig. Es wäre aller Grund, mehr darauf zu verwenden, ehe die schönsten Plätze in Ackerfelder umgewandelt werden. Der Besitz eines schönen waldartigen Parks in der Nähe der Stadt kann den Wunsch nicht entkräften, die erhöhten Punkte um die Stadt, die die schönsten Blicke auf diese und den Harz bieten, zum Teil als Aussichtspunkte festzuhalten. Es ist zuzugeben, daß viele deutsche Städte hinreichend für grüne Erholungsplätze in unmittelbarer Nähe gesorgt haben. Ja, es gehört das Heranreichen des Waldes an die Städte zu dem Charakteristischsten in der Physiognomie des heutigen Deutschlands. Aber man hat in solchen rasch gewachsenen Städten wie Magdeburg oder Leipzig nicht hinreichend dem Erholungsbedürfnis der rasch zunehmenden Bevölkerung in der Nähe und auf allen Seiten Rechnung getragen. Immerhin sind auch in dieser Beziehung die deutschen Städte den amerikanischen und den englischen weit voraus.

Halberstadt mit seinen malerischen Türmen liegt noch ganz in der Ebene, um so weiter ist die merkwürdig zusammengedrängte Gruppe der schlanken Turmpaare des Doms und der Liebfrauenkirche sichtbar. Da Halberstadts treffliche Lage und reiche Umgebung es auch in unsrer Zeit wieder zu einem blühenden Mittelpunkt erhoben haben, hat sich um den Kern schöner Fachwerkhäuser und um das malerische Rathaus eine moderne Stadt gebildet, deren Kern bezeichnenderweise der ziemlich weit abliegende Bahnhof ist. Das Umwälzende des Eisenbahnbaus hat mir in viel drastischerer Weise das nahe Sangerhausen gezeigt, wo der Bahnhof gerade neben den alten Friedhof gelegt worden ist, durch den nun die neue Bahnhofstraße erhöht mitten hindurchführt. Der Friedhof ist verlassen, er wird sich allmählich in eine öffentliche Anlage verwandeln. Man sieht, wie das Antlitz der Stadt umgewandt worden ist. Man betritt sie jetzt von hinten. Daher der merkwürdige Gegensatz der hohen Neubauten am Bahnhof zu den kleinen Häuschen dahinter. Erst nach diesen folgt der Markt, der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer kleinen Stadt trägt.

Hildesheim wird das niederdeutsche Nürnberg genannt. Ich finde diese Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim ist geschichtlich älter und hat zwei große Blütezeiten gehabt. Schon für den einfach Durchwandernden ist die Zahl hervorragender bürgerlicher Häuser in Hildesheim viel größer als in Nürnberg. Kein Dürer und kein Bischer haben hier gewirkt, aber die Hildesheimer Kunstblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter zurück, und die Blüte der Profanarchitektur in der Renaissance ist viel reicher, bunter; ich möchte sagen, und das Bild liegt in der Stadt des tausendjährigen Rosenstocks nicht weit, diese Rose hat viel mehr Blätter. Es ist gerade das Merkwürdige bei Hildesheim, daß die Kunstübung so um sich griff, daß im sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert kein Haus gebaut oder renoviert worden ist, dem nicht künstlerischer Schmuck zugefügt wurde. Das ist eins von den diesseits der Alpen seltnen Beispielen, wo die Baukunst und die Bildhauerei als Künste kein Luxus, sondern etwas Selbstverständliches geworden waren. Nur darin erinnert Hildesheim an Nürnberg. Wenn man sieht, wie sich die Kunst dann auch in der Gegenwart wieder aufgerungen hat, und wie weit das neue, nach dem Bahnhof zu gewachsene Hildesheim von der Banalität der modernen Städte entfernt ist, dann erscheint uns das vom alten Bischof Bernward und seinen Gefährten eingesenkte Samenkorn als ein unvergängliches. Die Kunst ist einmal an diesem Orte groß gewesen, sie ist es wieder geworden und wird nie ganz verdorren. Und so ist Hildesheim für die Kunst geheiligt. Wenn ich zu bestimmen hätte, empfinge Hildesheim seinen aus dem jungen Schoß des absterbenden verjüngten tausendjährigen Rosenstock zum Siegel und zum Zeichen seiner tausendjährigen Kunstblüte.

Als Deutschamerikaner fühlte ich auf diesen Stätten den ganzen Segen einer alten ruhmreichen Geschichte. Um diesen Segen muß jeder unbornierte Transatlantiker die Alte Welt beneiden. Und gerade um diese Geschichte kraftvoller Herrscher, die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in großem Sinne zu walten gewußt haben, müßte er eigentlich Deutschland besonders beneiden. Als Zurückgekehrter muß ich aber auch den Vergleich ziehen zwischen dem wenigen, was der Deutsche aus dieser großen alten Geschichte macht, und dem vielen, was der Amerikaner aus seinem bißchen Geschichte zu machen weiß. Ich habe gebildete Mitbesucher der Harzstädte kläglich unwissend gefunden. Ich werde darüber keine pädagogische Abhandlung zum besten geben, sondern nur meine Meinung darüber aussprechen, daß die Schule zu viel von Themistokles und Cäsar, zu wenig von Heinrich dem Ersten und Otto dem Großen sagt, und daß der Kaiser vollauf Recht hatte, als er gerade an den Betrieb des Geschichtsunterrichts an deutschen Schulen die bessernde Hand legen wollte. Der Deutsche, der die Geschichte seines Volkes vernachlässigt, kommt mir wie ein Mann vor, der statt des edeln alten Weins, den er im Keller hat, Krätzer trinkt.

Wir haben zum Schluß Wolfenbüttel besucht, die Stadt Lessings. Wie klein ist hier das achtzehnte Jahrhundert in seinen Denkmälern. In Wolfenbüttel ist wohl die alte Bibliothek Lessings erneuert, und auch sonst sind manche Häuser neu errichtet oder aufgesetzt worden. Aber es ist doch im ganzen immer nur ein kleiner, enger, holpriger Eindruck, den das Städtchen macht. Gemütlich, aber beschränkt. Das kleine Haus gegenüber der Bibliothek, wo Lessing gewohnt hat, paßt in diese alte Stadt hinein. Es besteht nur aus einem Erdgeschoß, aber seine Zimmer sind geräumig, und ihre zopfige Ausschmückung ist nicht ungefällig. Und auf Lessings Tisch hat wohl dasselbe Grün hereingeleuchtet, das heute diese Oase in der Wüste des Schloßplatzes so freundlich macht. Das erleichtert uns. Aber immerhin erhält man von der isolierten Höhe, auf der ein Geistesheld steht, so recht einen Begriff, wenn man die Spurlosigkeit des Wirkens eines Lessing in Wolfenbüttel bemerkt. Außerhalb der Bibliothek keine Spur von ihm. Ich denke an die Eichen, die das Gestrüpp eines Auenwaldes niederdeutschen Flachlandes in stillem Stolz übertürmen, und unwillkürlich wächst Lessings Denkmal von Rietschels Meisterhand in den Braunschweigischen Anlagen, eines der schönsten Dichterdenkmäler der Welt, in meiner Erinnerung angesichts Wolfenbüttels empor.

Man hat uns als Ort beschaulicher Ruhe zum Rasten von eindrucksreichen Ausflügen die anhaltische Sommerresidenz Ballenstedt empfohlen. Ballenstedt ist aber vom Bahnhof her eine der häßlichsten, kleinlichsten Städte, die man sich vorstellen kann, und entwickelt sich erst auf der entgegengesetzten Seite nach Westen zu einer reizenden Residenzstadt mit Hoflieferanten, Pianofortelager, Hofbuchhandlung, Wiener Café. Die einen Kilometer lange Allee zum Schloßgarten gibt dem Ganzen sogar eine gewisse Größe. Und wenn man oben angekommen ist, steht man einem Riesenbau gegenüber, der den einfachen Namen trägt Großer Gasthof. Vor ihm spielt an den Abenden eine gar nicht üble Musik, aber die haute volée von Ballenstedt hält es nicht für guten Ton, zuzuhören. Einige Gymnasiasten und Dienstmädchen sind die einzigen, die der ganz guten Musik ihr Ohr leihen. Herren, die die Distinktion darin suchen, daß sie ein Glas in die Augenhöhle klemmen und nach dem Parfüm ihrer Frau riechen, zum Hof gehörende oder pensionierte Generale, gehn laut sprechend auf und ab, verhandeln aber beim Schall der Musik keine harz-anhaltischen Staatsangelegenheiten, sondern den Erwerb eines nahen Grundstücks durch einen Gärtner.

Der beste Teil einer solchen Residenz ist immer der Schloßgarten. Deutschland weiß gar nicht, welchen Segen es in seinen vielen Hunderten von Schloßgärten hat. Auch viele Gärten kleinerer Besitzer, Grafen und Freiherren, sind dem Publikum geöffnet und sind sehenswert. Erst dieser Tage habe ich die Stolbergischen Schloßgärten in Roßla und Wernigerode bewundert. Warum ist ein solcher Schloßgarten so ganz anders geartet als ein städtischer Park, das Erzeugnis der Millionenstiftung in einer amerikanischen Großstadt? Ich trete in den durchaus nicht anspruchsvollen Schloßgarten von Ballenstedt, und das erste, was ich sehe, ist eine prächtige Blutbuche, höchst geschmackvoll in grünes Laubwerk hineinkomponiert, und daneben auf dem Grasplatz eine gerade ihre veilchenblauen Blütentrauben entfaltende Paulownia, um deren Fuß sich ein Efeugebüsch ausbreitet. Ich sehe hier auch höchst seltsamerweise uralte Stechpalmen, eine süddeutsche Bekanntschaft. Worin liegt denn der Unterschied? Hier steht vor dem Schloß ein einfacher Granitobelisk im Blumenrondell, den der Herzog der letzten Herzogin von Anhalt-Bernburg, Friederike von Holstein-Glücksburg, gesetzt hat. Warum ist er so viel würdiger, ansprechender als alle die mühseligen Siegesdenkmäler, die ich die letzten Tage gesehen habe? Weil es der Gedanke eines einzigen Mannes von Geschmack ist, der hier Ausdruck gesucht hat. Und so ist es mit den Gärten. Das Auge eines Herrn, der nicht bloß sorgsam ist, sondern Geschmack hat, ruht auf diesen Bäumen. Ihm sollen sie gefallen, daneben ist ihre Betrachtung auch dem Publikum erlaubt, das aber ganz zufrieden ist, wenn es nichts dazu zu sagen hat. Nur ein geschichtlicher Zufall, wie er im Aufgeben eines breiten Festungswalles liegt, der Höhen und Tiefen zu Parkanlagen darbietet, hat städtische Gartenanlagen von originaler Schönheit ins Leben gerufen; oder aber die Nachahmung der Werke der Fürsten, wie in München. Die öffentlichen Gärten unsrer amerikanischen Großstädte haben alle etwas Kaltes, und außerdem gehören sie zu den bestmelkenden Kühen im Stalle unsrer munizipalen Politiker. Auch das gibt dem Freistaatenmann zu denken.


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