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Die Königin der Nacht

Das Märchen bringt die verlorne Krone dem unerkannten Königskind in Höhlen, im Waldesdunkel, in düstern Köhlerhütten zurück, und in ähnlichen dämmerigen Umgebungen findet der in süßer Hoffnung die Welt durchfragende Prinz die Prinzessin, die seiner harrt wie ein Veilchen im Gebüsch, und wenn sie hinaustreten, wissen sie nicht, ob ihr Glück sie mehr blendet oder der Lichtstrom des hellen Tags der wirklichen Welt. Auch ich sitze manchmal in einem lichtarmen und dämmerungsreichen braunen Kämmerlein, von Märchenduft umweht, in Träume versunken. Es ist aber ein gastlicher, ob seiner gemütlichen »Umwelt« berühmter Raum: die Trinkkemenate des ... Hofs in einer Stadt Mitteldeutschlands. Nur handelt es sich für mich nicht um Märchen, die mich darin besuchen; von denen muß ich leider mit Rudolf Baumbach sagen:

Also wars in alten Zeiten,
Heute kommt das nicht mehr vor!

Vielmehr trage ich selbst die Märchengedanken hinein und suche sie dort mir zu deuten und zu erklären. Denn mir ist die ganze Schöpfung ein Riesenmärchen, und jede Schuppe von einem Schmetterlingsflügel ein tiefes Geheimnis. Deshalb erlebe ich jeden Tag merk- und denkwürdige Geschichten, und über diese Rätsel der Wirklichkeit sinne ich dann in dämmernder Erholung in diesen vier dunkelgetäfelten Kubikmetern, deren zwei weißverhängte Fensterchen auf einen Gang gehn, der einen andern, im rechten Winkel auf ihn stoßenden fragen muß, wie es draußen aussieht, wenn er vom Wetter und von der Gasse etwas wissen will. Ein Luftloch, das man glücklicherweise schließen kann, durchbricht die braune Rückwand nach einem andern Dämmerraum, aus dem die Stimmen gedämpfter Unterhaltungen und der zinnerne Wohlklang zugeklappter Deckelkrüge herüberdringt. Meist sitzen einsame Zecher darin, und man muß ihr Idiom kennen, um mit ihnen Zwiesprache halten zu können. Durch lange Übung verstehe ich ein bißchen davon; das langsame Öffnen des Deckels, dem ein stiller Blick auf den rahmigen Schaum folgt, dann ein Schluck, und ein sachtes Zuklappen verraten mir den Gast, der gute Stimmung, etwas wie Weihe, mitgebracht hat. Wenn ich das höre, fühle ich mich von gleichgestimmter Seele angehaucht und antworte, indem ich mein eignes Behagen noch vertiefe, hoffend, es werde durch Lehne und Wand hinüberwirken. Dissonanzen von heftig zugeklappten Deckeln, die wie Ausrufe des Ärgers klingen, oder von unmutig weggerückten Krügen, die an Seufzer erinnern, nehme ich nicht hoch auf, weil ich aus Erfahrung weiß, daß eine braune Dämmerung, vereint mit einem guten Trunk, Balsam in die Wunden von »tausend Pfeilen des Geschickes« gießt, und daß diese Heilmittel vor vielen andern den Vorzug rascher Wirkung haben, meistens schon nach dem ersten Krug.

Von der Decke meines kleinen Gemachs hängt über dem alten Tisch die Lampe, deren Licht man dämpfen kann. Man läßt sie ohnehin so spät wie möglich anzünden, denn es ist nicht zu verkennen, daß ihr gelber Schein ein Fremdling in diesen Räumen ist, der die darin urheimische Dämmerung in die Ecken und Winkel verdrängt und sich mit einem stimmungswidrigen Lichtkreis, den er auf Tisch und Decke wirft, als Herrschender bekunden möchte. Man braucht kein Licht, um zu sinnen. Um aber Zeitungen zu lesen oder naschige Speisen zu genießen, zu deren kritischer Verzehrung man Licht nötig hätte, ist das offenbar nicht der Ort. Psychologisch kann ich es nicht begründen, kenne und fühle es aber als sichere Tatsache, daß helles Licht den Gehalt der Luft an irgendeinem traumfördernden Etwas beeinträchtigt. Nervenmüden sollte man dämmerige Räume anweisen, sie nicht auf sonnige Meeresufer oder in Täler versetzen, wo das Licht von hellgrauen Kalkfelsen zurückstrahlt. Unsre Voreltern fühlten sich in ihren kleinfenstrigen Stuben wohler als wir in unsern lichtreichen, und so tun es noch heute die Bauern. Licht mag für vieles gut sein, aber in der Dämmerung ruht sich der Geist in Träumen aus.

So saß ich eines Spätsommertags im braunen Stübchen, sann dem Grün des heißen Waldes nach, den ich eben durchwandert hatte, und probierte es mit der Erinnerung an die seltsamen Lichtgestalten, die die Sonnenstrahlen, wenn sie noch in starkem Winkel einfallen, zwischen den Blättern der Bäume durch auf den Boden zeichnen.

Es gelang nicht recht. Klar war mir wohl die Eigentümlichkeit der Lichtumrisse, die die krausen Zwischenräume des Eichenbaumschlags zeichnet, und daß sie auch anders gefärbt sind als unter Buchen, deren Blätter wie grüne Transparente wirken, und unter Föhren, an deren Rinde rötliche Töne herabrinnen. Aber es war so schwer, die höchst willkürlichen Gestalten festzuhalten. Man muß sie einmal photographisch festlegen, sagte ich mir, wie es sicherlich schon längst gewissenhafte Landschafter getan haben. Schade, daß die Wissenschaft nicht engere Freundschaft mit der Kunst hält, meditierte ich weiter. Hier ist nun ein Gegenstand, der wissenswert ist, den z. B. die Naturschilderung recht wohl beachten sollte, und von dem doch wahrscheinlich nur ein paar sinnige Landschafter Bericht zu geben wissen. Kann mir einer der vielen reisenden Botaniker sagen, wie sich der Schatten und das Licht in den Wäldern der verschiednen Zonen abstufen und nebeneinander legen, und in was für Farben? Ich erinnere mich an tropische Landschaftsskizzen, ich glaube aus Brasilien, von dem Karlsruher Keller; da war eine überwältigende Masse von grünem Licht unter den Bäumen, eine wahre grüne Dämmerung, aber nicht nur zu fühlen, zu greifen war es. Ob nun dort die Menschen ebenso grünmüd werden wie wir Bewohner von Städten und Kultursteppen rot- und gelbmüd, und sie dann ebenso gern etwa ein Klatschrosenfeld betrachten wie wir eine grüne Wiese? Ich bin ja auch durch tropische Urwälder gewandert, aber leider zu einer Zeit, wo mein Sinn für diese Dinge noch nicht offen war. Immerhin erinnere ich mich doch, daß es mir manchmal des Grünen zuviel wurde, besonders in einem Gebirgstal, wo die Hänge hinauf Farnbäume in lichten Hainen standen, der Boden mit großem Bärlappmoos dicht bedeckt war, dessen Hellgrün fast leuchtete wie Leuchtmoos in Fichtelgebirgsgrotten, an dem Wasserrand große Begonien sich ausbreiteten, und zum Überfluß sich noch ein mannslanger grüner Leguan auf dem Felsen sonnte; da strebte ich allerdings in die Höhe aus dieser grünen Welt hinaus und freute mich, als ich auf sonniger Halde heidenartiges Gebüsch, zwetschenbaumähnliche niedrige Eichen, die mit Orchideen beladen waren, und andres sah, was gelblich und graulich schimmerte. Ob soviel Grün nicht entnervend wirkt? Dem Rot, der Gegenfarbe, wird ja einstimmig ein heroischer Charakter zugeschrieben.

Wie merkwürdig lag diese grüne Riesenechse da! Ist es nicht auffallend, daß die Natur in den Tropen, nicht zufrieden mit der Fülle des Grüns in den Pflanzen, auch noch so viele grüne Tiere schafft? Grüne Reptilien, grüne Schlangen, grüne Frösche, besonders aber die zahlreichen grünen Vögel. Während du den fetten Leguan betrachtetest, flog über dir ein grüner Papageienschwarm in lebhaft plaudernden Pärchen weg. Sogar in einer Tiergruppe, die sonst wenig grün hat, in der der Schmetterlinge, schuf die Natur in den Tropen Grüne. Seltsam, diese Wiederholung. Ich möchte es nicht Laune nennen, denn es handelt sich um Werke des Schöpfers. Aber seltsam mutet es an. Sollte das Warum unfindbar sein?

Der Bote, der in diesem Augenblick hereintrat, sah nicht gerade wie aus dem Märchen aus, wenn ich von seiner roten Dienstmannsmütze absehe, die an den verregneten Hut des Täublingspilzes unsrer Herbstwälder erinnerte. Aber märchenhaft klang die Botschaft auf zierlichem Kärtchen, deren Träger er war: »Die Königin der Nacht ist im Begriff aufzugehen. Verlieren Sie keine Zeit. Kommen Sie.« Der erste Gedanke schweifte mondwärts; aber der Name des Unterzeichners, eines bekannten Kaktuszüchters, brachte ihn dann sogleich in die Wirklichkeit zurück. Noch nie hatte ich das Glück gehabt, Cereus grandiflorus in Blüte zu sehen. Es war also selbstverständlich, daß ich dem Rufe ohne Zögern folgte. Dieser Kaktuszüchter war, wie alle seinesgleichen, ein etwas sonderbarer Herr; um so liebenswürdiger, daß er bei diesem Anlaß an mich dachte. Erinnerte er sich vielleicht unsers neulichen Gesprächs über die merkwürdigen Beobachtungen des genialen märkischen Rektors Sprengel, der fast ein Jahrhundert vor Darwin die Beziehungen zwischen Blütengestalt und Insekten mit unendlicher Liebe und Sorgfalt untersucht hat? Der platte Vielschreiber Lubbock, dessen geschwätzige Bücher deutsche Verleger sich beeilen, frisch aus dem Ofen übersetzen zu lassen, hat übrigens seiner jüngst wieder herablassend als eines armen deutschen Schulmeisters gedacht!

Rasch überschlug ich bei diesem Ruf die Summe meiner kakteologischen Erinnerungen. Es tauchten vor mir auf Säulenkaktusse von architektonischer Regelmäßigkeit, die in den Trockenwäldern des pazifischen Saums von Mittelamerika einsam groß und still den mittlern Baumschlag überragen, und an die kleinen im Rasen versteckten Opuntien der Bergwiesen des Felsengebirgs von Colorado, bei deren Berührung dem enttäuschten Wandrer klar wird, daß sogar in den Alpenmatten bei dreitausend Metern Meereshöhe ein fühlbarer Unterschied zwischen der milden Natur Europas und der rauhen des westlichen Kontinents besteht. Auch Schlangenkaktusse, die in regenfeuchten Hainen Mexikos von den Baumästen hängen, und Melonengestaltige in Felsritzen der Tierra templada grünten wie aus Nebelschleiern in meiner Erinnerung auf. Aber die Königin der Nacht hatte ich noch nie gesehen. Gelesen davon wohl, vielleicht sogar in Adalbert Stifters Nachsommer, wo der Dichter den Herrn des Rosenhauses zum Träger seiner eignen Kaktusliebhaberei macht. Also eine Art Märchenbotschaft sollte mich doch noch in dem dunkeln Kämmerlein erreichen! Ich kann mir zwar diese Kaktusblüte ungefähr vorstellen, es ist aber doch eine Seltenheit, daß man ihrer ansichtig wird, und etwas besondres ist sie schon wegen ihrer Vergänglichkeit; blüht sie doch nur einige Abendstunden und öffnet sich dann nie mehr. Im Grunde ist ja jede Blüte, die wir so recht anschaun, ein Märchen, diese wird aber vermutlich so groß und so schön gebaut sein, daß sie selbst den Stumpfsinn aufrüttelt, der kein Naturwunder erkennt oder anerkennt. Und schon aus diesem Grunde werde ich mir selbst eine Wohltat erweisen, indem ich sie betrachte, weil mein Sinn wieder einmal weit aufgetan werden wird für das Schöne und Große, für das Rätselhafte in der Natur.

Im Vorbeigehn hob ich eine von den doppeltgeflügelten Ahornfrüchten auf, die das Gewitter der letzten Nacht auf den Boden der baumbesäten Anlage geworfen hatte. Es ist ja im Grunde auch ein kleines Wunder, diese ganz gleichmäßige Ausstattung von Billionen von Baumsamen mit zwei symmetrischen Blattflügeln, die so fein gezeichnet und angeblich so wirksam sind, das schwere Ahornkorn zu vertragen. Und ist nicht der Wiesengrund, den nun schon Spätsommer- und Frühherbstblüten: Skabiosen, Euphrasien, kleine Potentillen mit vierblättrigen Blütchen, Habichtskräuter durchsticken, auch ein großes Wunder? Jedes Pflänzchen, das sich da so bescheiden neben das andre drängt, ist die äußerste Spitze eines Zweigs an dem großen Schöpfungsbaum, dessen Krone die Erde mit Gesteinsschichten vergangner Perioden bedeckt, und seine Abzweigung von einem andern reicht Millionen von Jahren in die Vorzeit zurück, und der Ast, dem beide entsprossen sind, noch viel mehr Millionen, und zuletzt sehe ich den ganzen Stamm des Reichs der Blütenpflanzen tief in der Erde, wo die Steinkohlen liegen, sich von dem alten Strunke der blütenlosen Sigillarien, Riesenfarne und Riesenbärlappe trennen. Ja es ist eine historische Gesellschaft, diese kleinen Wiesengewächse, mit unabsehbaren Ahnenreihen; ihre gleichmäßige Oberfläche kommt mir wie ein Querschnitt durch ein uraltes Stück Erdgeschichte vor.

Bei dem kaktusfreundlichen Manne saßen Männer, Weiber, Kinder und Hunde beisammen und bewunderten die Königin der Nacht, die binnen einer Stunde mehrere volle Strahlenkränze rein weißer Blüten entfaltet hatte. Es war wie in einem Kindbettzimmer. Man prüfte und lobte die Neugebornen und aß, trank und rauchte leichte Dinge dazu, die der Gelegenheit angepaßt waren. Für den Leser, der den Cereus grandiflorus noch nicht persönlich kennt, will ich eine kurze, unbotanische Beschreibung hinzufügen. Er denke sich ein Stämmchen wie eine vertrocknete Schlange, deren Wirbelsäule kantig durch die fest anliegende Haut sticht, das sich unter mancherlei Windungen hinab und hinauf verzweigt. Außer winzigen Stacheln trägt es dünne strohhalmähnliche Hautanhänge, Luftwurzeln. Die Wurzeln sind so eingerichtet, daß sie durch dürren Sand tief bis auf eine feuchte Schicht hinabstreben können, aus der sie die paar Tröpfchen saugen, die das durch seine harte Haut gegen Verdunstung geschützte Gewächs für die Blütezeit aufspeichern wird. Ich denke mir es aus seinem irdnen Topfe heraus in das Tal einer Sanddüne, die an eine mexikanische Basaltklippe angeweht ist. Weißer Sand, bräunlicher Stein und ungetrübter blauer Steppenhimmel: so denke ich mir die ursprüngliche Umwelt der Königin der Nacht. Die Farbe des Steins ist in ihrem Stämmchen, das Zweig und Blatt zugleich ist, die Farbe des Schnees ist in der Blüte, das Gold der Sonne in den Staubfäden, die sich in einem leuchtenden Strom aus der Blüte ergießen; die Sonne selbst aber ist in der Strahlenform der Blüte, die aus zahlreichen schmalen Blumenblättern besteht, deren Weiß etwas durchschimmerndes hat, das du nur mit zartem Papierporzellan vergleichen magst. Wenn man das Vergrößerungsglas anwendet, sieht man, daß der eigentümliche bleiche Glanz dieser Blüten von der körnigen Beschaffenheit der Oberfläche der einzelnen Blumenblätter kommt. Ich kenne Kaktusblüten von bläulichem Purpurrot und reinem Weiß der zarten Staubfädenbüschel, die glänzender sind, aber keine, die an stiller Majestät mit diesen großen blassen Sternen wetteifern könnten. Da ist wirklich etwas Königinnenhaftes, eine Mischling von Wehmut und von Lust, und die stille Frage scheint aus jedem Blumenkelchlein hervorzuhauchen: Warum blühe ich hier in dieser fremden Welt? Und warum ist der Weg so klein von der Blüte zum Welken? Auch der Gegensatz zwischen der Pflanzengestalt und dieser Blüte ist ergreifend. Bei andern Kakteen ruft der Unterschied zwischen der kristallinischen Starrheit der höchst regelmäßig gekanteten, gefurchten und bedornten Pflanze zu ihrer zarten Blüte, die wie ein Schmetterling auf einem Kristall sitzt, unser Staunen wach. Hier ist es Armut und Reichtum, Bettlergewand und Strahlenkrone. Wahrlich, es ist ein Märchen, das uns diese vergängliche Blüte erzählt. Und wenn man bedenkt, daß sich in ihrer Heimat Tausende von diesen Blüten öffnen, ohne daß ein menschliches Auge sie sieht, so scheint der Reichtum und die Schaffensfreude der fruchtbaren Mutter Natur vernehmbar aus ihr zu sprechen. Für jahrelanges Mühen und Kargen im Aufbau des dürren Stengel- und Blättergerüsts siehe hier den Lohn in der überraschenden Blütenschönheit, der nur ein Alter von einigen Stunden beschieden ist.

Bei uns war zum Glück kein Zweckmäßigkeitsfanatiker in der Stunde voll Weihe, in der wir das schöne Gebilde betrachteten. Sonst hätte er sicher nicht verfehlt, uns zu belehren, daß eigentlich gar nichts Überraschendes an der ganzen Geschichte sei als höchstens unsre Bewundrung. Es komme eben darauf an, die Fortpflanzung der Spezies Cereus grandiflorus sicherzustellen, koste es, was es wolle. Daher die auffallend große Blüte. Je kürzer ihre Dauer, desto auffallender ihr Äußeres, das bestimmt sei, mexikanische Brummkäfer, eitle Schmetterlinge oder dumme Hummeln anzuziehn, damit sie den Blütenstaub von einer Pflanze zur andern übertragen. Einige Pflanzen erzeugen tausend kleiner Blütchen, die sommerlang duften, andre wenige große, denen eine ganz kurze Lebenszeit beschieden ist. Es kommt eben auf die Umstände an, unter denen das eine und das andre zweckmäßig ist. Im Grunde seien die Einrichtungen vieler Blüten heimischer Pflanzen bemerkenswerter, die z. B. den Zweck erreichten, den Blütenstaub auf das zart behaarte Rückenschild der Biene abzuklopfen, die, wenn sie dann in der Nachbarblüte Honig sammelt, ihn an deren Stempel befruchtend abstreifen müsse. Und nun gar die Fälle von Nachäffung, wo die Nessel die honigreiche Taubnessel nachahmt, sodaß sie von Insekten angeflogen wird, die ihren Irrtum erst einsähen, wenn der Zweck erreicht sei.

Ich sage, zum Glück hatten wir keinen Zweckmäßigkeitsfanatiker unter uns und durften ungehemmt uns unsrer Bewunderung der Schöpferphantasie hingeben, die dieses Werk neben Millionen andrer geschaffen hat. Von des Amethysten, den du am Halse trägst, »veilchenblauem Gewand,« das in einer Bergkluft entstanden ist, wo nicht von Bestäubung, Befruchtung und scharfsinnigem Hinterdaslichtführen törichter Insekten die Rede ist, bis zu der Kunst und Pracht eines Menschenauges ließen wir die Schönheiten der Natur an uns vorübergehn. Wer möchte leugnen, daß es darunter einige sehr zweckmäßige Mechanismen gibt? Wenn Millionen Sandkörner übereinander liegen, werden sich doch wohl einige davon auf das zweckmäßigste eng aneinander passen.

Was wollen aber diese paar Zweckmäßigkeiten sagen, in denen die Natur sich selbst zu helfen scheint, neben der Masse von großen und schönen Bildungen, die nur eine Künstlerphantasie hingezeichnet haben kann? Es könnte ja alles so ganz anders sein, gemeiner, häßlicher. Und in Wirklichkeit, wie weniges in der Natur dürften wir wagen, häßlich zu nennen! Wir wollen es jedoch gar nicht so nennen, denn wir fühlen, daß unser Urteil und unser Geschmack nicht an die Schöpfungen der Natur heranragt. Die Natur hat ihre Schönheitsgesetze, die unabhängig sind von den Existenzbedingungen der einzelnen Geschöpfe. Die Natur tut sich selbst Genüge in der Ausbildung des Schönen, unbekümmert, ob es mir oder der in Blumen honigsaugenden Hummel Nutzen oder Vergnügen macht. Wir kennen und wissen überhaupt nur einen kleinen Teil des Schönen, dessen sie fähig ist, schon weil ungeheuer viele einzelne Geschöpfe und ganze natürliche Verwandtschaftsgruppen untergegangen sind. Was die Schönheiten eines Waldes riesiger Bärlappbäume waren, in denen Vögel noch nicht nisteten und sangen und Schmetterlinge noch nicht flogen, wissen wir nicht. Und welche Kristallbildungen die Erde in ihrem Innern erzeugt, ist uns unbekannt. Wir sehen einen Strom von Fladenlava, die aus Strähnen, Zöpfen, Wirbeln, Knoten des jäh geflossenen Gesteins zusammengewirrt ist, ein Bild der Zerstörung. Daran finden wir nichts Schönes; nur das Erhabne der Einsamkeit unter den gigantischen Masten bewegt uns. Aber bei der Verwitterung dieses ordnungslos hingegossenen Feuergesteins fallen Kristalle von gesetzmäßiger und zugleich zierlicher Bildung heraus, die sich zu ihrer Bildungsstätte wie die Perle zur Muschel verhalten. Für wen war nun diese Schönheit bestimmt?

Wenn man von den Beziehungen zwischen Blumen und Insekten oder honigsaugenden Zwergvögeln spricht, handelt es sich um Tiere mit hoch entwickelten Sinnen. Aber wie ist es mit der in allen Farben strahlenden und schillernden stummen und blinden oder nur Licht, aber kaum Farben empfindenden Bevölkerung des Wassers? Mit den silbernen oder goldnen Fischen, den prächtigen Gärten von Seeanemonen und Korallen, den schöngewundnen Schaltieren, den bunten Nacktschnecken und endlich den an Sinnesempfindung tiefstehenden, aber in zierlichsten Formen gebauten Schleimtieren, die man Radiolarien, Rhizopoden, Schwämme nennt? In der Organisation ihres Körpers, der nichts als ein Häufchen lebenden Schleims ist, stehn sie auf der untersten Stufe, im Bau ihrer Kalk- und Ziegelgehäuse erreichen sie mit das Höchste an Schönheit und Regelmäßigkeit. Diese feinen Gebilde, die überdies größtenteils ungemein klein sind und nur durch das Mikroskop gesehen werden können, haben sicherlich niemand zu gefallen. Sie sind, vergleichbar dem Kristall der Lava, nicht bestimmten Zwecken zuliebe geschaffen, sondern die Natur bildet sie, weil sie sie bilden muß, sich selbst zum Zweck, weil es so in ihren Gesetzen liegt. Nicht selten sind niedere Tiere mit nesselnden Organen von heftiger Wirkung ausgestattet, die jede Annäherung eines fremden Tieres hindern sollen, und zugleich locken sie durch die leuchtendsten Farben und die schönsten Formen an. Wer löst diesen Widerspruch?

In meiner Erinnerung taucht ein Bild aus den bayrischen Voralpen auf. Der Kahn trägt mich auf den lichtbläulichgrünen See hinaus, dessen unteres seichtes Ende eine von weißen und gelben Seerosen dicht durchflochtene Schilfwildnis ist. In den tiefern Gräben fahren wir zwischen unzähligen schwimmenden Blüten dahin, an deren Bau mich einigermaßen diese Königin der Nacht erinnert. Auch die Schönheit der weißen Seerose liegt in dem zarten Weiß der Kränze von Blumenblättern, die die Rosette goldgelber Staubfäden umgeben. Beide wirken zusammen wie ein ungemein symmetrisches Kunstwerk, wenn die Rose auf dem dunkeln Wasserspiegel wie ein Stern schwebt, und der Blick über die Fläche hin ein sternbesätes Firmament zu sehen meint. Eine tiefere Schönheit enthüllt uns die genaue Betrachtung der Blume. Da sehen wir die weißen außenstehenden Blütenblätter langsam in die goldgelben der Mitte übergehn, die immer dünner, fadenförmiger werden, bis sie sich in die Träger der Staubfäden verwandeln, die ihrerseits im Kreise um den kronenförmig ausgezackten Gipfel stehn. Pflücken wir aber die Seerose und betrachten den untern Teil, der den Blicken der Menschen entzogen zu bleiben pflegt, so sehen wir vier grünliche und braunrötliche Blätter, die wie ein Kelch die innere Rosette umgeben und die Knospe vollständig verhüllen, und zwar so, daß immer von rechts her eins über das andre seitlich übergreift. Abwechselnd mit ihnen stehn vier Blätter, gleichsam einen innern Kelch bildend, die schon fast ganz weiß sind; am Grunde sind sie blaßrosenrot, und eine grüne Mittellinie, oft nur angedeutet, zieht bis zu ihrer Spitze, wo sich das Grün noch einmal ausbreitet, den äußersten Rand wie mit einem grünen Farbentröpfchen ausfüllend, das an die zierliche Spitze des Schneeglöckchens erinnert. Nun erst folgen dreimal vier reinweiße Blumenblätter, die nach innen an Größe abnehmen; und alle die zwanzig setzen also aus fünf Vierblätterrosetten den schönen Blütenstern der vollendeten Blume zusammen. So ist eigentlich die der Bewunderung der Fische dargebotne Unterseite der Seerose nicht minder schön als die Oberseite, die uns entzückt.

Es geht ein Grundgesetz der Farbenharmonie durch diese Blüte. Es ist ein allgemeines Gesetz, nur wird es in diesem einen Falle besonders deutlich. Man wird gerade dabei am wenigsten von Zweckmäßigkeit sprechen können, denn es handelt sich um Vorgänge tief im Innern der von doppelten und dreifachen Hüllen eingeschlossenen werdenden Blüte. Keine Farbe tritt schroff neben die andre, sondern von einer führt es in tausenderlei Abstufungen zur andern über, keine ist ganz allein einem einzigen Organe zugeteilt, keine tritt nur einmal, sondern alle treten immer in Wiederholung auf. Man ahnt daraus, was ja dann das Mikroskop recht deutlich zeigt, den mosaikartigen feinern Bau der Pflanzenorgane. Das Rot der Rose ist in Millionen kleiner Farbkörnchen durch das Blütenblatt verteilt, und so jede Farbe. Hier liegen sie dünner, dort dichter, je nachdem der Vorrat groß ist. Dieser aber ist in der Regel innen im Blätterkreis der Blüte größer als außen, und auch in dieser Verteilung herrscht Regel und Gesetz. So wie sich die Masse um den Kristallmittelpunkt oder die Kristallachse streng gesetzlich verteilt, wobei in bewundernswürdiger Gerechtigkeit keine einzelne Seite vor der andern bevorzugt wird, so sind offenbar auch Masse und Farbe in der Blüte aus einer Summe heraus in Teile zerfällt worden, die einander gleich sind, drei, fünf, sechs, sieben oder mehr, je nach dem Bau. Auch hier eine gerechte Verteilung, wenn auch nicht nach scharfen Linien wie im Kristall, und als Folge davon die Bildung der Farbensterne, die von den dreistrahligen bis zu den vollen Büscheln und Blumenkörben der Zusammengesetztblütigen der Ausdruck eines großen Bildungsgesetzes sind. Wir sehen hier überall eine konzentrische Anordnung um das Ende der Achse der Pflanze, die einen großen Teil der Schönheit der Blüten mit sich bringt. Ganz treffend nennt man die kantigen Kaktusse Kristalle des Pflanzenreichs; aber auch die Rose ist ein Kristall von organischer Freiheit; die Kristallgesetze gestalten in ihr den zartesten organischen Stoff. Es gibt sehr schöne unsymmetrische Blüten, man denke nur an die Orchideen, aber die einfache, sozusagen klassische Schönheit ist die der Blumensterne. Darauf führt ja am Ende auch die Schönheit der Blumen zurück, die immer zu den schönsten gehören werden, der Rosen. Und würden die Dichter von den Blumenaugen sprechen können, die uns traulich und doch geheimnisvoll anschauen, wenn nicht die regelmäßige Anordnung der Blätterkreise in der Blume darauf hinwiese? Eine wilde Rose, eine Brombeerblüte, die große Blüte der ahornblättrigen nordamerikanischen Himbeere mit den bläulichroten silberschimmernden Blumenblättern sind Muster von regelmäßigen Sternformen: innen die zusammengeschlossenen Griffel um den Mittelpunkt, dann die goldnen Staubgefäße, dann die Blumenblätter, und zwischen diesen durchschauend die Kelchblätter. Ähnlich die Georginen und die Astern, nur daß bei diesen durch die Vervielfältigung der äußern Blätter die Zahl der Strahlen wächst. Sehr oft sind, wie bei allen diesen, die wir eben genannt haben, die tiefen Farben außen; sogar die purpurroten Spitzen der Gänseblümchen, die lila Spitzen der innen weißen Herbstzeitlose, die Purpurspitzen des Kahnes und der Flügel der Kleeblüten bestätigen die Regel. Aber es kommen auch dunkle Flecke an der Basis heller Blumenblätter vor, besonders schön beim Mohn, bei manchen Lilien und Tulpen, bei den goldgelben Potentillablüten und vielen andern.

Die Farbenverteilung in der Blüte hängt eng zusammen mit der ganzen Massenverteilung, die sich in der Form ausspricht. Das macht ja eben den Eindruck des bewußt Künstlerischen, daß die Farbe die Struktureigentümlichkeiten der Blüte so klar zur Erscheinung bringt, wie die Ornamentik es an einem Bau tut oder tun sollte. Das zeigen besonders schön die geäderten und gestreiften Blumenblätter. Außerdem sieht man bald, daß neben der Verteilung der Farben die Verteilung der Formen auf einen starken Ausdruck der Gesetzmäßigkeit des ganzen Baus hinarbeitet, den wir meinen, wenn wir von dem »Stil« einer Pflanze sprechen. Sehen wir die liebliche Nigella, das Gretchen im Busch an, dessen sinnige Benennung schon anzeigt, daß es eine eindrucksvolle Blumenpersönlichkeit ist. Wie ist hier das Motiv der Zerschlitzung von den ersten Blättern bis zur Blumenkrone folgerichtig durchgeführt: an dem schwanken, kantigen, schlanken Stengel stehn die Blätter spärlich in langer Spirale, jedes einzelne durch das Verschwinden der breiten Flächen gleichsam auf die Grundlinien zurückgeführt, als ob es nur noch aus den Hauptadern eines fertigen Blattes bestünde. Wie schön drängen sich aber dann fünf oder mehr solcher Blätter zu dem »Busche« zusammen, in dem die mildblaue Blume wie im Moose steht, und der die Knospe wie ein Moosbüschelchen einhüllt. Ihre Blumenblätter sind scharf zugespitzt, oft auch zerteilt, und dunkleres Blau verbreitet sich in ihren stark hervortretenden Adern. Der Kranz schlanker Staubfäden und das Büschel weit herausragender Griffel vollenden eine Pflanze von zartem, durchsichtigem Bau, in der die Formen ebenso harmonisch aufeinander gestimmt sind wie das Blau der Blüte und das Blaugrün der Stengel und Blätter.

Die Knospen haben ihre besondre herbe Schönheit. Ich vergleiche Knospen und Blüten der Wiesenskabiose, die Knospen sind dunkelviolett, zusammengedrängt, haben etwas geschlossenes in ihrer ganzen Erscheinung; die aufgeblühte Skabiose kennen wir alle als eine hellviolette, durch die herausragenden Staubfäden haarartig fein gegliederte Blume. Dazu kommen innen die grünen, an der Spitze braunroten Kelchblätter. Die Knospe der weißen Seerose ist grünlichbraun und hat fast die Form einer geschlossenen Teichmuschel. Die Rosenknospen haben bekanntlich schon eine sehr elegante Form wegen der Zuspitzung und Ausfransung ihrer grünen Kelchblätter. Aber doch, welche Überraschung, wenn sie sich entfalten; denn neben der festgeschlossenen, zusammengezognen Knospe ist die voll aufgeblühte, sich ausbreitende Rose eine ganz neue, selbständige Schöpfung. Nur die Unterseite zeigt dann noch die Spuren der zierlichen Hülle, die sich zur Blüte wie die Puppe zum Schmetterling verhält. Mit diesem Knospenzustand der Vorbereitung kann kein einziges von den Zweckmäßigkeitsmotiven der offnen Blume in Verbindung gesetzt werden; so liefern uns also die Formen der Knospen besonders wertvolle Beiträge zu dem Verständnis der innern Gesetze der Blütenbildung

Wir sprachen von der Unterseite der Blüten, die man auch die Rückseite nennen könnte. Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden, ein vitaler im wahren Wortsinn. Die Oberseite ist der Sonne zugewandt, die Unterseite der Erde. Die Oberseite zeigt die reichsten Farben, die Farben der Unterseite gehn entweder in das Grün der übrigen Pflanzenteile über oder sind schon entschieden grün. Daß nun auch die Unterseiten mancher Blüten Farbe zeigen, das mag damit zusammenhängen, daß sie auch Licht empfangen, wenn auch in kleinerm Maße. Die Unterseite der weißen Seerose wird vom Wasser her belichtet, die Kaktusblüte empfängt die von den Felswänden oder dem heißen Boden zurückstrahlenden Licht- und Wärmemengen. Immer ist aber in der der Lichtquelle entschieden zugewandten Seite das »Sonnenhafte« aller Lebensentwicklung deutlich ausgesprochen. Das ganze Pflanzenleben ist ja bekanntlich vom Licht unmittelbarer abhängig als das tierische und das menschliche; es gibt keine grünende und keine Blütenpflanze in den dunkeln Tiefen des Meeres, der Seen, der Höhlen, wo es bekanntlich nicht an Tieren fehlt. Die Blüte bricht aber bei den meisten Pflanzen auf der Höhe des Lebens auf, die mit der Sonne ansteigt. Lichtarmut verkleinert die Blüten. Die Farbenpracht des Hochgebirgsflors ist durchaus nicht bloß auf die Anlockung der Insekten berechnet, sondern sie ist auch durch den Lichtreichtum der klaren Höhen verursacht. Wenn Lenau von den weißberindeten Birkenstämmen sagt, sie sähen aus, als sei der Mondschein daran hangen blieben, so ist es ein schönes, treffendes Bild; wenn aber jemand sagt, es sei Sonnenlicht in den großen und kleinsten Blüten an der Erde haften geblieben, so ist es die volle Wahrheit; denn die Verdichtung des Lichts und der Wärme, die von der Sonne stammen, im Lebensprozeß der Pflanzen schafft die Blütenpracht. Darum liegt auch eine tiefere Wahrheit in jedem Bilde, das die Blumen mit der Sonne verknüpft. Sogar wenn mich eine mit Herbstzeitlosen dicht besäte fahle Herbstwiese an den milden Abendschimmer eines müden Tags erinnert, oder eine Frühlingsau voll Primula farinosa an einen Hauch von Morgenröte, ist die Wirklichkeit kosmischer Beziehungen im Bilde, in der Ahnung.

Ein Stern des Himmels und der Blütenstern, ein Sonnenstrahl und der Strahl dieser Blüte: warum soll es dem Dichter überlassen bleiben, das Große und das Kleine und das Ferne und das Nahe zu vergleichen und daraus ein Bild seiner Rede oder seines Gedichts zu gestalten, das verglüht wie ein Fünkchen? Nein, ich will bei solchem Vergleich verweilen. Was sind mir denn überhaupt in dieser gewaltigen Welt der uns sichtbaren Schöpfung, die sicherlich nur ein Tropfen im Meer ist, Größen- und Entfernungsunterschiede? Das sind ja nur Unvollkommenheiten meiner Wahrnehmung. Sie dürfen mich sicherlich nicht abhalten, die Dinge am Himmel, in denen aus einem Mittelpunkt heraus mächtige Kräfte nach allen Seiten hinausstreben, zu vergleichen mit den Dingen an der Erde, in denen ich dasselbe wahrnehme. Auch diese Teile der Pflanze, von denen uns Goethe zuerst gelehrt hat, wie sie sich in gesetzlichen Spiralen um die Pflanzenachse bald als grüne Blätter, bald als Kelch- und Blumenblätter und bald als Staubfäden reihen, sind aus gesetzlichen Kreisungen der Bildungsstoffe entstanden, eine Weltschöpfung in kleinerm Maße. So wie diese Blume verwelkt, verlöscht einst die Sonne, und beide Welten teilen die Geschichte eines Aufsteigens, eines Höhepunkts und eines Niedergangs.

Was will da ein leichtsinniges Wörtlein wie Zufall sagen? Nur für einen blöden Sinn können die imponierenden Entfernungen der Weltsysteme die Veranlassung zu einem Staunen sein, das er nicht empfindet, wenn er diese Wunderblüte sich öffnen und schließen sieht. Es sind in beiden dieselben Kräfte und dieselben Gesetze. Das eine ist aber so wunderbar wie das andre. Ja, in die Wunder des unendlich Kleinen werden wir aller Voraussicht nach niemals so tief eindringen können wie in die des unendlich Großen. So müßte denn eigentlich das Verborgensein dieses ganzen Cereus von der Wurzel bis zur Blüte und Frucht in einem winzigen Kaktussamenkörnlein, aus dem sich die ganze Seltsamkeit und Pracht in gesetzmäßiger Folge und mit kaum einer Abweichung von der seit Jahrhunderttausenden feststehenden Form entfaltet, wenn Licht- und Wärmestrahlen die Hülle durchdringen, als eines der allergrößten Wunder der Schöpfung gelten. Jedoch das Keimen eines Weizenkorns oder einer Moosspore ist ja gerade so wunderbar. Wir sind also von unerklärlichen Dingen und Vorgängen umgeben, ob unser Blick in die Tiefe des Sternenhimmels taucht oder über eine Wiese oder nur ein Moospolster hinstreift, nur daß der gestirnte Himmel der blühenden Wiese um uns in vielen Einzelheiten erreichbarer ist als der »gestirnte Himmel über uns.«

Die Königin der Nacht schien sich zum Niedergang zu rüsten, die hinausgerichtete Kraft ihrer Strahlen erlahmte, ihr Blütenstern schaute uns nicht mehr voll an, sondern senkte sich erdwärts. Das Sonnenhafte will sich entschwingen. Es hat keinen Zweck, auch dieses Sterben zu sehen. Lebt doch die schöne Blume in meinem Innern fort, so wie sie lange, ehe sie erschien, in der Seele eines unbegreiflich hohen und reichen Wesens geblüht haben muß. Doch still; ich streife hier an die Grenzen der Mystik. Wenn das mein naturwissenschaftlicher Freund wüßte, der mir auf meine Frage nach dem heutigen Stande des Wissens von den Blüten geantwortet hat: Außerhalb der Ihnen bekannten Handbücher behandeln die selbständigen Werke über Blüten fast nur noch die Anpassung, besonders an die blütenbesuchenden Insekten und Vögel. Der Gute hatte offenbar geglaubt, über dieses große Problem hinaus, das in Wirklichkeit höchst nebensächlich ist, brauche niemand zu schauen, der sich um Blüten kümmere.

Ich aber danke der Königin der Nacht, daß sie mir einen Dämmerstrahl darüber hinausgeworfen hat. Zwar sollte von Rechts wegen jede Grasblüte und jedes Moosbecherchen denselben tiefen Eindruck machen, aber es ist doch wirksamer, wenn uns in dem großen Märchenbuch der Schöpfung ein so glänzendes Blatt gezeigt wird. War es doch die schönste der Blumen, die dem Seraphinischen Wandersmann einen der größten Gedanken eingab, die je in zwei Zeilen ausgesprochen worden sind:

Die Rose, welche hier dein äußres Auge sieht,
Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht.


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