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6. Im Lazarett

1.

Der Krieg ist für den Soldaten die Zeit des schroffsten Wechsels aller Lebensbedingungen. Er besingt diesen Zustand, ohne ihn viel zu bedenken, selbst fast jeden Tag, wenn er in den Morgen hineinmarschiert:

Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab.

Doch nicht Tod und Leben allein verschlingen sich eng im bunten Reigen der Kriegstage. Andrer Boden, andrer Himmel, andre Aufgaben, andre Menschen, andre Städte und Dörfer, vor allem auch andre Quartiere, und nicht zuletzt: andres Städtchen, andres Mädchen!

Der Soldat gewöhnt sich, diese Unterschiede gleichmütig hinzunehmen, der Wechsel der Tage muß ihm die Schule sein, in der er derart abgehärtet wird, daß auch der Rückzug ihn nicht entmutigt, der plötzlich notwendig wird, wenn ein ununterbrochen siegreicher Vormarsch ins Stocken gerät. Auch dafür hat er sein Lied, das zwar meist ohne besondern Grund angestimmt, sicherlich aber mit dem wahrsten Gefühl in Zeiten der Enttäuschung, der Entbehrung gesungen wurde:

Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond usw.,

in dessen langen Versreihen zuletzt die Wechselfälle im Schicksal des großen Napoleon in naiver Weise besungen werden. Auf diese schwerste Probe, die des Rückzugs nach verlornem Gefecht, ist ja der deutsche Soldat gerade 1870/71 nur in einzelnen Fällen gestellt worden, und es gereicht ihm die Ruhe und Ordnung seiner Gewaltmärsche nach Coulmiers oder von Dijon nach der Lisaine fast noch mehr zum Ruhm als manche gewonnene Schlacht. Aber was fast jeder Einzelne an Wechseln des Erlebens und der Stimmung durchzumachen hatte, überstieg in nicht wenig Fällen weit die Grenze dessen, was man im gewöhnlichen Gang der Dinge noch für ertragbar hält. Man trägt es doch und erkennt vielleicht später, daß gerade in dem Übergang von Wohlgefühl zu schwerster Sorge der Hammer des Schicksals niedersaust, der aus dem Eisen des erst werdenden den Stahl des vollendeten Charakters schmiedet.

Selten bin ich so frisch und froh, so fromm und freudig aufgewacht als an dem Morgen nach meiner Verwundung. Man hatte mich in ein reines Bett im Oberstock des kleinen Schulhauses gelegt, die Wunde war fest verbunden, schmerzte nicht, und Fieber hatte sich noch nicht eingestellt. Das Gefühl, so hart am Tode vorbeigegangen zu sein und nach menschlichem Ermessen das Leben zu behalten, erfüllte mein Herz mit Dank und mit frohen Gedanken an meine Lieben, ich hoffte, daß sie eine Karte über diese Affäre noch vor der amtlichen Verlustliste erhalten würden. Eine Tasse heißer Milch, die man mir reichte, erfüllte mich mit einem Wohlbehagen, wie ich es nie gefühlt zu haben glaubte. Die Mediziner sagen, das sei die Folge eines starken Blutverlustes, und es war in der Tat etwas von wohltuender Schwäche darin, der der Schlaf jede Minute willkommen ist. Ich dämmerte so dahin, als der Wagen gemeldet wurde, brachte es trotz einiger Benommenheit dahin, mich ohne Hilfe anzuziehn und den Weg die Treppe hinabzufinden.

Unten hielten auf der dunkeln Straße einige von den französischen Leiterwagen, die mir von Wagenpatrouillen her in guter Erinnerung waren; wir Infanteristen, die in der Regel auf den Seitenleitern Platz zu nehmen hatten, hieben die vorragenden Teile der Sprossen ab, und daran mögen Wagen, die in unsrer Benutzung gewesen waren, noch nach Jahren zu erkennen gewesen sein. Ich hatte mich noch nicht auf das Stroh eines von diesen Fuhrwerken gebettet, als der Hauptmann herantrat, seinen Burschen mit einer riesigen Stalllaterne zur Seite, und mir mit den Worten: »Leben Sie wohl, Gefreiter, und pflegen Sie Ihre Wunde gut, daß Sie bald wieder zu uns kommen können; Sie haben sich gestern sehr gut benommen!« die Hand reichte. Der Unteroffizier der Dragonereskorte kommandierte: »Marsch!« die Wagenreihe setzte sich in Bewegung und fuhr rasselnd aus dem Dorf. Es waren meist leere Wagen, die Proviant holen gingen, und einige Wagen mit Kranken und Verwundeten. Der Stolz auf die Worte des Hauptmanns durchrieselte mich wie ein stärkender Trunk. Ich faltete unwillkürlich die Hände und gelobte mir, ein guter Soldat zu bleiben und des Hauptmanns gute Meinung zu rechtfertigen. Im Hintergrunde meldete sich freilich auch etwas wie ein unbestimmtes Bewußtsein, zu den vom Glück Begünstigten zu gehören, und die Hoffnung, künftighin ebenso wie gestern heil wieder aufzutauchen. Nach der dunkeln Dämmerung der Todesnähe welch herrlicher Morgen, der mir heute aufging. Es wurde mir so leicht, als träte ich eine Reise in ein schönes Land an. Zweifellos, sagte ich mir, macht dieser Tag einen Einschnitt in deinem Soldatenleben; es war zuletzt manchmal einförmig geworden, es kann später nur besser werden, größere Ereignisse stehn uns bevor. Ich dachte nicht an das Lazarett vor mir, sondern an den Dienst, wenn ich geheilt sein würde, an den Frühling, der da kommen würde, an Siege, an Frieden. Über allem das Gefühl, »ledig aller Pflicht« in die Welt hineinzufahren! Ich gab mich gerade wie ein Wandrer, der nichts andres will, mit weiten Sinnen der Welt hin, bereit, mich jeder Einzelheit zu freuen.

Vom Himmel, der nicht mehr schwarz, vielleicht dunkelgrau, vielleicht mehr dunkelblau war, blinkten noch vereinzelte Sterne, Nachzügler der Armee von Tausenden, die schon hinuntergesunken waren. Sind es neugierig Zurückgebliebne, die die Sonne grüßen wollen? Sie werden warten müssen, denn noch ist der östliche Horizont so dunkel wie der westliche. Vielleicht ist dieser feuchte Hauch, der mir nun übers Gesicht streicht, der erste weit vorauseilende Bote, das letzte Auszittern des Freudenstrudels, den weit, weit im Osten die ersten Sonnenstrahlen im Luftmeer aufrühren. In den Lärchen am Wegrand werden nun die äußersten schwanken Zweige lebendig, rauschen wie im Traum in derselben Luftwelle, die mich berührt hat. Diese klare, frische Luft fühlte ich an den Haaren, mit denen sie spielte, an der Stirn, die sie umfächelte, fast schneidend beim Einatmen in Mund und Nase, und es war mir, als spüle sie aufrüttelnd und erleichternd den Körper entlang. Es lag so viel Verheißung in diesem Morgen. Was wird die hehre Sonne alles mit sich heraufführen?

Irgendwo am Horizont ist unbeobachtet ein neuer Stern aufgeglüht, gelbrötlicher als die andern, das kann nur ein Herdfeuer sein, das Frühaufgestandne entzündet haben. Am Himmel ist der Hintergrund heller und sind die Wolken dunkler geworden; am Osthimmel ziehn sie schon deutlich, die langgestreckten, auf dem Lager sich reckenden Nachtwolken. Darunter jetzt ein Purpurlicht, das durch Wolkenlücken scheint, bald hier bald dort deutlicher verglüht und dort sich neu entzündet. Nun färbt es die obern Wolkenränder, und gleich darauf ist ein milder Widerschein davon im Zenit. Aus Purpurfäden gehn Goldstreifen hervor. Wie mich das alles so weich und wohlig anmutet, vergesse ich über der Sonne, die nun heraufsteigt, Krieg und Dienst.

Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es ist der liebe, frische Morgen, der mir so freundlich entgegenkommt, der mir alle diese fremden Dörfer vergoldet, durch die wir in rascher Fahrt dahinrollen, und der in jedem unbekannten Fenster eine bekannte, wohltuende Glut entzündet. Nichts ist fremd, wo die Sonne hinleuchtet! Es ist zwar wahrscheinlich ein vergebliches Bemühn, auf die Dauer diese fahle Herbstlandschaft dem kalten Winter zu entreißen, aber du bist redlich bemüht, mein lieber Morgen, es auch heute wieder zu versuchen. Du breitest einen Glanz darüber, der die Kahlheit der Stoppeln und die Laublosigkeit der Bäume vergessen macht, und scheinst selbst einige Bauern und Mädchen, die uns freundlich grüßen, die Verdrossenheit über diese Zeit vergessen zu machen, die schwer auf ihnen lastet. Wir rasseln auf der langen Landstraße dahin, die fast verödet ist; in diesen Kriegszeiten hat eben der Verkehr fast ganz aufgehört. Wir überholen einige leere Proviantwagen, dann einen Wagen mit Kranken, die sich unsrer Kette anschließen. Ein Dorfarzt kommt uns entgegen in einem leichten Einspännerchen, das eine mächtige Fahne mit dem Genfer Kreuz trägt, hält an und erneuert einem von uns den Verband, der in Unordnung geraten ist; ein Geistlicher mit dem Rosenkranz wandert an uns vorbei, der vielleicht auch Kranke in einem von den vielen zerstreut liegenden Höfen besuchen will. Den Doppelposten am Ein- und am Ausgang einiger Dörfer werden Grüße und Scherzworte zugerufen, und an den Häusern entziffert man die Kreide- oder Kohleinschriften der Quartiermacher. In der Stadt verkleinert sich unser Zug rasch, ich werde zuletzt allein nach einem Lazarett gefahren, das im »Lycée« eingerichtet ist. Dunkles Haus mit langen Reihen staubbedeckter Fenster, alter Bau, aus dessen Fundament die feuchten Stellen wie erdentsteigende Wolken am Gemäuer hinaufwachsen; darauf, daß es einst ein Kloster gewesen ist, scheint die Kleinheit des Eingangs zu deuten, eines fast verborgnen Tores, durch das man in einen dunkeln Raum tritt, der gleich wieder eine Tür in einen Hof hat, worin Reste von säulengetragnen Hallen an den alten Umgang eines Klosterhofs und ein eingefrorner Springbrunnen in der Mitte an einstige Gartenanlagen erinnern. Nirgends ein Mensch. Nur daß die nach dem Hof schauenden Fenster nicht so bestäubt sind wie die nach der Straße, könnte als Lebenszeichen gedeutet werden.

Steif von dem langen Fahren in der Winterluft, unsichern Tritts infolge des Blutverlustes und des vielleicht schon herannahenden Wundfiebers wanke ich die Treppe hinauf, mich des Gewehrs wie eines Stabes bedienend. Noch immer alles still. Ich lehne mich auf dem ersten Treppenabsatz in die Mauerecke, da ich vor Schwindel keine Stufe mehr unterscheide, und muß eine Zeit lang da geträumt haben. Denn als ich erwachte, lag mein Tornister und mein Faschinenmesser neben mir, die ich im Wagen gelassen hatte, und mir gegenüber stand in einem Eimer ein menschliches Bein, über dem Knie abgeschnitten, das vorhin nicht dagewesen war. Ich rieb mir die Augen; Frost und Fieber schüttelten mich, doch hatte ich noch Gedanken genug, das nackte Bein zu bedauern, das da in der Kälte stand, und den zu beneiden, der es verloren hatte, da er nun voraussichtlich in einem warmen Bette lag. Ich hätte mein Bein darum gegeben, wenn ich mich hätte zur Ruhe legen können! Mit dem Aufgebot der letzten Kräfte tastete ich mich an die Tür, hinter der sich Menschen zu bewegen schienen, und fiel, als ich sie öffnete, fast in die Stube. Ich sah etwas, das mich an ein Schlachthaus erinnerte, viel Fleisch und Blut, und Menschen, die mit blutenden Händen an andern Menschen herumschnitten, die bleich auf einem langen Tische lagen. »Hinaus!« »Tür zu!« scholl es mir entgegen, und ich wankte zurück, mechanisch wieder die Ecke aufsuchend, in der ich ebenso unwillkürlich in Hockstellung zusammensank. Ein scharfer Ruck an der Schulter. »Auf, Gefreiter! Was hockst du da herum? Was hast du hier zu tun?« rief mir eine rauhe Stimme ins Ohr. Ich besann mich, daß ich schon längere Zeit da zusammengesunken gekauert haben mußte, denn ich war jetzt noch kälter als vorhin und klapperte hörbar mit den Zähnen. Wieder einen Ruck. »Kerl, schläfst du?« – noch rauher als vorhin. Jetzt sah ich einen Lazarettdiener vor mir stehn, besann mich dunkel auf den Ärmelumschlag des Mantels, worin mein Überweisungsschein in das Lazarett steckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blutlosen Fingern nicht mehr fassen, deutete nur darauf.

Der Lazarettdiener riß ihn heraus, warf einen Blick darauf und ging mit ein paar unverständlichen Worten die Treppe hinauf. Jetzt mußte ich alle meine Kräfte zusammennehmen, mich nicht auf das Steinpflaster zu strecken; ich machte eine letzte Anstrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann erschien der Lazarettdiener wieder, riß mich mehr hinauf, als er mich führte, stieß mich in eine Tür hinein und drückte mir meinen Schein in die Hand. Ich stand wieder wie gebannt, da Kälte und Schwindel mir das Gehen unmöglich machten; ich fürchtete bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Gesicht zu fallen, tastete mit der Hand nach der Wand und hob mit der andern meinen Schein in die Höhe, um gesehen zu werden. Mit meinem Zähneklappern, das den breit verbundnen Kopf in rhythmische Bewegung versetzte, muß ich einen lächerlichen Eindruck gemacht haben. Aus einem weiten Kreis von Lazarettgenossen, die um einen glühenden Ofen saßen, lösten sich Gestalten los, die lachend auf mich zukamen, mir Gewehr und Helm abnahmen, dann aber mit Ausdrücken des Mitleids, als sie meine blauen, starren Hände anfaßten, mich an ein leeres Bett führten, in das sie mich halbausgekleidet hineinsteckten. Die Erinnerung an das Zittern des Feldbetts unter meinem vom Fieber auf und ab geschleuderten Körper, und das Wort einer nicht freundlichen Stimme: Ich habe geglaubt, es sei ein Preuß, weil er gleich über uns räsoniert hat! sind meine letzten Erinnerungen.

Als ich nach dreitägigem Fieber wieder denken konnte und mich zu erinnern begann, war ich in einem andern, größern und hellern Saal, wo drei lange Reihen Betten mit Verwundeten und Kranken standen. Ich richtete mich auf. Über meinem Kopfe hing ein schwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Regiment, zweite Kompagnie, Kopfschuß, schwer. 38°. Ich schaute mich in dem Saale um und sah eine ganze Anzahl von Augen auf mich gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, kennt diese stillen Blicke, die von Gesichtern ausgehn, die tief in die Kissen gedrückt sind, in denen die Begierde liegt, zu sehen, zu erleben, die Leere dieses Krankendaseins auszufüllen; sie bitten, sie fragen, oft folgt ein verständnisvolles Winken, und dann nach einiger Zeit wendet sich der Kranke um und sieht nach der andern Seite und atmet tief auf, wie enttäuscht von der Vergeblichkeit dieses Ausschauens.

Dieses erstemal blieben aber alle Blicke an mir haften, denn ich war ja ein »Neuer,« man hatte mich bisher nur tief in den Kissen liegen sehen und höchstens im Fieber sprechen hören. Von ganz hinten her rief sogar eine Stimme: »Guten Tag, Fünfer. Bist aufgewacht?«

Ich sah den Rufer nicht, antwortete: »Ja, fast,« wobei ich bemerkte, daß meine Stimme ihren Klang verloren hatte, und daß die aufgerichtete Lage mich schon müde machte. Ich streckte mich wieder hin. Nach einiger Zeit legte sich eine warme Hand auf die meine; es war der Stabsarzt, der mir den Puls fühlte, die Zunge beschaute, die feuchte Stirn betastete und zu dem Krankenwärter sagte, er möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen. Das Fieber sei im Abzug, und für morgen sei das Material zur Erneuerung des Verbands zu besorgen.

Denselben Abend sah ich einen andern Mann vor meinem Bett sitzen, der meine Hände mit den seinen zusammenlegte. Ich meinte, es sei eine von den vielen Gestalten, die ich im Fieber gesehen hatte, glaubte ihn aber beten zu hören, und als er gegangen war, lag ein kleines Buch auf meinem Bett, ein Neues Testament. Ich habe es aus dem Lazarett hinausgetragen und in der Welt umhergetragen und habe es bis heute in Ehren gehalten. An diesem Abend war es zu spät, darin zu lesen, doch gewährte mir schon das, daß ich es in der Hand hielt, eine eigentümliche Befriedigung; es war mir, wie wenn aus dem kleinen Buch eine Hoffnung in mich übergegangen sei, die diese Stunde unmittelbar an die ersten schönen Stunden des Morgens knüpfte, wo ich mit dem Händedruck des Hauptmanns von Les Versoix weg und in den Sonnenmorgen hineingefahren war, und vergaß, wie mich damals der Frost durchschnitten und starr gemacht hatte, und wie schlecht ich zuerst im Lazarett ausgenommen worden war.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, ich sei als gläubiger Christ in den Krieg gezogen, war vielmehr, wie meine ganze Generation, vom Zweifel gründlich angesteckt. Aber schon beim ersten Feldgottesdienst hatte ich erfahren, daß wenn vieles im Kriege zum Fluch wird, vieles auch die Hände zum Gebet zusammenzwingt. Wieviele Gebetsstimmungen in stillen Nächten, an friedlichen Abenden, die laute Kämpfe beschließen! Hätte doch das gewöhnliche Friedensleben soviel davon. Man muß es erfahren, wie eine andächtige Stimmung unser ganzes Dasein und unsre Mitwelt in eine reinere Sphäre weit über Blut und Rauch hinaushebt, und wie in großer einfacher Stille einer Sternennacht Kleines und Störendes verschwindet.

Heute senkte sich diese Stimmung über mich wie das Abendrot dieser Tage voll verzehrender innerer Hitze, freundlich klangen deren wilde Phantasien in die goldne Stimmung dieses Abends aus. Den nächsten Morgen, nach dem ersten tiefen erquickenden Schlaf, Abnahme und Erneuerung des Verbandes, wobei der Generalarzt, der zugegen war, mir die Frage vorlegte, ob ich das schöne Loch in der Ohrmuschel behalten wollte, um künftig eine Zigarre darin zu tragen, oder ob das Ohr an den Kopf angeheilt werden sollte? Ohr für Nichtraucher wäre mir lieber. Gut; aber den Kopfschuß, der den Processus mastoideus glatt mitgenommen hat, wollen wir sehr sorgfältig behandeln, denn da ist nur noch ein kartendickes Knochenblatt zwischen der Luft und dem Gehirn. Ein Millimeter tiefer, und Sie lägen jetzt wo anders.

Wieviel Schmerz, Sehnsucht, Enttäuschung bis zur Verzweiflung, aber auch Hoffnung bis zur kühnsten Illusion lebt und strebt zusammen, wühlt und bohrt in einem solchen Lazarettsaal! Aber so wie, rein körperlich und äußerlich genommen, wenig von dem allen sich laut Luft macht, sodaß eine gewisse gedrückte Stille, in der jedes laute Wort aus Furcht, hier doppelt laut zu klingen, zum Flüstern wird, für gewöhnlich über dem Krankensaale liegt: so ist auch in den Seelen dieser vielen Kranken mehr Ergebung, als der vermuten möchte, der ihre Leiden kennt oder ihre Wunden sieht. Es ist ein Bild des Lebens und eine Lehre fürs Leben, wie jeder Einzelne das Beste aus seiner Lage, auch aus dieser Lage, zu ziehn sucht. Man begreift nun erst, daß der Mensch leben will, was es auch koste, und in welche Zukunft hinein auch immer sein Leben gerichtet sei. Das Leben des Menschen ist eine von den Pflanzen der Flora subterranea, die auch in den dunkeln Kellern und Bergwerksschächten so gut wie im goldnen Sonnenlicht gedeiht; aber aus dem Licht wie aus der Dunkelheit treibt und rankt es nach oben, nirgends wächst es zur Wurzel zurück; und wenn seine Blüten so klein und unscheinbar sind, daß man sie kaum sieht, und seine Früchte nie zur Reife kommen zu wollen scheinen: es knospen die Blüten und reifen die Früchte, und die Hoffnung sorgt, daß es nie aufhöre. Hier haben sie sich mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt, manche sogar mit dem Leben abgeschlossen. Die Zeit heilt! Welcher Gegensatz zu dem Stöhnen, Seufzen und den Jammerrufen derer, die der Tod auf dem Schlachtfeld überrascht oder hart gestreift hat. Auch das Schrecklichste der Schlachtfelder und der Feldlazarette, die verzerrte und verkrümmte Lage, in denen der Körper mitten im Kampf mit der entfliehenden Seele plötzlich erstarrt zu sein scheint, gibt es hier nicht. Auch wiegt in der Farbe der Gesichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlosen, zu lange der frischen Luft entzognen Lebens über die bläulichen und schwärzlichen Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um die Augen, die schwärzlichen Lippen, der fahlblau stiere Blick sind selten; auch das gedunsene Bläulichrot manches dem Tode verfallnen Antlitzes sieht man glücklicherweise nicht oft. Aus den lebendigen Augen der Kranken, die einander still fragend ansehen, strahlen, so trüb sie manchmal blicken mögen, eine Lebenshoffnung und Lebenslust in die gedrückte Luft der Säle eines Lazaretts aus, und nur wie ein letztes Wetterleuchten des Aufbäumens gegen das Schicksal zuckt es schmerzlich um manchen Mund.

Dieses Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des Verkehrs, beherbergt schwer und leicht Verwundete, Genesende und auch einige Aufgegebne; die einen sind da, weil es sich nicht lohnt, sie weiter zu befördern, die andern, um auf Weitersendung in die größern Krankenhäuser weiter rückwärts zu warten. Es ist ein Zufall, daß in unserm Saale keine Franzosen sind, aber von Deutschen sind alle Stämme und alle Waffengattungen vertreten, und die Altersstufen heben sich von einem weißhaarigen schleswig-holsteinischen Marketender bis zu dem achtzehnjährigen Schüler einer Unteroffizierschule ab, der den linken Arm verloren hat. Es ist eine furchtbare Summe von Sorgen und Schmerzen, die hier versammelt ist. Wenige werden den äußern Frieden, der über dem Ganzen liegt, mit sich, in sich tragen, wenn sie dieses Haus verlassen. Für die meisten wird es ein stiller Durchgangspunkt zwischen zwei Stürmen gewesen sein; sie ahnen das wohl und dämmern diese Pause so hin. Für die Fieberkranken ist es anders. Die unter den schwersten Formen litten, lagen nicht in demselben Saal, Aber bei meinem Nachbar zur Rechten entwickelte sich das dumpfe Brüten und Schlummern in unsäglicher Müdigkeit zu einem regelrechten Typhus, dessen Fieberhitze ihn Nachts aus dem Bett und auf die Gänge hinaustrieb, sodaß wir ihn oft mit Gewalt zurückführen und ins Bett bringen mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben seinem Bette auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken ging in fast beständiger Bewußtlosigkeit glücklicherweise dem Tode entgegen; ihm hatte ein Schuß quer durchs Gesicht beide Augen und das obere Stück des Nasenbeins glatt herausgerissen. Ich übte mich im Anschauen einer der grauenhaftesten Wunden, indem ich mehrmals am Tage bei seinem Verbande half.

Daß beide Nachbarn meiner Hilfe so nötig bedurften, übte einen sehr günstigen Einfluß auf mein eignes Befinden, denn nachdem die ersten Fiebertaumel vorüber waren, stand ich so oft wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen kleine Dienste zu leisten, und gewöhnte mich sehr bald daran, von früh bis spät tätig zu sein. Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im Gesicht war wohl auch im gesunden Zustand kein Adonis gewesen, darauf ließen seine Knollennase und seine entsprechend aufgeworfnen Lippen schließen; ich konnte mir den kleinen, breiten Füsilier auch nicht als Heldengestalt vorstellen. Wenn ich mich nun mit jedem Tage mehr an diesen stummen Gast anschloß und mich innig freute, daß er meine Hand nicht mehr loslassen wollte, wenn ich ihm Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß, darüber nachzudenken, daß es nicht bloß eine Ästhetik des Häßlichen, sondern auch eine Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die sich gleichsam herausringt und sich über abstoßende Züge lagert.

Eines Morgens sehr früh trug man diesen Armen hinaus, der still hinübergeschlummert war, wie er dagelegen hatte; das einzige, was ich von ihm noch vernommen hatte, war das Ächzen seines Bettes, als er sich sterbend ausstreckte. Mein Nachbar zur Linken war in den Zustand unsäglicher Müdigkeit zurückverfallen, in den ein schwerer Typhus ausläuft, und brauchte so sorgsame Pflege, daß er in einen besondern Saal umquartiert wurde, wo barmherzige Schwestern der schweren Aufgabe der Wartung fast unbeweglicher Rekonvaleszenten oblagen. Die beiden leeren Betten wurden von einem ostpreußischen Jäger und einem bayrischen Pionier besetzt; der erste war infolge eines Säbelhiebes in den Hals einseitig gelähmt gewesen und war nun nach Monaten soweit genesen, daß er bald zu seiner Truppe zurückkehren konnte; der andre, ein blonder, schwerfällig gutmütiger Ostfranke, war durch eine Pulverexplosion der Hälfte seiner Kopfschwarte verlustig gegangen, wodurch ihm eine lächerliche, einseitige Glatze, umgeben von einem Kranze weißer Härchen, auf seinem blondgelockten Langschädel entstanden war. Der Ostpreuße war das reine Quecksilber und von der Manie des Theaterspielens in solchem Grade besessen, daß er des Abends, wenn die Lichter vorschriftsmäßig gelöscht waren, aus dem Bette aufstand und unter Monologen auf und ab wanderte, wobei er vor dem Bette von denen Halt machte, denen er zutraute, daß sie seine Kunst würdigten. Wie oft habe ich den Ritter Baudricourt von Vaucouleurs und Wallensteins düstre Reden von ihm schnarren und gröhlen hören!

Der fränkische Pionier war vom ersten Tag an beliebt im ganzen Saale, freundlich und hilfreich gegen jeden, dabei aber von einer so komischen Verehrungssucht befallen, daß er sogar für »den letzten Trainsoldat« komisch wurde. Von Offizieren, angefangen vom portepeetragenden Vizefeldwebel, sprach er in einem ganz andern Ton als von der ganzen übrigen Welt, und zwischen einem Korpskommandanten und dem lieben Herrgott war in seinem Urteil kaum ein merklicher Unterschied. War gar von Fürstlichkeiten die Rede, so legte sich sein ganzes Gesicht in tiefe Falten, verlängerte sich, die Augenlider sanken herab, und seine jungen Härchen schienen sich rings um die Glatze ehrfurchtsvoll zu erheben. Ein badischer Unteroffizier, der nach ihm verwundet hereinkam, fühlte sich allein, als Mann der Autorität, eng mit ihm verwandt und nahm ihn in Schutz, wenn seine Fürstenverehrung durch Erzählungen von angeblichen Begegnungen mit Hoheiten und Durchlauchten künstlich wachgerufen und verspottet werden wollte. In dem Mann steckt so viel Disziplin, daß man aus euch allen gute Soldaten damit machen könnte ... nein, verbesserte er sich, als ihm unwillige Proteste und Ho! und Holla! entgegenklangen, daß man die ganze französische Armee damit impfen könnte.

Es war jetzt Dezember geworden, und der frühe Winter angebrochen, der den Soldaten beider Seiten namenlose Strapazen auferlegt, den deutschen Feldherren aber sicherlich ganz wesentlichen Vorteil gebracht hat. Die Sehnsucht, hinauszukommen, wurde etwas gemildert durch das Behagen, mit dem man vom warmen Zimmer aus die Schneeflocken wirbeln und die kalten Stürme brausen hörte. Der Aufenthalt in diesem Siechenheim hatte zuzeiten sogar etwas Anheimelndes. Des Morgens, wenn der große schäumende Kessel Liebeskakao in die halbkugligen, zweiohrigen Tassen ausgeschenkt und die langen, knusprigen französischen Brote zerbrochen und ausgeteilt waren, und wenn dann alle, die das Bett nicht verlassen durften, mit Arznei versehen oder verbunden waren, setzten wir »Mobile« uns um den eisernen Ofen, starrten in die Glut und erzählten uns vom Regiment, von Haus und Heimat und besonders von unsern Hoffnungen auf baldige Evakuation und Rückkehr, sei es zu der Truppe, sei es nach dem Ende des Kriegs in die Heimat. Es war eine bunte Gesellschaft; der trug seine Uniform, der einen Lazarettmantel, der den abgeschossenen Sommerrock eines schleswig-holsteinischen Marketenders, der im Lazarett gestorben war: eine gelbe Joppe mit einem wunderschönen grünen schrägen Streifen über die Brust, der von dem Bande der Provianttasche des Marketenders herrührte, das diesen Teil vor den Sonnenstrahlen geschützt hatte; der ging an Krücken, der am Stock, ein dritter trug den Arm in der Schlinge, ich selbst hatte den Kopf noch mit Binden und Watte bis zur Größe eines beträchtlichen Kürbisses umwunden. Mütze und Uniform hatte ich schon am dritten Tage wieder angelegt, nachdem die auffallend glänzenden steifen Blutflecke mit warmem Wasser erweicht und etwas weggesäubert waren.

Man hätte glauben sollen, in diesem Kreise habe der Krieg mit seinen Wechselfällen das Tagesgespräch abgegeben. Das war aber nicht so. Der Einzelne sprach von dem, was er erlebt und getan hatte, von seinem Nebenmanne und von seinen Kameraden, mit besondrer Vorliebe von seinen Offizieren; über das Bataillon ragte sein Gesichtskreis meist gar nicht hinaus. In das Lazarett kamen nur alte Zeitungen und neue Gerüchte, und da sich die Gerüchte in der Regel als unwahr erwiesen, besonders wenn sie von den Bäckerjungen, Wäscherinnen und andern Organen der öffentlichen Meinung der Stadt stammten, machte man kein großes Wesen davon. Nur die Ängstlichen hörten immer wieder mit Teilnahme zu. Übrigens war es ganz gut so. Es war zwischen der Einnahme von Metz und den großen Schlachten an der Loire und der Somme eine dürftige Zeit, zwischen zwei großen Epochen des Kriegs; das neue Große, das endlich mit dem Fall von Paris abschloß, war erst in der Vorbereitung. Uns kam das wie Stockung, den Franzosen wie Ermattung und Rückgang vor. Von dem, was in unsrer Nähe vorging, wußten wir gar nichts, als was Verwundete und Kranke berichteten, die ins Lazarett gebracht wurden. Da hörte man immer nur von kleinen Vorpostengefechten, von einzelnen Zügen ins Land hinein, von Zusammenstößen, bei denen in der Regel nicht einmal die Kanonen mitsprachen. So etwas hatten wir selbst alle genug mitgemacht. Ein Musketier vom dreißigsten Regiment, seines Zeichens Bergmann aus der Saargegend, mit dem ich mich oft vor der Ofenglut über allgemeine Dinge unterhielt – Bergleute grübeln gern, fahren gern in dunkle Gedankenschachte oder -stollen ein –, sagte einmal ganz treffend: Ich würde alles drum geben, wenn ich einmal einen Bergmann träfe, mit dem ich von Kohlen und Eisenerz oder vielleicht gar von Neunkirchen oder Saarbrücken sprechen könnte; dagegen das Soldatengeschwätz ist mir schon ganz zuwider. Wir sind eben doch alle hauptsächlich friedliche Arbeitsmenschen, der dies und jener das, die Uniform sitzt uns nicht auf der Haut, sondern das Hemd. Ähnlich dachten wohl viele. Auch solchen, die nichts von Kriegsmüdigkeit äußerten, merkte man es an, daß der rechte Soldatengeist nur in ununterbrochnem Kontakt des Einzelnen mit Vorgesetzten und Kameraden gedeiht; er ist kein Erzeugnis einsamen Nachdenkens, sondern gemeinsamen Handelns und Leidens einer straff organisierten Masse, in der jeder seinen Platz und seine Pflicht kennt. Vereinzelung und Trägheit lockern ihn unfehlbar. Ich habe mir später oft Gedanken darüber gemacht, wie weit solche Erfahrungen auf das friedliche Leben der Völker Anwendung finden können; ohne mich als Staatsweisen aufspielen zu wollen, wage ich die Behauptung, daß sich viele Völker unter despotischer Regierung, die jedem seinen Platz und seine Pflicht gegeben hatte, glücklich fühlten, auch wenn sie es aus falschem Stolz auf Freiheit nicht Wort haben wollten.

 

2. Ars moriendi

Wie leicht ist doch der Tod! Was uns von ihm trennt, sind nur eingebildete Hindernisse. Kein Gebirge, keine Mauer erhebt sich zwischen ihm und uns, es geht ganz eben in das große dunkle Tor hinein. Tränen können den Weg schwerer machen; wir wissen ja aber, wie bald sie trocknen, und wie groß die Erleichterung des Herzens ist, das sich ausgeweint hat. Die Hauptsache ist, daß wir einmal mit uns selbst einig geworden sind, dem Gang der Dinge ruhig zu folgen. Je mehr wir uns an den Tod gewöhnen, desto kleiner werden die Schranken der Ewigkeit. Wer den Tod nicht gesehen hat und eben deswegen den Tod fürchtet, dem ist das Jenseits mit einer ungeheuer großen Tür verschlossen, die über und über mit schweren schwarzen Platten verschlagen ist; sein Blick prallt erschrocken zurück. Wer den Tod oft gesehen hat und vertraut mit ihm geworden ist, für den gibt es höchstens noch einen blühenden Hag zwischen hier und dort; sein Blick schweift hinüber und nimmt dort noch schönere Dinge wahr als hier, und er muß sich halten, daß es ihn nicht mit Macht aus dem Leben hinauszieht. Es ist eine häßliche Sache, die Abneigung des gewöhnlichen Lebens auch schon gegen das Reden vom Tod, kurzsichtig wie alle Feigheit; denn im Grunde wird das Leben nur um so schöner, je todbereiter es ist. Will man vielleicht nur nicht daran erinnert sein, daß den Vorhang jeden Augenblick heruntergehn könnte? Oder ist es eine schlaue Berechnung, die um keinen Preis das Leben entwertet sehen möchte, das doch für den Philister das Wertvollste von allem ist?

Ich freue mich nach diesen vielen Jahren noch, daß wir Rekonvaleszenten im Krankenhause der Barmherzigen Schwestern zu Nancy in der Behandlung der Todesfrage eine echte Philosophenschule waren. Fast alle, die da versammelt waren, hatten dem Tode oft ins Auge geschaut, hatten so viele sterben sehen. Sterbende lagen rings um uns jeden Tag. Wie hätten wir es ablehnen mögen, vom Tode zu sprechen? Außerdem waren auch echte Christen unter uns, die aus religiösen Gründen das feige Haften am Leben nicht kannten, das bei mehr Menschen, als man glauben mag, Ursache und Folge des Fernbleibens von der Kirche ist. Dazu gehörte auch die blasse Schwester Eulalie, deren dunkle Augen tiefer und größer wurden, wenn von dem letzten Augenblick Sterbender die Rede war; sie hätte davon erzählen können, doch zog sie vor, an eine Bettkante gelehnt still zuzuhören, das einzige mal des Tages, wo die immer Heitere ihr Werk unterbrach.

Gefreiter, was heißt denn das moribund, das die Ärzte auf die Täfelchen schreiben, die sie auf den Schlachtfeldern den Schwerverwundeten anhängen?

Das bedeutet zum Sterben bestimmt. Wenn ein Arzt einem so ein Täfelchen anhängt, lassen ihn die Krankenträger in der Regel liegen; der stirbt dann bald.

Angenehm, wenn einer das liest, den es betrifft.

Das wird wohl selten vorkommen.

Nun, ich habe es doch erlebt, daß wir in Gravelotte einen achten Jäger, einen rheinischen, aufheben wollten, der noch Lebenszeichen gab; der winkte mit seiner letzten Kraft ab und sagte leise: Danke, moribund.

Der ist also gern gestorben.

Ja, so schien es. In dieser Lage! Als unser Rückweg uns bei ihm vorbeiführte, lag er genau so, wie wir ihn verlassen hatten, muß innerlich verblutet gewesen sein; er sah nicht anders aus wie ein blasser Kranker; als wir ihm die Augen zudrückten, schien er zu schlafen. Die Wunde hatte er im Genick.

Eigentlich keine schöne Wunde. Aber damals wirbelten die Kugeln nur so herum; in den Bäumen vor der Ferme Hubert, unter denen wir zuletzt lagen, wars manchmal nicht anders wie Vogelgezwitscher. Da konnte einer auch im Genick verwundet werden. Schuß vom Rücken in den Magen ist auch nicht gut, und es gibt noch schlimmere.

Ganz richtig. Ich sage: je weiter herunter, desto schlimmer. Was sagt ihr zu einem Schuß in die Ferse, an dem ein Dragoner, Landsmann von mir, gestorben ist?

Ich habe aber vom Feldzug von 1866 erzählen hören, da ist ein Sergeant unsers Regiments an einer Zerquetschung einer einzigen Zehe gestorben. Und wie hatte er die abgekriegt? Ein Fahrkanonier, dessen Handpferd stürzte, hatte ihm beim Abspringen mit solcher Gewalt darauf getreten, daß die Zehe nur noch ein Brei war; dann schwarzer Brand und Tod.

Das ist freilich Pech.

Sollte mich noch eine Kugel treffen, wenn ich wieder bei der Kompagnie bin, dann möchte ich sie gerade so von vorn haben wie die letzte: Kopf, Brust, Oberarm, das sind die Teile, wo eigentlich Wunden sitzen müssen, dann ist der Mensch richtig gezeichnet, alle andern kommen mir wie neben hinausgegangen vor.

Höre, Badischer, versündige dich nicht.

Kein Gedanke, ich meine eben auch, die Kugeln fliegen nicht so zufällig in der Luft herum, jede hat ihren gewiesenen Weg, wie alles im Leben.

Nun, das sind so Ideen.

Übrigens, fing jetzt ein Dreißiger von der Saar an, was ihr vorhin vom Sterben gesagt habt: es ist keine besondre Kunst, so gleichmütig zu sterben, wenn man nur ein gehöriges Quantum Blut verloren hat. Je weniger Blut, je weniger Lebenslust, sie verraucht mit dem warmen Blut, wie es herausfließt. Indessen gibt es auch sonst, meine ich, noch manche, die willig sterben.

Ja, glücklicherweise gibt es sie immer. Es gibt welche, die gern in den Krieg gegangen sind, weil sie sich sonst ohnehin eine Kugel in den Kopf gejagt hätten; so können sie es nun ehrlicher haben. So mancher arme Kerl kriegt Briefe, die ihm die Lust verleiden, nach Hause zurückzukommen, ungetreuer Schatz, ruinierte Existenz und dergleichen.

Immerhin Ausnahmsmenschen, meinte der Theolog. Jeder will leben, auch verstümmelt will er weiter leben, die Natur hat es so in den Menschen gelegt. Und doch: was ist unsichrer als Lust und Leben, und was kann gewisser sein als Not und Tod? Der Mensch sei auf das gefaßt, was ihm bestimmt ist, und vor allem der Soldat sei von denen, die ihr Leben nicht lieb haben bis in den Tod. Er soll bereit sein, es jeden Augenblick freudig hinzugeben. Das kann aus Pflichtgefühl geschehn, wie es uns gelehrt wird; es ist aber schöner, und es gelingt ihm vielleicht besser, wenn er seinem lebensfrohen Herzen zusprechen kann:

O Herz, o Herz, verzage nicht,
Aus Nacht, aus Nacht der Morgen bricht!

Das Sterben ist jedenfalls an und für sich nicht schwierig. Die meisten, die hier gestorben sind, sind wie in einer schönen Müdigkeit hinübergeschlafen. Müde zum Sterben, müde bis in den Tod, was man so sagt, ist etwas ganz andres als die Erschöpfung des Aufgeregten, Sorgenvollen, dem kein Schlaf mehr naht; diese hat den leeren Blick, das Trostlose und das Hoffnungslose in den Augen, die zwar eingefallen sind, aber immer noch leuchten. Die Augen des in den Tod hineindämmernden schauen oft groß und voll Ergebung aus friedvollem Gesicht, öfter sind sie verschleiert; ihr Blick trübt sich langsam, sie sehen nichts bestimmtes mehr, sind der Welt der sichtbaren Dinge schon abgewandt; vielleicht sieht die Seele schon innen mehr, oder es dämmert ihr innerlich zum Tag hin, während auf die Augen der Schatten sinkt. So sterben die meisten todmüde, sie wollen nichts mehr von der Welt wissen, lange ehe der erste kühle Hauch des niederschwebenden Todes sie berührt hat. Bei Verwundeten habe ich Todesangst nur entstehn sehen, wenn das Blut keinen Ausweg hat; beim Ausfließen des Bluts kehrt Ruhe und Heiterkeit ein. So ruhig sterbende sollte man nicht mit Fragen stören. Man sieht dann in dem verglasten Auge noch einen Willen, sich zu erinnern, festzuhalten; aber dieser Blick irrt ab, zerfließt ins Weite. »Laßt mich doch ruhig sterben!« scheint er zu sagen.

Was hast du gedacht, Gefreiter, als du den Bahndamm hinunterrolltest?

Davon weiß ich nichts. Meine letzte Erinnerung war der Ton einer großen Glocke, an die jemand in meinem Kopfe schlug; das war der Riß im Trommelfell. Wenn ich nachdenke, verbindet sich dieser Ton mit dem grellen Licht des Gewehrs, das mir gerade ins Gesicht hineingeschossen wurde. Aber es ist möglich, daß ich mir das nur so hinzudenke. Dagegen ist mir ganz deutlich, daß mein erster Gedanke beim Aufwachen aus der Ohnmacht das Bedauern über den Schmerz meiner Mutter war. Merkwürdigerweise bedauerte ich gar nicht, daß ich sie nicht wieder sehen würde; und doch glaubte ich in diesem Augenblick mit einem Schritt im Jenseits zu stehn.

Das stimmt, sagte der bayrische Unteroffizier. Bei Kissingen erhielt mein Junker, der den Zug führte, einen matten Granatsplitter, der ihm aber immerhin noch einige Rippen eindrückte, und er erzählte, sein letzter Gedanke sei gewesen: Du wirst deine Eltern nicht mehr sehen! Und von einem, der fast ertrunken wäre, habe ich gehört, er habe sich zuletzt im Sarg liegen und seine Eltern davor betend knien sehen.

Man erzählt, daß manche Menschen sogar ihr ganzes Leben in den paar Sekunden haben vorüberziehn sehen, in denen sie von einem Berg stürzten oder am Ertrinken waren. Sie beschreiben es wie ein ungeheuer rasches und langes Defilieren der verschiedensten Eindrücke, bedeutender und unbedeutender, und wenn sie aus der Todesnot erwachen, hat die ganze Vorstellung nur Sekunden, höchstens eine Minute gedauert. Einige erzählen auch von dem Aufeinanderfolgen ganz bestimmter, voneinander gesonderter Bilder einzelner Szenen aus ihrem Leben. Ein württembergischer Unteroffizier war am Abend des 6. August bei Niederbronn von einer Kugel, er wußte nicht woher, in die Schulter getroffen worden; er glaubte sogar, es sei eine verirrte deutsche Kugel gewesen; sie ging durch. Er hätte sich verblutet, wenn er nicht zufällig vor der Nacht aufgehoben worden wäre. Wie er nun so dalag und nur noch das Rollen der den fliehenden Franzosen nachsetzenden Geschütze, das Pferdegetrappel und den Eilmarsch der Kolonnen hörte, aber nicht wie vom Boden, sondern als aus der Luft kommend, fühlte er sich plötzlich ganz verwandelt und wie in eine andre Welt entrückt. Eben hatte er noch mit Bedauern gedacht: Das Leben geht dahin, du wirst gleich tot sein, da sieht er in einem lichten Raum, der sich ungeheuer weit auftut, alle Menschen vor sich, die er jemals gekannt hatte, und zwar fast genau so, wie sie in sein Leben eingetreten waren oder es gestreift hatten; alle tun das, was er sie einmal hatte tun sehen, Ehepaare und Kinder stehn nebeneinander, der Lehrer unterrichtet, der Geistliche segnet ein, und unser Halbtoter sieht sich selbst in der Kirche und in der Schule. Es fehlt auch nicht an bekannten Landschaften, Häusern, Tieren. Gäste sieht er im Wirtshaus Most trinken. Alles schaut ihn so freundlich, so glücklich an, er hat das Gefühl, als winkten sie ihn mit den freundlichen Augen zu sich hin, und den Tod hat er vergessen, wollte nur noch gern sein, wo es so hell und schön, und wo alles Vergangne und Vergängliche so gegenwärtig und so frisch war. Er beschrieb die Schärfe und die Deutlichkeit dieser unzähligen Bilder in Linien und Farben als etwas ganz außerordentliches. Als er sich aber ergriffen, getragen und aufgeweckt fühlte, ohne sich doch dem Schlummer ganz entreißen zu können, schmerzte es ihn, daß das Tor in die Ewigkeit zuging, durch das er diesen schönen Blick gewonnen hatte. Nur eine Erinnerung aus der Wirklichkeit habe er später damit vergleichen mögen, nämlich den Blick in die hellerleuchteten Weihnachtsstuben mit dem brennenden Christbaum in seiner Kindheit.

Es wurde an diesem Abend noch von manchen Todesarten gesprochen, auch von weniger milden. Der Lazarettgehilfe, der still, vielleicht bei manchen Erzählungen zweifelnd, zugehört hatte, schilderte das ächzende, heisere Gepfeife der Luft, die durch durchbohrte Lungenflügel zieht, für das Leben verwüstend wie ein Sturm, an dessen Stimme dieser unheimliche Laut erinnert, und erzählte, wie ein Hauptmann in der Tobsucht gestorben sei, weil man ihm den Spiegel verweigert habe, in dem er sein blatternzerfetztes Gesicht betrachten wollte. Der Theologe aber, sein freiwilliger Gehilfe, kam noch einmal auf Erlebnisse zurück, die beweisen, daß die Nähe des Todes gewaltige und plötzliche Veränderungen in einer Seele hervorbringt, die den Tod kommen sieht. Es ist, sagte er, wie ein plötzliches Losgerissenwerden von der Klippe, an der sie bisher gehangen hatte, und ein Hinaufgetragenwerden oder Hinabgerissenwerden mit den Wellen und in den Wellen, ehe sie in die Tiefe geht. Geisteskranke, die seit Jahren die Gegenwart nicht erkannt und das Vergangne vollständig vergessen hatten, erwachen einen Tag, zwei Tage vor ihrem Tode zum vollen Bewußtsein, bedauern Fehler, die sie im Zustande der Krankheit begangen haben, beklagen die verlornen Jahre, bereiten sich in voller Geistesklarheit auf den Tod vor. Man hat solche Leute sagen hören: Ich werde gesund, um mich zum Sterben vorzubereiten. Geistliche haben Beichten von einer wunderbar klaren Erinnerung und einer tiefen Selbsterkenntnis von Sterbenden empfangen, die vorher nicht imstande gewesen waren, eine Gedankenkette zu flechten. Die Fiebernden, die tagelang, vielleicht wochenlang phantasiert hatten, in vielen Fällen laut und störend, ja gewalttätig, sah man vor ihrem letzten Augenblick zu sich kommen und bei klarem Bewußtsein ruhig sterben. Wo bin ich denn bisher gewesen? Welche dunkeln Wolken umdräuten mich, aus denen ich keinen Ausweg fand? Nun ist es auf einmal hell, und dieses Licht ist so mild, so wohltuend, flüstert wohl einer von ihnen, und ein paar Augenblicke darauf geht er friedlich aus dem Leben. Mit den Verwundeten ist es ja anders, bei ihnen, wenn sie draußen auf dem Felde liegen und sich nicht regen und nicht rufen können, geht das Leben langsam in einen Traum über, dem nicht selten der lange Schlaf bald folgt. Wenn sie aber wieder erwachen und ihre Gedanken erzählen, wundert man sich, auf was für Ideen der Mensch nicht kommt, der mit dem Blut sein Leben so langsam hinströmen fühlt, und seine Glieder sind wie gelähmt, er kann den Strom nicht stillen. Halb mag er es nicht, denn es wird immer dämmriger, traumhafter um ihn her, und diesen Zustand will er festhalten. So lange sein Bewußtsein noch klar ist, schließt er den Mund, atmet so leise wie möglich, bemüht sich, nichts zu denken, damit nicht der Körper an Kraft verliere. Es gelingt ihm vielleicht, die Gedanken von den fernen Dingen abzuwenden; in der Ferne mag es wohl manches geben, woran er nun gerade nicht denken will. Aber nun berührt vielleicht Blut seine Lippen, und an dessen laue Süßigkeit knüpft sich sofort eine Reihe sonderbarer Gedanken. Nie ist mir aufgefallen, daß das Blut so süß ist. Wie fade schmeckt der Lebenssaft. Das ist gar kein Lebenssaft, das Leben ist ebensowenig darin, wie es in dem Öl ist, ohne das die Maschine stille steht. Das Leben steht der Beurteilung durch unsre Sinne zu hoch, und nun erst durch den Geschmackssinn. Da verliert sich der Gedankenfaden. Eine rote Welle verschlingt ihn, und auf diese folgt eine zweite rote Welle; schön spiegelt sich die Sonne in dem Purpurglanz der feuchten Wölbungen. Schade nur, daß der Schaum dieser Brandung an Blutschaum erinnert. Ist nun das nicht wie eine Uhr? Wie Welle die Welle treibt, treibt Stunde die Stunde, und sie wandeln an mir hin und hinab; und das ist mein Leben.

Zwei Dinge, die dem Tode folgen, sollten nicht sein, begann der Lazarettgehilfe wieder, der Starrkrampf und die gebrochnen Augen, sie sind der Schrecken der Schlachtfelder. Ist es nicht wie ein grausames Spiel der Natur mit dem Menschen, daß sie ihn bei gewissen Verwundungen so hinbannt, wie er gerade sich bewegte, als ihn die Kugel traf. Wer einen Schuß in einen bestimmten Teil des Gehirns bekommt, bleibt halbstehend oder kniend, mit erhobnem Arm, der noch den Säbel oder das Gewehr hält: das grausige Gegenteil des Todesschlafs, von dem ihr sprecht. Und was die Augen angeht, so suchst du in dem friedlichsten Gesicht, das vielleicht freundlicher lächelt als jemals im Leben, manchmal sogar spöttisch oder verschmitzt zu lächeln scheint, vergebens das Licht und die Sprache der Augen; du findest nur zwei trübe blaugraue Bälle, in denen keine Seele mehr wohnt, in die kein Lichtstrahl mehr eingeht. Dieses Stieren ins Weite, so stumpf, so zwecklos, hat etwas unsäglich trauriges. Es ist so recht das Siegel des Todes. Tu jedem Gestorbnen den Gefallen und drücke ihm die Augen zu, dann erst kehrt der Schlaf ganz bei ihm ein, schloß der Theolog.

Wir sind jetzt beim Ende angekommen, das ist unzweifelhaft das Grab. Fast jeder Soldat findet sein Grab, wenn auch nicht jeder eins für sich. Soldaten passen nicht in stille, tatenlose Gräber, wo Leiche neben Leiche liegt, jede in ihrer besondern Grube, und keine etwas von der andern weiß; so wie sie im Gefecht und auf dem Marsche eine Masse bilden, mögen sie auch in einem Massengrab ruhn, auf die Gefahr hin, daß es am jüngsten Tag einige Verwechslung mit den Knochen gibt. Das abgebrochne Reis, das weggeworfne feindliche Faschinenmesser oder Bajonett, von einem Kameraden, der mitgeschaufelt hat, darauf gesteckt, sind die passenden Denkmäler für solche Gräber. Keine Umstände, kein Aufhebens! Freund und Feind, die beide ihre Pflicht erfüllt haben, indem sie ihr Leben ließen, mögen beieinander ruhn. Für die Eltern ist es schmerzlich, nicht am Grabe ihres Sohnes beten zu können, dafür werden künftige Geschlechter den Hügel ragen sehen, unter dem der Staub von Helden modert, und ein weitästiger Baum wird darüber rauschen und raunen.

 

3. Erzählung des Mobilgardisten

Eines Abends spät führte ein Lazarettdiener einen kleinen Franzosen in den Krankensaal, er hielt ihn an einem Zipfel des Ärmels, wie um anzudeuten, daß der Mann ein Gefangner sei. Er war in der Tat mit einem Gefangnentransport von Le Mans gekommen. Als ihm ein Zeichen gegeben wurde, daß er sich auf das letzte Bett neben der Tür niederlegen solle, das gewöhnlich wegen der Zugluft unbesetzt blieb, wankte er dahin, offenbar schwer fußkrank; er mochte vom Frost gelitten haben, und seine Füße waren durch Umwicklung mit Schaffell in unförmliche Klumpen verwandelt. Kaum nach einer Minute steckte er unter der Decke; heftiges Schütteln, wie es den vom Frost erstarrten und übermüdeten befällt, wenn er in Wärme und Ruhe kommt, warf den Armen auf und nieder. Als man ihm warmes Getränk anbot, machte er ein Zeichen, daß er ruhen, nur ruhen wollte, und schien mit der Zeit einzuschlafen. Am andern Morgen war er mit unter den Ersten munter, bat um Leinwand und wusch und wickelte seine Füße, die eine einzige Wunde waren. Obgleich ihm das Gehn schwer fiel, suchte er sich nützlich zu machen, trug Holz zum Ofen, beobachtete umsichtig das Kochen des Wassers und legte sich erst zu Bett, als ihn der Lazarettdiener wieder am Ärmel dahin führte. Der Lazarettdiener, der nie Pulver gerochen hatte, war sehr beflissen, dem Franzosen zu zeigen, daß er Gefangner sei.

Der Arzt konstatierte, daß der Arme außer erfrornen Zehen, die vielleicht noch zu retten seien, an einer merkwürdigen Art von Aussatz leide, der von den Knöcheln am Schienbein hinauffraß; das Übel war nicht ganz selten, sollte angeblich nervöser Natur sein und wurde von einigen, die davon gehört hatten, als ein Rück- und Ausschlag ausgestandner Angst bezeichnet. Dem neuen Patienten wurde die zerlumpte und schmutzige Mischung von Moblotuniform und Zivilkleidern, in der er angekommen war, weggenommen und durch einen blaugestreiften baumwollnen Lazarettanzug ersetzt, in den er mit Behagen hineinschlüpfte. Diese Leute, die bei Vendôme und Le Mans gekämpft hatten, waren oft wochenlang nicht aus den Kleidern und Schuhen gekommen; die Schuhe legten sie tatsächlich manchmal nicht ab, bis sie ihnen in Fetzen von den Füßen fielen. Das geschah aber leider recht oft, denn das im Lager von Conlie gebildete sechzehnte Korps war ja noch mehr als andre das Opfer betrügerischer Lieferanten geworden, die es mit niedern Schuhen mit Pappdeckelsohlen und mit dünnen Mänteln aus sogenanntem Shoddytuch ausstatteten, das, wie sich einer der Moblots ausdrückte, Löcher bekam, wenn die Sonne darauf schien, und sich wie ein Schwamm mit Wasser füllte, wenn es regnete. Abgesehen davon, haben sich die angeblich so praktischen Franzosen klar gemacht, daß das systematische Biwakieren, das abhärtend wirken sollte, der Reinlichkeit des Körpers, der Kleider und der Waffen höchst unzuträglich ist? Wer die Gefangnen von Le Mans oder von Pontarlier gesehen hat, weiß, daß der Schmutz, an den sie sich gewöhnt hatten, eine der Ursachen ihrer Niederlagen geworden war, denn er überzog alles, sogar das Gewehr, begünstigte alle möglichen Krankheiten und drückte ihre Selbstachtung auf den Nullpunkt hinab.

Unser kleiner Franzose, der sich nach dem Verlust einer Zehe, die fast von selbst vom Fuße fiel, rasch erholte, durfte nun umhergehn. Da sah man so recht, wie glücklich er war, dem Kriege entronnen zu sein. Man brauchte nicht eben Physiognomiker zu sein, um ihm am Gesicht abzulesen, daß er keine Faser von Soldatennatur in sich hatte. Ein Kopf so rund wie eine Kegelkugel, glatt geschoren, ein Gesicht, das dazu bestimmt zu sein schien, unter günstigen Verhältnissen ebenso rund zu werden, rundliche Lippen, weit offne Augen mit herabsinkenden obern Augenlidern – kurz ein Kopf, den die Natur in einer heitern Laune aus lauter Kugel- und Kreisabschnitten zusammengesetzt zu haben schien. Und nichts im übrigen Bau des Körpers widersprach der Auffassung, daß der ganze Mensch, unter der Herrschaft eines Kugel- und Kreisstils ins Leben gerufen, bestimmt sei, auf der ebnen Bahn des von Urahnen ererbten Berufs durchs Dasein zu wallen. Und dieser leichten Bewegung lagen keine Hemmnisse auf seiten des Charakters im Wege; er hatte sich eine ungemein freundliche Manier in Fragen und Antworten, Bescheidenheit und Zuvorkommenheit im Tun jeder Art angeeignet, die seiner natürlichen Gutmütigkeit wohl zu Gesicht stand. Unsre Leute hielten ihn deswegen zuerst für dumm, aber seine Anstelligkeit belehrte sie bald eines Bessern. Des Morgens und des Abends las er in einem zerlesenen Gebetbüchlein kurze Gebete, und die barmherzige Schwester empfahl ihn uns als »guten, frommen Jungen.«

Seine Soldatenlaufbahn erzählte er mir in den Stunden, die wir zusammen vor dem Ofen des Krankensaals saßen, etwa folgendermaßen: Ihr seid Soldaten, und in eurer Mitte bin auch ich Soldat, weil ihr mich als solchen gelten laßt. In Wirklichkeit bin ich nichts weniger als das, war auch nicht Soldat, als man mich in Reih und Glied stellte. Ich wurde es eigentlich erst in dem Augenblick, wo wir uns in La Tuilerie verteidigt und verschossen hatten und später dann von euern Leuten gefangen genommen wurden. Da fühlte ich etwas von Liebe zur Waffe in mir, just da, wo sie mir genommen wurde. Im Grunde bin ich nur ein simpler Landmann und wäre es auch geblieben, wenn man mich nicht gezwungen hätte, in den Krieg zu ziehn. Ich bin wahrhaftig nicht von selbst gegangen. Eines Tages holte mich der Maire, der nicht mein Freund ist, aus meinem Schafstall – ich bin nämlich mit Leidenschaft Züchter – und sagte zu mir: Bring deine Sachen in Ordnung, in drei Tagen mußt du dich in Rennes stellen, du kommst zur Mobilgarde. – Ich war wie vom Donner gerührt. Ich soll Mobilgardist werden? Maire, du scherzest, das ist ja unmöglich, es ist lächerlich. – Nicht im geringsten. Du weißt doch, daß alle gerufen werden, die die Flinte tragen können? – Ja, ich habe so etwas gehört. Aber ein Soldat muß Mut haben, Maire, und ich habe nicht eine Spur davon. Ich sage das dir und werde es jedem sagen, der es hören will: beim ersten Schuß werfe ich mein Gewehr weg und laufe, was ich kann. Ich bin aus einer ganz unmilitärischen Familie, mein Vater und mein Großvater waren Hammelzüchter. wie ich es bin; macht das nicht zum Kriegsdienst untauglich? – Mein lieber Mathieu, reden hilft hier nichts. Wir wissen genau, daß du weder dein Gewehr wegwerfen noch weglaufen wirst. – Ich schweige von den drei Tagen vor dem Abmarsch. Drei Tage darauf gingen wir nach Rennes, zehn meiner Nachbarn, die dasselbe Los getroffen hatte, nahmen denselben Weg, einige von Weibern, Kindern und Verwandten begleitet; es war eine traurige Karawane; kein einziger ging gern. An der großen Straße angekommen, sagten die Männer: Es taugt nichts, daß wir mit Weib und Kind in Rennes einziehn, senden wir sie zurück, sie müssen lernen ohne uns auszukommen, wer weiß, wer von uns zurückkehrt? – Da wir nun allein waren, hob sich die Stimmung, wir teilten einander aus der Feldflasche mit, und einige begannen zu rauchen, andre zu singen. Einer sagte: Mir ahnt so etwas, als ob wir bald zurückkehrten. Uns fällt es so schwer, nach Rennes zu gehn, und das sind doch nur 25 Kilometer, nun bedenke, die Prussiens sind hundertmal so weit hergekommen und sollten nicht die erste Gelegenheit ergreifen, nach Haus zurückzukehren? – Wir hörten das gern, glaubten es aber nicht. Ich dachte: Franzosen sind nicht Preußen, und Frankreich ist nicht Deutschland; wer in Frankreich ist, bleibt gern darin.

Diesen Abend durften wir uns in Rennes zerstreuen; ich schlief bei einem Wirte, den ich kannte, auf dem Stroh. Am andern Morgen empfingen wir alte Gewehre und begannen zu exerzieren, empfingen auch Tornister, die wir mit Ziegelsteinen beschwert der Übung halber trugen, Uniformen erhielten wir leider nicht, die gab man uns erst viel später, als wir schon über Tours hinaus waren. So marschierte ich denn in der blauen Bluse und im Strohhut, wie ich an jenem Abend vom Acker weggegangen war; meine Kleider zerrissen, mein Strohhut war lächerlich im Regen und an den kalten Tagen, die dann folgten. Ich dachte: Das ist der Krieg; im Kriege darf uns so etwas nicht kümmern. In allen andern Augenblicken dachte ich aber nicht an den Krieg, sondern an mein Haus, meine Leute, mein Land, meine Hämmel. Hätte man mir früher eine Uniform angezogen, so würde ich mir vielleicht ein militärisches Gefühl angeeignet haben; so aber wurde ich den Gedanken nicht los, daß das nur eine vorübergehende Sache sei. Deshalb lief ich auch nicht, als Uniformen angekommen waren, wie andre, ungeduldig danach, sondern wartete ruhig, bis man mich aufforderte, endlich Bluse und Strohhut abzulegen. Das kam daher, daß ich in meinem Innern immer noch nicht glaubte, daß es Ernst sei; ich Tor meinte, solange ich meine Zivilkleider am Leibe hätte, sei ich immer noch nicht ganz dem Kriegsleben überantwortet. Und besonders der Strohhut erinnerte mich so an den Sommer, die Sonne schien durch einen Riß in der Krempe, ich trug ihn, bis man mich zwang, ihn wegzuwerfen; da meinte ich den schönen Sommer, der dem Kriege vorangegangen war, und alle seine Freuden und Hoffnungen damit weggeworfen zu haben. Und richtig war auch gleich darauf der Winter da. Am 12. Oktober fiel der erste Reif, und nach diesem kamen die Nebel und die kalten Regen. Da machten wir unsre Übungsmärsche, den Nebel in den Knochen und das Wasser in den Muskeln, es ging verdammt schlecht. Nebel und Wasser innen und außen sind wir nicht losgeworden bis der Frost kam, und das ganze Anjou und Orléanais unter einem Schnee lagen, so tief wie er hier seit Jahren nicht gesehen worden war. Bei diesen Märschen stellte sich heraus, wie schlecht unsre Schuhe waren, nach wenig Regentagen fielen sie in Stücke. Später haben wir Stiefel nach dem Muster der eurigen bekommen. Viele von uns konnten sich aber durchaus nicht an die Lederstiefel gewöhnen. Denkt euch Leute, die ihr ganzes Leben nur Holzschuhe getragen haben, für solche sind die niedern Schuhe mit Gamaschen. Aber wochenlang marschiert man damit nicht in Wasser und Schlamm! Alle diese griffen zu den Holzschuhen, wenn die andern ihnen buchstäblich von den Füßen gefallen waren.

Die Uniformen, die wir bekamen, gefielen uns auch nicht. Manche sagten: Wenn wir die roten Hosen der Infanterie hätten, wären wir auch ganz andre Kerle, mit diesen grauen sind wir wie die Müllerknechte. Es wurde geantwortet: Ist dir der rote Streifen nicht breit genug? Die Meerschweine (Marinesoldaten), die sich besser halten als die hochmütigen Lignards, sind blau von oben bis unten. Einigen waren die Waffenröcke zu eng, andre schwammen darin. Alle aber klagten darüber, daß beim Marsch mit dem Tornister der Zwischenraum zwischen dem steifen Uniformkragen und dem Hals immer größer wurde; der Regen tropfte, der Schnee fiel hinein, floß schmelzend über den Rücken und kühlte den Schweiß ab. In den grobfädigen Stoff zog das Wasser wie in einen Schwamm hinein und sickerte an den Ärmeln herab und im Saum zusammen, aus denen sich dann kleine andauernde Quellen über Hände und Schenkel ergossen. Ihr glaubt nicht, wie an solchen äußern Übeln eine Armee leidet, die das große Unglück hat, nichts zu leisten. Das schlimmste war aber doch, daß gerade als wir besser bekleidet und bewaffnet waren als je und um Schuhwerk und warme Mäntel die Deutschen fast nicht mehr zu beneiden brauchten, es uns militärisch am schlechtesten ging; und nun halfen Bekleidung und Bewaffnung wenig, die Unzufriedenheit zu heben, die Tausende veranlaßte, sich ohne Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.

Von Gewehren empfingen wir zuerst die großen Tabatiereflinten. Da man uns aber gleich mitteilte, sie ließen manchmal den Schuß durch die weite Rücköffnung heraus, liebten wir sie nicht. Später erhielten wir Remingtons, die aber nicht mehr losgingen, als wir sie vierzehn Tage im Regen umhergetragen hatten. Wir waren immerhin besser daran als die armen Mobilen von der Ille-et-Villaine, die Zündhütchengewehre hatten, mit denen sie gar nichts anzufangen wußten. Ist es zu verwundern, wenn ein armer Kerl eine solche Flinte wegwirft, wenn sie ihm auf dem Rückzug zu schwer wird? Man läuft schlecht mit dem Gewehr auf der Schulter, am besten wenn man die Hände frei hat. Bajonette empfingen viele, als sie schon im Feuer gestanden hatten. Man predigte uns den Elan beim Bajonettangriff als die große Tugend der französischen Soldaten, und wie oft übten wir diesen Angriff, aber ohne Bajonette! Ich dachte auf den Märschen nach, ob man nicht in einer Zeit, wo soviel erfunden wurde, eine Erfindung machen könne, ein gehöriges Brotmesser auf die Flinte zu stecken.

Trotz der traurigen Figur, die wir machten, wurden wir in den Städten, durch die wir marschierten, immer von zahlreichen Zuschauern mit den Rufen: Vive la république! und Vive la guerre! empfangen. Die Damen winkten uns aus den Fenstern. Ach, hätte ich doch einige von ihren feinen Tüchern gehabt, um sie um meine wunden Füße zu binden, die in ihren groben Fußlappen gerade dann oft furchtbar schmerzten, wenn wir über das schlechte Pflaster marschierten. Der Hauptmann rief uns zu, recht stolz aufzutreten, um den Bürgern zu zeigen, was für Feldsoldaten wir seien. Jedoch wie soll man auftreten, wenn die Sohlen bluten? Ich war nicht der einzige in der Sektion, der tagelang nur noch auf den äußern Rändern der Füße gehn konnte. Das macht allerdings keinen kriegerischen Eindruck. Wir wunderten uns im Anfang, als wir es noch nicht gewohnt waren, wie unser Erscheinen soviel Begeisterung erregen konnte. Später sahen wir ein, daß ihr Rufen und ihr Winken nicht uns armen Leuten galt, sondern der Fahne, die man uns vorantrug. Ich dachte mir: Sie rufen so laut, um ihre Freude zu verbergen, daß sie nicht mit uns ins Feld müssen!

Abends im Quartier hörten wir ganz andre Stimmen, als die uns beim Einzug aus den Fenstern gerufen hatten; zum Beispiel sagte eine Frau: Ihr armen Leute seid gar keine Soldaten, und eure Befehlshaber sind gar keine Offiziere, sondern Advokaten und Politiker. Wie feig müssen die Franzosen sein, sich so in den Krieg führen zu lassen! Das war nicht tröstlich, und man mußte ihr Recht geben.

Der Krieg rüttelt auch die Neugier und den Vorwitz auf, daß die Menschen ihre eignen Angelegenheiten vergessen und sich mit denen leidenschaftlich beschäftigen, die sie nichts angehn. Statt froh zu sein, daß sie zuhause bleiben konnten, liefen und fuhren sie uns nach und gafften unsre Übungen an. Das war uns sehr unbequem, denn wir wußten wohl, daß wir nichts konnten.

Das Fett der Begeisterung und auch der ersten Neugier war denn auch bald abgeschöpft, wir erregten kein Interesse mehr, und da wir schwach waren, und unsre Vorgesetzten sich reserviert hielten, behandelten uns die Leute schlechter. Was wollt ihr? Der Schwache ist nicht beliebt. Das Mehr, was die Deutschen ihnen abgenommen hatten, zogen sie an dem ab, was sie uns hätten geben müssen. Besonders die Städte behandelten die Kinder Frankreichs schlechter als den Feind. Wir standen hungernd und frierend auf den Plätzen, während sich unsre Offiziere mit den Bürgern herumstritten, und man hörte Stimmen: Wahrlich ein Bauernkrieg gegen diese aufgeblasenen Bourgeois wäre schöner, als gegen die Deutschen zu Felde zu ziehn! Aber auch unsre Bauern hoben Brot und Hafer für ihre Feinde auf. Sie jammerten, wenn wir etwas wollten: Was tun wir, wenn nach euch die Deutschen kommen? Landsleute, laßt uns so viel, daß sie uns nicht schlagen. Die armen Leute bekamen nun Schläge von ihren Landsleuten. Schlagt nicht so zu, rief einmal unser Hauptmann, als einige hungrige Mobile einen Bauern prügelten, es ist kein Preuße, bewahrt eure Schläge für den Feind. Einer antwortete ihm: Wenn diese ihr Brot für den Feind aufbewahren, dann wird der Feind uns mit doppelter Kraft schlagen!

Das ist ein entschiedner Mangel, daß man uns Franzosen gelehrt hat, wenig zu essen; wir nehmen viel weniger Nahrung zu uns als die Deutschen, wir sind eben deshalb weniger widerstandsfähig, wir heizen weniger ein und leiden schon darum mehr von der Kälte. Die Freude der Deutschen an ihren brodelnden Töpfen voll Reis oder Kartoffeln mit einem Stück magern Hammel- oder Kuhfleisches darin hat dazu beigetragen, daß sie andre Bequemlichkeiten nicht vermißten. Die einen tranken den ganzen Tag Wein, andre, die keinen Wein hatten, sehr viel dünnen Kaffee: stark oder schwach, warm oder kalt; diese Genüsse steigerten ihr Behagen.

Der Winter blieb kalt, das Land lag tief im Schnee, und wir machten unsre Märsche oft wochenlang Tag für Tag. Wie müde, wie müde wird der Mensch, der tagtäglich in demselben Schnee seine schmutzige Spur dahinzieht! Müde schon vom Hineinsehen in diese blendende, einförmige Landschaft, müde vom mühseligen Gehen, mehr Gleiten als Marschieren, müde von dem immer sich wiederholenden Auseinanderreißen der Kolonnen, dem Zurückbleiben, dem Schelten der Unteroffiziere, die vergeblich antreiben. Man schließt die Augen, man fühlt nur noch die Richtung an den Nebenmännern, oder wenn der Vordermann, dem man auf die Ferse tritt, zurückschreit. Wahrlich, es war eine Wohltat, wenn man sich, wo es bergauf ging, dann und wann in ein Kanonenrad legte und fortschieben half; der Körper gewann eine Stütze, und es gab Abwechslung. Es war, als ob wir mit jedem Marschtage schwerer würden. Das kam davon, daß wir, uns selbst überlassen, immer mehr zusammensanken, daß keine feste Hand uns hob und fortzog. Die Kompagnien, die noch einen tüchtigen Sergeanten hatten, hielten besser zusammen. Bourbaki soll gesagt haben: Ich habe hunderttausend Mann und keinen Soldaten; Chanzy konnte nahezu dasselbe sagen. Es wurden uns Tagesbefehle verlesen, worin er uns euch deutsche Soldaten zum Vorbild hinstellte. Die Strapazen, die ihr ertrüget, müßten Franzosen auch zu ertragen wissen. Wir sagten unter uns: Ihre dicken Stiefel, ihre langen Mäntel, ihre warmen Uniformen, sogar die Wollkapuzen, die viele von ihnen tragen, die erklären viel.

Im Lager bei Le Mans bildete damals ein alter Seemann, der Admiral Jaurès, das 21. Korps. Zu diesem stießen wir. Ich weiß nicht, war es das Beispiel von Truppen, die schon besser geübt waren, war es der Eifer, der sich von oben herab in unsre Führer ergoß, oder vielleicht nur der trockne Boden dieser Gegend, den dichtes Heidekraut bedeckte, wir lebten auf, die Mürrischen wurden heiterer, die Widerspenstigen folgsamer, und da auch die Erinnerung an die Heimat allmählich verblaßte, wurde in manchem mit der Zeit ein guter Wille herangezogen, zu gehorchen und zur Not in den Kampf zu gehn. Unser Kommandant erhielt ein Regiment, und die Führung unsers Bataillons übernahm nun ein Hauptmann, der früher Professor an einer Kriegsschule gewesen war. Vielleicht nannte man ihn deshalb den Philosophen, vielleicht auch weil er weniger als nichts von militärischen Äußerlichkeiten hielt. Darin war er das Gegenteil von seinem Vorgänger, der streng auf Ordnung im kleinsten gehalten hatte. Vielleicht wollte er sich bei uns beliebt machen. Er sprach oft vor der Front von dem Fluch der Eitelkeit, dem der Soldat verfalle, der in einer Zeit, wo alles auf den Kern ankomme, seine Pflicht zu tun glaube, wenn nur alles blank sei. Das paßte nun für uns gar nicht, denn wir litten eigentlich alle an dem Fehler, daß es bei uns zu wenig glänzte. Ich will Soldaten befehligen, die den Feind schlagen, ob sie Hosen anhaben, ist dann gleich. So machten wir denn Felddienstübungen von früh bis spät und stürmten rasch aufgeworfne Schanzen, in denen wir, wenn wir siegreich oben ankamen, bis über die Knie in den Schlamm sanken.

Was uns anbetrifft, so hatte der neue Kommandant die idealsten Vorstellungen von den Soldatenpflichten und äußerte in Reden vor dem Bataillon seine Freude darüber, daß er berufen sei, gerade uns zu Helden zu erziehn, die sonst in der Dumpfheit des bürgerlichen Daseins hingelebt hätten, ohne zu wissen, daß in jedem Franzosen ein Held stecke. Für sich selbst stellte er dagegen fest, daß der Offizier vom Bataillonskommandanten aufwärts, der sich gleich im Beginn des Angriffs an die Spitze seiner Truppen stelle, die er zu leiten habe, mit seinem Leben die beste Karte ausspiele, die er bis zuletzt in der Hand behalten sollte. Was ist nun seine Truppe ohne ihn, wenn er fällt? Ihm muß der Mut anerzogen sein, sich nicht auszusetzen. Der Tod auf der Bresche, der für den Soldaten der höchste ist, ist für ihn viel zu billig! – Also, sagten wir, zieht er vor, im Bett zu sterben.

Wenn wir von einer Höhe zurücksahen, sah ein Regiment im Marsch wie eine Kette von Schafherden aus; der Unteroffizier, ein Studierter, sagte: Wie eine Schlange, die sich in ihre Glieder auflöst. Mir war dieser Anblick doppelt unangenehm, denn ich wußte, daß eine Herde Schafe ordentlicher beisammen bleibt. Da sah man, daß jeder Einzelne eine andre Richtung und ein andres Tempo angenommen haben würde, wenn nicht der Trieb zu leben einen an den andern gefesselt hätte. Aber dieser Trieb genügt nicht für die äußersten Fälle, in denen es sich zeigte, daß wir kein Vertrauen zu unsern Führern hatten. Wir merkten bei jedem anstrengenden Marsche, daß die Maschine zu neu war, die Teile stießen einander, wenn man sie in Betrieb setzte, ein Rad rieb sich am andern. Die Soldaten erzählten sich, daß Chanzy weder obere noch untere Offiziere an den Stellen bei den Vorposten angetroffen habe, die er ihnen zugewiesen hätte. Je mehr solche Dinge umliefen, desto lockrer wurde der Zusammenhalt der Herde. Mangel an Vertrauen ist eine Krankheit des Herzens, die lähmt und schwächt. Als unser Major eines Tages mit einer neuen Rosette im Knopfloch, die ihm eben verliehen worden war, vor die Front trat, ging ein lautes Hohnlachen durch die Reihen. Man fragte: Wo hat der Philosoph das verdient? Es war vergeblich, daß man die Gendarmerie vermehrte, um am Schlachttag die Ausreißer durch eine Postenkette hinter der Front aufzuhalten. Chanzy wußte, wie die nahe Stadt die Sehnsucht nach Zimmern, Betten, beleuchteten Straßen, die entfernte Hoffnung auf besseres Essen und Trinken, auf geflickte Kleider und neubesohlte Schuhe erweckte; er soll sogar beabsichtigt haben, im Falle der Schlacht die Brücke abzubrechen, um den Rückzug in die Stadt unmöglich zu machen, der vielen als das willkommenste Ende des Krieges erschien.

Im Januar kam der Feind näher; wir sahen ihn nicht, aber es hieß, er sei nur noch einen Tag entfernt. Doch kamen wir nicht gleich mit ihm in Berührung. Wir hörten in der Ferne die Geschütze donnern, sahen Verwundete, die zurücktransportiert wurden, und ließen todmüde und ausgehungerte Regimenter an uns vorüberziehn, die rückwärts verlegt wurden, weil sie entmutigt waren. So wird es uns auch eines Tags gehn! An einem Morgen nahmen wir eine Stellung hinter den breiten Höhen vor Le Mans ein. Das Wetter war schlecht, die Erde weich. Das Bataillon wurde auseinandergezogen, die Sektionen postierten sich hinter Deckungen. Der Major zeigte uns die Richtung, woher der Feind kommen mußte, und sagte, von unserm Festhalten hinge das Schicksal von Le Mans ab. Was kümmerte uns Le Mans, das wir bisher nicht einmal betreten durften? Niemand begriff, warum wir gerade hier kämpfen sollten. Wir kamen an diesem Tage nicht nahe an den Feind, und doch hieß es: Wir haben die Schlacht gewonnen. Welche Schlacht? Nun, diese. Keiner war, der sich eine Schlacht so gedacht hätte: Marschieren, Stehn, Marschieren, Liegen, einige Granaten, Aufspringen, wieder Marschieren. Wo war der Elan, wo das Vordringen? Geduld, Schweigen war die Tugend, die gefordert wurde. Das Fragen hatte man längst vergessen, denn niemand wußte etwas.

Die schwarzen Schlangen, die dort in die fahle Dämmerung hineinziehn, immer breiter zusammenfließend, das ist der Feind? Das einzige, was wir von ihm gesehen haben! Wir folgen ihm nicht, wir bleiben stehn, wir legen uns in die nassen Furchen, wo gerade keine Pfütze stand. Wenn wir gewußt hätten, daß sein Rückzug nur ein Ausholen zum Stoß mit stärkern Kräften war, würden wir weniger ruhig geschlafen haben. Am dunkeln Frühmorgen wurden wir alarmiert, es war noch kein Schimmer von Dämmerung am Himmel, keiner sah den andern. Unsre Führer waren Stimmen ohne Gesicht und Gestalt, Kommandorufe, denen man in der schwarzen Dunkelheit nur zögernd, unsicher folgt. Man hört Schüsse auf allen Seiten, ihre Patrouillen scheinen um uns zu wimmeln, wir erwarten im ersten Morgenlicht ein Heer von Helmspitzen auftauchen zu sehen. Halt! ruft mein Nachbar, hält mich am Arm zurück und deutet bloß auf ein stangenartiges gerades Birkenstämmchen, das ihm eine Ulanenlanze vorgetäuscht hatte. Der Lärm legt sich, man sagt, es seien feindliche Patrouillen aus Versehen in unsre Linie geraten. Das müssen Waghälse sein, die sich so versehen!

Eine wellige Ebene, wenig Wald, ziemlich viel Dörfer, so war das Land östlich von uns. Es schien uns gefährlich zu sein, denn es konnte Tausende von Feinden in seinen flachen Mulden, hinter den Hecken und niedrigen Mauern der Äcker bergen; Armeen konnten hier verschwinden und wieder auftauchen, und niemand wußte wohin? woher? So waren wir denn in der größten Ungewißheit, ob wir nicht mitten ins Verderben hineinmarschierten, und konnten trotz des anfeuernden Tagesbefehls Chanzys, der uns gestern verlesen worden war, nicht die Überzeugung gewinnen, daß wir siegen würden oder müßten. Junge Offiziere, die ausgesandt waren, den nahen Feind auszukundschaften, kamen herangesprengt, als sei ihnen eine Armee auf den Fersen. Große Massen marschieren gegen uns, riefen sie. Was? O, das konnte ich nicht genau sehen, ich glaube, es sind Feinde! Zum Glück waren es zu der Stunde noch welche von den Unsern. Damals sah im Schnee jeder Truppenkörper schwarzgrau aus. Diese jungen Leute riskierten nicht, den Schuß auf sich zu ziehn, der ihre Zweifel zerstreut hätte. Wir arbeiteten uns in derselben Unsicherheit weiter. Nun halt! Das bedeutete zunächst Niederwerfen, wo eben gerade einer stand. Ich saß neben dem Sergeanten auf dem Rande des Straßengrabens, seine Hand berührte mich, und als ich ihn zufällig ansah, winkte er mir zu, und ich sah die Spitze seines Schnurrbarts auf ein Dorf rechts am äußersten Horizont hinweisen, über dem ganz tief eine lange weiße Wolke lag. Manchmal sah man kleine Wölkchen darüber aufsteigen, sich auflösen und in der langen Bank verschwinden: Dort wird geschossen, es sind Granaten, der Wind trägt den Schall von uns weg; gib acht, wir werden gleich einschwenken und Pulver riechen.

Wir rückten bald weiter vor, glücklicherweise nicht geradeswegs auf das Schlachtfeld, sondern halbrechts. Aha, sagte man, die Taktik der Preußen, wir werden sie überflügeln. Diese Taktik imponierte uns sehr; die, die bei Loigny gewesen waren, behaupteten, es sei ein wahrer Unsinn, den Stier bei den Hörnern fassen zu wollen. Ich hatte auch sagen hören: Wenn man Truppen hat wie das fünfzehnte Korps, das die Befestigungen von Orleans fast ohne Verteidigung verlassen hat, muß man froh sein, wenn man den Feind an seiner schwächsten Stelle umgehn kann.

Wir kamen jetzt auf eine andre Landstraße, an der wir uns neuerdings aufstellten. Nicht lange dauerte es, so sahen wir eine lange Wagenreihe, träge Ochsenwagen herankommen, auf denen Verwundete lagen, die hinter uns abgeladen wurden, damit sie im Freien verbunden würden. Später sollten sie weitergeschafft werden, doch haben wir sie in der kalten Nacht dieses Tages noch daliegen sehen, und ohne das Hilferufen Einzelner wären unsre Batterien über sie weggefahren. Der Anblick dieser blutigen Leute, wie sie da auf die Erde gebettet wurden, war nicht ermutigend. Wir marschierten über das Feld, die Erde war feucht, die Füße waren bald zu schweren Klumpen geworden. Nun hörte man schon die Gewehre knattern, die hellern, sagte man, sind unsre Remingtons, die bum! bum! sind die, die deutsch sprechen. Zeitweise rollte das Gewehrfeuer minutenlang ununterbrochen fort. Wir durchschreiten einen trocknen Graben und ersteigen dessen jenseitigen Rand, da sehen wir schon auf dem Abhang, der sich langsam gegen das Dorf senkt, Haufen von den Unsern hinter Hecken, in Gräben kniend und liegend schießen, Unteroffiziere und Offiziere stehn hinter ihnen oder huschen gebückt von einer Gruppe zur andern. In diese Reihe rückten wir ein, sie machte auf beiden Seiten Platz, man wies uns an, wie wir uns verteilen sollten, und zeigte die Richtung, in der wir schießen sollten. Und nun ging das Schießen los, von Zielen war keine Rede, wir sahen keinen Feind, schossen eben in den Rauch, der sich immer mehr verdichtete. Es war wie mit den Hunden in einem Dorf, wenn einer bellt, bellen alle, so rollten die Flintenschüsse in unsern Reihen hin und her, wenn einer losbrannte, folgten die andern, und dann begann es wieder am andern Ende und rollte so fort. Eine wahre Wolke von Kugeln muß uns umhüllt haben, wir schossen, bis die Gewehre so heiß waren, daß man sie einen Augenblick auf die Erde legen mußte. Da die Gewehre der Deutschen nicht so weit trugen wie die unsern, hatten wir fast keine Verluste. Unsre ganze Sektion blieb unverwundet. Dann und wann pfiff eine Kugel durch uns hin, wahrscheinlich aus einem französischen Gewehr, das einer erbeutet hatte. Wenn wir vorgerückt wären, hätten wir etwas mehr von deutschen Kugeln zu schmecken bekommen, aber unser Major rief immer nur: Kinder, festbleiben! Einzelne meinten, man müsse nun doch endlich vorwärtskommen, doch damit hatte es niemand eilig.

Während noch Kolonnen vorrückten, besonders Artillerie, die überall am besten zusammenhielt, sickerten schon Flüchtlinge in solchen Massen durch, daß man zweifeln mußte, ob die Hauptbewegung vorwärts oder zurück gehe. Einen Augenblick sah man erstaunt zu, wie sich das zurückwälzte, dann hörte man aus unsern Reihen Rufe: Wir haben keine Patronen mehr! Unser Train ist stecken geblieben, abgefangen! Die Artillerie machte Halt. Platz da, um Kehrt zu machen, rief einer, da drängten wir zur Seite und zurück, und es war kein Halten mehr, wir waren mitten in dem Strom der Zurückflutenden und schwammen mit. Plötzlich rasselte hinter uns und neben uns die Artillerie zurück, und nun sah man Leute alles Gepäck wegwerfen, sogar Geldbörsen, die allerdings seit Tagen keinen Sou gesehen haben mochten. Es war, wie wenn die Gewehre den vor Kälte steifen Händen von selbst entfielen. Jetzt sah ich auch zum erstenmal Leute in unsern Knäueln tot hinstürzen, denn die Granaten der feindlichen Geschütze, deren Donner schrecklich nahe kam, schlugen mitten unter uns ein. Es rührte mich aber nicht, jetzt war alle Furcht verflogen; ich hielt in einer Gruppe stand, die ein beherzter alter Sergeant noch hinter einer langen Reihe von Backsteinen neben der Ziegelei auf dem letzten Höhenrande befehligte. Woher kam mir der Mut, standzuhalten? Ich glaube, es war, was man den Mut der Verzweiflung nennt. Ich hatte so viel gelitten und gedarbt in diesen letzten Wochen, daß ein Groll in mir aufgestiegen war gegen den Feind, gegen meine unfähigen Vorgesetzten, gegen meine feigen Kameraden, gegen den Krieg im allgemeinen, und dieses neue Gefühl drängte nun alles andre zurück und gab mir den Mut, mich gegen die allgemeine Flucht und gegen den vordringenden Feind zu stellen. Es half freilich nichts. Wir mußten uns mit den letzten Bataillonen, Seite an Seite mit päpstlichen Zuaven, Linien- und Marinesoldaten, zurückziehn, die früher voll Verachtung auf uns heruntergesehen hatten. Einige Offiziere lobten uns, daß wir nicht so rasch wie die andern Mobilen gelaufen waren. Dieses Lob schien mir jedoch schlecht angewandt zu sein, soweit es mich betraf; ich wußte doch am besten, daß dieses Standhalten nur eine kurze Episode von einer Stunde nach Wochen war, in denen fast niemand von uns allen so recht seine Pflicht getan hatte.

Die Nacht sank auf das Feld, und mit dem Dunkel und der Kälte legte sich auf uns, die Besiegten, die ganze Last den Enttäuschung und der Verzweiflung. Wir wußten nicht, ob wir vor Frost oder vor Furcht vor dem ungewissen morgenden Tage zitterten. Zwischen den Geschützen, die noch zur rechten Zeit ausgerissen waren, in den Ackerfurchen liegend, verloren wir das bißchen Mut, das wir mitgebracht hatten. Er erstarrte wie alles. Ich dachte mir: So hart wie diese Schollen, die unter der Sohle klingen, ist dein Herz geworden. Gibt es ein Unglück, das noch einen Eindruck auf dieses Herz machen könnte? Es ist nur noch Gleichgiltigkeit darin. Ich mochte nicht einmal mehr an die Heimat denken.

In der Morgenfrühe, als der Januarfrost den Höhepunkt erreicht hatte, rüttelte mich der Sergeant auf: Wir haben seit gestern kein Wort des Befehls, man scheint uns vergessen zu haben. Du sollst mit zwei Mann dort rechts hinüber gehn, wo der Rauch über dem Dorf liegt, und den Befehl holen. Du wirst dort den Stab der Brigade finden, der wir jetzt angehören. Hierbleiben wird nicht möglich sein, aber abziehn wollen wir auch nicht ohne weiteres. Wir waren gern bereit zu gehn, man mußte sich bewegen, um warm zu werden. Es war dunkel, die letzten Sterne standen am Himmel, dort wo wir hin sollten, war es allein heller, dort dämmerte es von der Glut der Bauernhäuser, an denen das letzte Brennbare glühte und qualmte. Es war ein trauriger Anblick, doch stolperten wir über die harten Erdschollen so rasch wie möglich den Brandstellen zu, zum Teil von der Hoffnung getrieben, einen größern Truppenkörper der Unsrigen zu finden, an den wir uns anschließen konnten, zum Teil von der Wärme angezogen. Straße oder Weg sahen wir nicht, wir müssen von hinten her zwischen den Häusern ins Dorf hineingekommen sein. Kein Posten! Vor ein paar glühenden Balken saß mitten auf der Straße ein in seinen Mantel gehüllter Mann, den Kopf verbunden, ich sah seinen Säbel im Feuer funkeln, das mich blendete, das mußte ein Offizier sein. Ich ging auf ihn zu, meldete die Patrouille, ohne zu wissen, ob er mich höre oder nicht, da schaute er erstaunt auf, sprang auf beide Füße und rief mir französisch zu: Gefangner! Er hatte nicht einmal seinen Revolver gezogen, sondern gleich nach meinem Gewehr gegriffen, das ich ihm im Schreck ohne weiteres ließ. In der nächsten Sekunde waren wir von Pickelhauben umringt. Wirklich gefangen!

Das war das lächerliche Ende meines Kriegsdienstes. Die nächsten Tage bekamen wir viele Kameraden, auch aus meiner Kompagnie kam ein Trupp gefangen an. Zuerst hungerten wir, und eure Soldaten mit uns. Wir sahen: auch der Sieg macht nicht satt. Da war ein gewisser Trost darin. Dann bekamen wir satt zu essen. Es regnete aber unaufhörlich, und wir marschierten endlos, immer nach Osten. Wie merkwürdig, man träumte nun nicht mehr von der Heimat, sondern von warmen Kasernenstuben in deutschen Festungen und endlosem Ruhen in Kasematten nach den langen Märschen! Dann kamen fünf Tage in den kalten Güterwagen der Eisenbahn, bald sitzend, bald liegend, immer vom Frost und von der Nässe geschüttelt, das war demoralisierender als eine verlorne Schlacht. Welches Glück, daß ich in euer Lazarett kam, ehe ich vollständig zugrunde ging!

 

4. Die barmherzige Schwester

In dem kleinen Neuen Testament, das mir der Divisionspfarrer geschenkt hatte, las ich manchmal den ersten Korintherbrief. Wenn ich an die Stelle kam: »Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, die Sprachen aufhören werden, und das Erkenntnis aufhören wird,« dachte ich heute nicht lange über die Liebe nach, die hier gemeint sei, dachte vor allem nicht an die natürliche Liebe, die Gatten zueinander oder Eltern zu Kindern hegen, und die, ein Stück Leben selber, weit über den Menschen hinaus durch die ganze lebendige Welt geht; ich sah, seitdem ich in dem Rekonvaleszentenhaus verweilte, zu jeder Stunde des Tags eine andre Auslegung vor mir. Bei den barmherzigen Schwestern, die hier pflegen, hört die Liebe nie auf. Sie sind Tag und Nacht zur Stelle, immer hilfbereit und immer heiter; für sie scheint es keine Müdigkeit, keine Abspannung, keinen Ekel zu geben. Ihr Verbinden der Wunden ist wie ein Gebet, von dem sie sich neugestärkt erheben. Wie wäre die Welt, wenn es auch außerhalb dieser Klostermauern viele solche Frauen gäbe? Das ist jetzt nicht möglich, aber es muß einst so kommen. Es muß auch andern gelingen, wunschlos zu werden und jenseits der Stürme zu leben. Die stille Ergebung in die Pflicht des Tages und des Augenblicks, die diese Frauen selig macht, sodaß wir im Anblick ihres Wirkens an die Seligpreisung der Bergpredigt denken, liegt im Keim in so vielem weltlichem Tun; es muß Mittel geben, diese Eigenschaft aus ihren Schalen frei zu machen.

Mein Kamerad, der Theolog im Waffenrock, den der Kriegssturm aus einem Hallischen Hörsaal bis vor Paris verweht hatte, und der als Typhusrekonvaleszent zurückgesandt worden war, meinte dazu: Das ist der Sinn der Sentenz: im kleinsten Punkt die größte Kraft, die von den meisten, die sie nachsprechen, rein materiell gedacht wird. Aber habe einmal gelernt, daß das Kleinste, das sich dir zur Arbeit beut, eine verborgne Tiefe hat, in die du den größten Willen und das beste Geschick hineinlegst, und es füllt sich niemals an, es geht immer noch mehr hinein, so hast du eine innere Erfahrung gewonnen, die mit der Sicherheit des Kompasses unfehlbar auf eine große beständige Lebensaufgabe zeigt. Was ist nun tiefer als die Not des Lebens? Schlechthin nichts.

Ich verstehe dich, sagte ich; du meinst eben, wegen dieser Tiefe kann die Liebe nicht aufhören.

Ganz recht; und ich möchte noch hinzufügen: jede Entmutigung im Kampf mit der Not des Lebens ist ein Streiten mit dem Gott in uns, ein Abfall von dem, der uns stark, stark zur Tat will. Sehen wir uns doch in allernächster Nähe um. Jedem Soldaten ist es gelegentlich beschieden, Samariterdienste zu tun, besonders im Gefecht. Im Lazarett gäbe es noch mehr Arbeit. Ich habe gesehen, wie das gezwungne Nichtstun bei so vielen Lazarettinsassen ihr Verhältnis zum Ganzen lockerte, ich erkannte die Gefahr, daß diese Gewohnheit des ziellosen Herumlungerns von einem Tag in den andern auch mich erfassen könnte; da ging es mir wie eine Rettung auf, als ich diese breite Bresche sah, wo Menschenkräfte bauen könnten. Es zog mich in die Aufgabe, Hand anzulegen, buchstäblich hinein. Der Krieg ist für alle, die nicht siegen, besonders für die ein großes Unglück, die Krankheit aufs Lager streckt; mit den Monaten empfinden sogar die von Sieg zu Sieg eilenden, daß er nicht ihr natürlicher Zustand ist. Muß darin nicht die Forderung sein, alle Quellen des Glücks zu öffnen, die überhaupt möglich sind? Glück muß zum Streit wider das Unglück aufgerufen werden. Wer das einsieht, kann nimmer rasten, in dem spricht es: Nimm dich selbst in Zucht, wie diese Frauen es tun, steigere die Disziplin ins Sittliche. Laß vor allem deine Seele nicht bis zur Stagnation ruhn, schaffe dir die innere Quelle der Erfrischung, die keine Abstumpfung, keine völlige Ausebnung aufkommen läßt. Sobald sich der grüne Überzug der Schleimalgen und Wasserlinsen über die Klarheit einer Quelle zieht, bist du nicht sicher, welches Gewürm darunter auskriecht. Darin liegt der Segen der äußern Tätigkeit. Solange der Körper gesund ist, sollte er immer hart am Rande der Ermüdung gehalten werden. Der Mensch sei wie eine Flamme: die bewegt sich, solange sie Nahrung hat, wenn sie ruht, stirbt sie; aber solange sie lebt, strebt sie aufwärts.

Als in den ersten Dezembertagen bei Paris und an der Loire zugleich blutige Schlachten geschlagen worden waren, leerte man in aller Eile die Feldlazarette hinter der Front und schickte rückwärts, was transportabel war. Es war fast für alle, auch die des Lebens müde im Lazarett geworden waren, eine Erlösung, für manche mag auch die Entfernung vom Kriegsschauplatz willkommen gewesen sein, auf dem sich damals die von manchen für furchtbar gehaltnen neuen französischen Armeen vorwälzten. Es war ein glückliches Los, das mich hierher verschlug. Ich war nicht kriegsmüde, aber müde des Bluts; dessen, und der Trümmer, des Schmutzes hatte ich genug. Als ich in dieses Haus eintrat, sah ich seit Monaten zum erstenmal wieder ein friedlich-heiteres Antlitz. Vielleicht fesselte mich am meisten die breitflüglige Haube, die das frische, rötliche Gesicht der Schwester einfaßte, sie war so weiß, so weiß; seit wann hatte ich nichts so weißes gesehen? Jetzt mochte draußen im Felde der Schnee liegen, der konnte ähnlich sein, aber nur der allein, und auch auf diesem standen manchmal Blutlachen mit sonderbaren blaß bräunlichroten Rändern. Bei uns sah man nur fahle, bräunliche, gelbliche Töne; sogar das Weiße im Auge war trüb vom Blute, das in den müden Gefäßen stockte. Ich dachte an das Weißeste, was ich jemals gesehen hatte, an Firnfelder im Hochgebirge, an blendende Sommerwolken, die im tiefen Mittagsblau schwimmen, an den weißen Frühlingskrokus, dessen Blüten noch klarer als Lilien sind. Ich habe dann freilich noch viel helleres, leuchtenderes gesehen. Denn wie ein Stern, der aus Sturmwolken hervortritt, mutete mich die Menschenliebe und Frömmigkeit an, die ich hier erfahren habe. In der Krankheit und in jeder Art von Not steht eine Wolke vor dem Himmel, sagte die alte Schwester Eulalia, die Lothringerin; wir Pflegerinnen kämpfen, daß sie sich zerstreue und Gottes Angesicht uns wieder hell ansehe.

Wenn von den Gründen gesprochen wurde, warum wir uns in der Pflege der Schwestern so wohl fühlten, wurde jedesmal ihre verständige, ruhige Behandlung der Kranken gerühmt; einige behaupteten, sie hätten mitten im Fieber aus ihren Fingerspitzen, die sich an den Puls legten, etwas beruhigendes herüberfließen fühlen. Es stellte sich dabei aber auch eine innere Verwandtschaft heraus. Jeder von uns Soldaten, der in ihre Nähe kam, fühlte etwas Verwandtes in ihrem Wesen. Nicht bloß in der Uniform liegt das, die sie tragen, und auf die sie so stolz sind wie wir auf die unsre. Wir und sie dienen, und zwar dienen wir beide einen harten Dienst, zur Not geht es ums Leben. Wir und sie kämpfen nieder, was wir wollen, und tun, was wir sollen. Auch darin sind sie den Soldaten ähnlich, daß sie gerade und mutig ihrer Pflicht nachgehn; das gewöhnliche Weltleben mit seinen Umwegen, die gar oft zwecklos in sich zurücklaufende Schlangenwege sind, mit seinem Biegen und Ducken erzielt nur schillernde Charaktere. Der Soldat antwortet auf jede Frage eines Vorgesetzten kurz und bestimmt, indem er ihm fest ins Auge schaut. Dasselbe ist die Art der Rede der Schwestern. Diese legen vielleicht noch mehr als die Soldaten, wenn sie die Uniform anziehn, alle übrigen Unterschiede ab, sie verlieren Vorzüge und Vorteile und steigen doch nicht herunter. In ihrem gehaltnen Wesen liegt ein Bewußtsein ihrer Grenzen. Ihr Gang ist gelassen und leise, und doch schnell; eine geht wie die andre, sie sind darauf geübt, wie wir auf das Marschtempo. Beobachte, wenn eine gerufen wird, sie wendet nicht den Kopf, sondern wendet sich mit dem ganzen Körper um, es sieht dienstbereiter aus. Neben dem Arzt steht sie unbeweglich wie auf das Kommando Achtung! und was sie auch sehe, es zuckt keine Wimper. Sie haben alle dieselbe Art, wenn sie den Kranken zu trinken geben, sie halten ihnen den Kopf mit der einen Hand von rückwärts und neigen mit der andern leicht den Trinkbecher; wie sanft lassen sie dann den Kranken wieder auf sein Kissen zurücksinken, und ehe sie weitergehn, streichen sie seine Decke zurecht, sorgen, daß sie ihn gut einhülle. Eine macht es wie die andre, aber bloß angelernt ist das nicht. Da muß jemand seine ganze Menschlichkeit, oder wie sage ich doch? sein Unsterbliches hineinlegen, damit das tausendmal Getane die Frische der Blüte draußen in der Gottesnatur behält. Die Schwestern lernen durch Übung empfinden, was der Kranke braucht. Wenn ihn das Leiden sprachlos gemacht hat, oder wenn die leiseste Frage ihn aufregen würde, erraten sie seine Wünsche, als wenn sie selbst gerade in seiner Lage wären.

Die lothringische Schwester mit dem faltigen Gesicht sagte: Das hängt mit dem zusammen, was man in der Welt draußen als Enge und Einseitigkeit belächelt. Eng ist dieses Reich wohl, wenn Sie in ihm nach den Seiten hingehn, aber es ist unermeßlich groß nach der Höhe und nach der Tiefe hin, es ist ein Reich der tiefsten Tiefe und der höchsten Höhe; oder vielmehr, verbesserte sie sich, es müßte so sein; alles ist nicht genau so hoch und so tief, wie es sein sollte. Nur nach der Welt zu stoßen wir allerseits an Mauern, und das ist gut; nichts hemmt dagegen den Aufschwung und das Sichversenken. Die beständige Übung des sich in die Lage unsrer Kranken Versetzens öffnet die Sinne für so manches, was uns sonst unverständlich bliebe. Es gibt abstoßende Menschen, in die man sich nicht ganz hinein versetzen kann, die man aber doch verstehn muß, wenn man sie recht pflegen will; auch sie haben Menschen, denen sie teuer sind, diese werden gerade das finden, was ich nicht finden konnte, und indem ich sie gleichsam durch die Seele ihrer Lieben betrachte, finde ich oft ein Verständnis, wo ich es gar nicht erwartet hätte. Und ein andermal: Im Dienst der Kranken und der Elenden springen Quellen innern Glücks, von denen niemand weiß, der solchen Dienst niemals geleistet hat. Die stille Heiterkeit kommt davon, die wie der Widerschein eines verborgnen Lichts auf den Gesichtern der Schwestern liegt. Die äußere Heiterkeit, die ihr bewundert, fließt aus derselben Tiefe. Eure Weltweisen nennen den Humor das Lächeln des Herzens, das verwundet ist. Aber die Verwundung ist gar nicht nötig. Welchem Soldaten müßte man erst sagen, daß auf Kampf und Sieg die Freude einer gehobnen Stimmung folgt? Wenn das Verzagen niedergerungen ist, wallt der Lebensmut hoch auf. Wir kämpfen gegen uns selbst, reißen uns von unserm eignen Ich los, das uns niederzieht, und dieses Loskommen von sich selbst stärkt zu Werken der Demut, die beseligen. Was im gewöhnlichen Leben die Stimmung trübt: Empfindlichkeit, Ärger, Eitelkeit, Ekel, gibt es da nicht. Die Aufgaben, die wir uns setzen, hören nie auf, sie ziehn das Schifflein unsers Lebens durch die Flut der Zeit, die Wellen rauschen so frisch und hell daneben auf, kein Augenblick ist bei solchem Wandel zu verlieren, jeder hat seinen Zweck, seine Aufgabe. Das Aufsichbesinnen führt zu nichts. So muß unser Leben beschaffen sein, daß sich eine Forderung des Augenblicks an die andre reiht, und in dieser Kette keine Lücke bleibt, durch die du einen Blick in das Rätsel deines Daseins gewönnest. Besinne dich auf dein Tagwerk, das reicht aus.

Zu dem Theologen im Waffenrock sagte eine Schwester über ihren Dienst: Der Töchter natürliche Dienststätte ist das Elternhaus, sie können nur einen viel schwerern Dienst antreten, wenn sie diese verlassen, denn in der rechten Dienstbarkeit gibt es nur ein Avancement zu den größern Lasten. Das ist freilich auch immer ein Fortschritt zu größerer Zufriedenheit und mehr innerer Klarheit. Wenn sich das Auge der weltlichen Gewohnheit entäußert hat, beständig zwischen groß und klein zu unterscheiden, und nun immer das Große im Kleinen sieht, hat die Welt keinen Reiz mehr für uns. Heimweh? Welches Heimweh meinen Sie? Das Heimweh, das zurückschaut, oder das Heimweh nach dem Frieden, der Ruhe vor uns? Wir schauen vorwärts. Auch darin ist unser inneres Auge anders gewöhnt. Vielleicht ist kein Vorwurf, den man uns macht, berechtigter als der des geringen Interesses für Familienangelegenheiten unsrer Kranken. Sie unterhalten uns von nichts lieber als davon und fordern natürlich unsre Teilnahme dafür; wir aber, gewohnt nach oben und nach unten zu sehen, verstehn nicht mehr so recht zu unterscheiden, was draußen jenseits der Mauern unsrer Krankenzimmer vorgeht. Vielleicht, sagte sie lächelnd, verstehn wir uns eben deshalb so gut mit den Soldaten, die sich ja auch aus ihren Familienbanden haben lösen müssen, um in neue Verbindungen einzutreten, die vorübergehend vielleicht fast so fest wie die unsern sind.

*

Meine Erinnerungen haben mich weit über die Räume des alten Lazaretts hinausgeführt, wo ich die ersten Erfahrungen im Krankenleben und -sterben sammelte; ich möchte noch von den letzten Tagen erzählen, die ich darin verlebte.

Bis Ende November hatte uns die rauhe Wirklichkeit des Kriegs in unsern Krankensälen verschont. Nur Botschaften und Gerüchte drangen zu uns, sie kamen von ziemlich weit her, denn unsre Truppen waren seit Wochen im Vordringen; auch brachten die Transporte nur einzelne Verwundete, und die Gerüchte erzählten auch nur von einzelnen Gefallnen. Daß es nicht so bleiben werde, war klar. Die ersten Sturmvögel waren wie gewöhnlich die Franzosen selbst, die Bewohner der Stadt, die kecker wurden, sich in auffallend großer Zahl auf den Straßen versammelten und einander wichtige Nachrichten zuzuflüstern hatten. Wir hörten davon durch die Krankenwärter, die manchmal etwas niedergeschlagen von ihren Gängen in die Stadt zurückkehrten, und durch einen der Unterärzte, der leider gar kein Held war, sondern in der häßlichen nervösen Feigheit der Gebildeten alles schwarz sah und Befürchtungen sogar uns gegenüber an den Tag legte.

An einem der früh dunkeln Dezembernachmittage hörte man ein stärkeres Gewehrfeuer, dichter als sonst und ohne Zweifel rasch näher kommend. Der jüngere Arzt, der von uns allen am wenigsten zu fürchten hatte, kam in etwas aufgeregter Stimmung in den Saal, befahl allen denen, die irgend transportfähig seien, sich bereit zu machen, auf den ersten Befehl mit der hartbedrängten Besatzung abzumarschieren, bezeichnete schon einige Leichtverwundete, die marschfähig seien, und andre, für die Wagen zu requirieren wären; von der Mehrzahl, die übrig blieb, sprach er nicht; man wußte zur Genüge, daß sie dem Feind in die Hände fallen würde. Das tiefe Schweigen unterbrach ein Typhusrekonvaleszent, Schlesier, angeblich Jude, mit der angebrachten Frage, ob die weiße Flagge mit dem roten Kreuz bereit sei, unter der man sich etwaiger Übergriffe der siegreich eindringenden zu erwehren habe. Der Arzt verriet seine Nervosität uns in solchen Dingen empfindlichen Soldaten dadurch, daß er nicht das in solchen Fällen übliche »Halten Sie das Maul, bis Sie gefragt werden« fand, sondern etwas Unsicheres brummte. Außen kam das Gefecht offenbar näher, am offnen Fenster hörte man Trompetensignale, Trommeln, die zu einem Sturmangriff einschlugen: Die brummen, es sind französische, unsre klopfen heller, sagten unsre Kenner; dann Salven: siebengliedrig, die war gut, das waren Unsre. Dann wiederholte Salven und zerstreutes Gewehrfeuer, das sich entfernte. Unterdessen hatte sich alles fertig gemacht, was nur gehn konnte, und es stellte sich im Mittelgang des Saales eine Elitetruppe auf, in der jeder Einzelne würdig gewesen wäre, einem Karikaturisten als Modell zu dienen. Verbundne Köpfe, umwickelte Hälse, Arme in Schlingen, Füße in Bekleidungen jeder Art und Größe, und auf das alles die Uniformstücke gezwängt, der Tornister auf- und das Seitengewehr umgeschnallt, so stand die mehr als falstaffische Schar von neunzehn angeblich marschfähigen Lazarettgenossen unsers Saales Gewehr bei Fuß. Einige packten noch in Tornister und Brotsack, was sie an Brotkrumen finden konnten. Es war sicherlich eine lächerliche Gesellschaft, und so mochte es auch jedem Einzelnen davon vorkommen, wenn er seinen Nebenmann ansah. Aber der Ernst der Lage und die Disziplin wirkten auch hier Wunder. Diese Jammergestalten stellten sich in Reih und Glied, die Flügelmänner waren gleich herausgefunden, und ein pommerscher Unteroffizier, dem der Helm ganz sonderbar auf dem verbundnen Kopf schwankte, stellte zurecht, teilte Sektionen ab, kommandierte »Stillgestanden!« und ließ »In Reihen gesetzt, rechtsum!« machen, dann Front, worauf er erklärte, in Reihen gesetzt würden wir abmarschieren, wenn der Befehl dazu käme, jetzt sollte sich jeder einstweilen an seinen Platz begeben. Das Gewehrfeuer hatte sich indessen offenbar immer weiter von der Stadt weggezogen, doch blieben unten im Hof die Wagen bespannt, die vorhin aufgefahren waren, und jetzt hörte man, wie einzelne beordert wurden, in der Richtung auf Longpré hinauszufahren, um Verwundete hereinzuholen. Noch an demselben Abend wurden unserm Saal zwei Leichtverwundete zugeteilt, ein Musketier und ein Sergeant, die das Gefecht des Nachmittags mitgemacht hatten und noch Zeugen des Rückzugs der Franzosen gewesen waren. Ich sehe den Sergeanten, dem zwei Finger der linken Hand abgeschossen waren, vor mir, wie er mit Begeisterung die drei siebengliedrigen Salven schilderte, die seine quer über die Straße liegende Kompagnie in die Franzosen abgegeben hatte, die man auf fünfzig Schritte hatte herankommen lassen. Mit Recht war er besonders stolz darauf, daß kein Schuß vor dem Kommando losgegangen war. Das war ein Unterschied, das Heckenfeuer von den Franzosen, das nur so prasselte, und unsre Salven, ein Unterschied, wie wenn ihr kleingespaltnes Kienholz oder einen buchnen Klotz in den Ofen legt. Ja, Salven kann man gar nicht genug üben, fügte er hinzu, als ob er sich vornähme, gleich bei der Rückkunft in die Garnison diese Kriegserfahrung kräftigst auszunutzen.

*

Die letzten Gefechte hatten zahlreiche Verwundete gebracht, und der frühe Frost viele Kranke. Da wurde es nun Ernst mit dem »Evakuieren.« Zwei Tage nach diesem aufgeregten Abend hielten Leiterwagen, mit Stroh gefüllt, in denen zwanzig von uns ein paar Etappen weiter rückwärts befördert wurden. Daß wir erst in Lunéville Halt machen würden, wußten wir damals nicht. Es war eine kalte Fahrt, auf der einige von uns die Lehre, daß man bei fünfzehn bis zwanzig Grad unter Null unbeweglich auf dem Stroh offner Wagen liegend die Zehen erfriert, wenn man nicht die Stiefel auszieht und die Füße mit Stroh umwickelt, mit erneuter Erkrankung bezahlten.

Ganz andre Lehren trug ich aber in meinem Innern mit. Dem Lazarett, wo ich genau vier Wochen gelegen hatte, sagte ich mit dem Gefühl Lebewohl, reicher zu gehn, als ich gekommen war. Den Krieg, den ich bis zu meiner Verwundung wie einen abwechslungsreichen Spaziergang mitgemacht hatte, lernte ich hier von der ernstesten Seite kennen. Früher hatte mich schon der Gedanke an eine chirurgische Operation aus einem Krankenzimmer vertreiben können, und an den Ausbruch epileptischer Krämpfe, dessen Zeuge ich mehrmals gewesen war, hatte ich nur mit Grausen zurückgedacht. Hier erfuhr ich nun zum erstenmal den Segen der Selbstaufopferung, der vielen edeln Menschen das Leben erst lebenswert macht. Nun übertrug sich die Kameradschaft mit Gesunden ganz selbstverständlich in das Selbstgebot tätiger Teilnahme an den Leiden der Kranken. Ich habe mit der Zeit meinen Aufenthalt und meine Tätigkeit als eine Art von freiwilligem Lazarettgehilfen liebgewonnen.

Im Rückblick auf diese Erfahrungen erkenne ich, daß sich in dem alten Lazarett von D. Ereignisse von entscheidender Bedeutung für mein ganzes Leben abgespielt haben. Und zwar wurde mir klar, daß es wohl wichtig für einen Mann sei, dem Tode nahe ins Auge geblickt und erfahren zu haben, daß ihm das ohne Zittern möglich sei, daß aber eine höhere Art von Mut dort auf die Probe gestellt werde, wo man tagtäglich mit dem Tod umgeht und mit dem Opfer auch der niedersten Dienste den Menschenleben, die der Tod schon in der Hand hat, ein mildes Hinübergehn erkauft. Ein Mensch ist nicht fertig, der nicht letzte Dienste erwiesen, Sterbende bis an die Schwelle der Ewigkeit begleitet hat. Was du einem Sterbenden tust, und wäre es nur, daß du ihm die Augen zudrückst oder die Schweißtropfen abwischst, ist ein letzter Dienst. Bedenke, was das heißt, ein letzter! Sterben heißt die Grenze zweier Welten überschreiten, der Sterbende steht in der Zeit und sieht in die Ewigkeit hinüber, du aber bleibst einstweilen noch hier. Ist es dir nun nicht, als fiele durch diese Spalte zwischen Zeit und Ewigkeit ein Strahl, der uns sonst nie, nie leuchtet, auf unsern Weg? Dieser Strahl heiligt den Sterbenden, und er ist es, der deinen Dienst am Sterbebett verklärt.


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