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Das Hervortreten Bayerns bedeutet für das ganze westliche Süddeutschland eine Verschiebung der seit Jahrhunderten gewordnen Verhältnisse. Wer hätte die Erhebung des »weit hinten« liegenden Münchens zur Hauptstadt Süddeutschlands vor einem halben Jahrhundert für möglich gehalten? Seitdem Augsburg und Ulm mit dem scheidenden sechzehnten Jahrhundert ihre große Handelsstellung eingebüßt hatten, hatte sich das Land östlich von der Alb und der Regnitz immer mehr nach Osten zu geneigt, dem Lauf seines großen, damals für den Verkehr ganz anders maßgebenden Stromes folgend, während der Westen von der großen atlantischen und westeuropäischen Entwicklung rheinwärts und niederlandwärts gezogen wurde. Wien und Frankfurt wollten die Hauptstädte Süddeutschlands sein, aber beide waren zu exzentrisch gelegen, um das sein zu können, was dann München in so hervorragendem Maße geworden ist. München ist zunächst an die Stelle sowohl Regensburgs als Augsburgs getreten und hat auch nicht wenig von dem übernommen, was einst Nürnberg gehabt hat, nämlich Bedeutung in Kunst und Kunstgewerbe. Man kann München nicht die geistige Hauptstadt Süddeutschlands nennen; eine solche zu entwickeln ist ja unter deutschen Verhältnissen glücklicherweise überhaupt nicht möglich. Da würde sich vor allen Stuttgart schön bedanken! Aber allerdings übt München nicht bloß durch politische Mittel und als Verkehrspunkt seine Anziehung aus. In seiner Bedeutung sind geistige Elemente, die man sich aus dem Gesamtleben Deutschlands nicht mehr hinausdenken kann. Zu dem, was dem Antlitz des heutigen Deutschlands geistigen Ausdruck verleiht, trägt außer Berlin München das meiste bei. Welcher Gegensatz zu der Zeit, wo Bayern am geistigen Leben West- und Norddeutschlands kaum Anteil nahm!
Man liebt es, das geistige Leben und Schaffen Münchens als eine zarte Pflanze darzustellen, für deren Gedeihen durch Ludwig den Ersten und Maximilian der ganz unkultivierte Boden mühsam habe zubereitet werden müssen. Nichts ist unrichtiger als das. München ist zunächst Kunststadt geworden, weil es die Hauptstadt der künstlerisch begabten Stämme der Bayern, Franken und Schwaben ist, in deren schönen, heitern Ländern die Kunstübung auch in den scheinbar dunkelsten Zeiten nie so heruntergekommen war wie in den meisten Gebieten Norddeutschlands. Welche Dorfkirchen hat hier noch das achtzehnte Jahrhundert hingestellt! Ludwig der Erste hätte in seinen Bemühungen, eine deutsche Kunststadt zu schaffen, keinen Erfolg gehabt, wenn er nicht an künstlerische Traditionen in so manchen Teilen des Landes hätte anknüpfen und schlummernde Talente hätte wachrufen können. So beurteilt man auch die heutige Stellung und die Wirkungen der Kunststadt München ganz falsch, wenn man nicht berücksichtigt, wie empfänglich die Bayern für Kunst sind, und wieviel Künstlerisches landauf landab geschaffen wird. Der Bauer, der weit hinten im Trauntal sein Haus mit der Gestalt des heiligen Georg und des heiligen Florian bemalen läßt und auch seine Freude daran hat, wenn ihm der Maler das kleine Austräglerhäusl von oben bis unten blau und weiß mit bayrischen Rauten tüncht, daß es »lustig ausschaugt«; der einsame Pfarrherr, der die Engel der Sistina mit hingebender Liebe für ein noch einsameres Bergkapellchen malt; der Schnitzer von Berchtesgaden oder Ammergau, der »Herrgöttle« im Dutzend schneidet, dann aber in den Mußestunden sich in eine figurenreiche Krippe vertieft, die nach Jahren als echtes Kunstwerk ersteht, dessen größter Gewinn für ihn allerdings die Freude am Schaffen ist; der Allgäuer Hirtenbub, der, zum Akademiker fortgeschritten, eine tiefempfundne Kreuztragung in sein altes, graues Dorfkirchlein stiftet – das sind alles Träger bayrischer Kunst, die dafür sorgen, daß die Freude an Formen und Farben im Volke lebendig bleibt, denen es aber auch zu danken ist, wenn den Münchner Kunst- und Kunstgewerbestätten immer neue Kräfte zufließen. Überall in Bayern ist die Freude an der künstlerischen Ausschmückung des Daseins ein Erbteil des Volkes. Welche Brunnen haben sich kleinere bayrische Städte von Lindau bis Traunstein in den letzten Jahren gesetzt, wie schön sind die Rathäuser erneuert, und was für Kirchen sind z. B. allein in München neuerdings gebaut worden. Das sind ganz andre Wirkungen, als wie sie die einseitige Denkmalsmanie mit ihren langweiligen Wiederholungen in andern deutschen Ländern gezeitigt hat. Und dazu kommen die leicht verbreitbaren Erzeugnisse der Malerschulen, der Glasmalerei, die Reproduktionen und vor allem das Kunstgewerbe. Die Bedeutung der bayrischen Kunst lernt man nicht in den gehäuften Ausstellungen des Münchner Glaspalastes kennen. Zu ihr gehört auch das dörfliche Wirtsschild, auf dem ein froher Künstler den dicken Wirt vor dem Faß in imposanter Rückenansicht dargestellt hat, zu ihr gehören prächtige Scheibenbilder, die vom Giebel eines Forsthauses herabschauen, Geschenke kunstliebender Weidmänner, und sogar die bis auf die Uhr und das Handtuch täuschend an die Holzwand gemalte Zimmerausstattung, die man vor Jahren in einem primitiven Wirtshaus des Isartales bewundern konnte.
Und das alles muß man sich in eine Natur hineindenken, die der künstlerischen Phantasie sehr viel bietet. Die bayrische Hochebene ist allerdings, wie ihr Name sagt, an vielen Stellen eben. Wer mit der Eisenbahn von München nach Augsburg oder nach Dachau fährt, sieht um sich herum nur Moor, Heide, Wiese und Acker. Geht man aber eine halbe Stunde isaraufwärts, so steht man an der Pforte eines tief eingeschnittnen Tales, dessen Hänge einen der schönsten Buchenwälder tragen, und von dessen moränenbesetzten Rändern sich rechts und links eine im kleinen Rahmen ungemein mannigfaltige grüne, waldreiche Landschaft ausbreitet. Es ist die ernst-liebliche Landschaft, in die der grüne Würmsee und mit ihm Hunderte von kleinern Seen eingesenkt sind. In Harlaching bei München bezeichnet eine Denktafel den Ort, wo Claude Lorrain gemalt und seine Bewunderung des oberbayrischen Himmels mit seinem reichen Licht und seinen feinen Wollengebilden ausgesprochen haben soll. In den Akten ist das nicht; die Hauptsache ist aber, daß es in der Natur ist. Der Himmel hat über der Hochebene, trotz des rauhen Klimas, eine wunderbare Klarheit, und wenn die Sonne scheint, ist sie lichtreicher als unten im Tiefland. Ich kam einmal mit einem Münchner Hygieniker zusammen, der behauptete, die den Fremden anmutende Lustigkeit der Oberbayern sei vor allem dem vielen Licht in ihrer Atmosphäre zuzuschreiben. Ich glaube mehr an die Mitgift der Stammeseigenschaften und an die im allgemeinen leichtern Lebensbedingungen im dünnbevölkerten Land, wiewohl es sehr eigentümlich ist, daß die Zierden der humorvollen oberbayrischen Dialektdichtung, Kobell und Stieler, Kinder Eingewanderter waren, jener von einem pfälzischen, dieser von einem sächsischen Vater. Aber die Fliegenden Blätter sind allerdings echte Münchner Kindln, und so sind es auch die heitern Volksstücke, die das Gärtnertheater und die Schlierseer in ganz Deutschland populär gemacht haben. Von den Letzten aus König Maximilians Dichterkreis ist Paul Heyse im Münchner Licht alt geworden und Berliner geblieben, und Hermann Lingg, bayrischer Schwabe, ist in seinem lieben München ernst und tief geblieben, wie er am Schwäbischen Meer geboren wurde. Freuen wir uns trotzdem der hellen Sonne Oberbayerns – wenn sie scheint.