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Heute hörte ich in der Universitätskirche zu L einen berühmten Pfarrer und Professor über den Bergpredigtspruch predigen: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Es war die Rede von der Macht, die die Sanftmut übt, und es wurden natürlich die nächstliegenden Beispiele angezogen, die weltüberwindende Macht des Christentums und die Macht des Weibes. Ich dachte mir, daß in unsrer weltpolitischen Zeit auch noch andre Anwendungen hätten gemacht werden können. Daß kein Volk auf die Dauer mit Gewalt allein andre Völker beherrschen kann, daß es unsern deutschen Methoden, andre Völker zu beherrschen, vielfach an der ruhigen Sanftmut gebricht, die nicht der Ausdruck der Schwäche, sondern der größten Sicherheit des Willens und der vollsten Selbstbeherrschung ist, das wären sehr zeitgemäße Auslegungen gewesen gerade bei dieser Zuhörerschaft, in deren Studentenreihen so mancher zukünftige Beamte, vielleicht auch ein zukünftiger Kolonialstaatsmann saß. Wir besitzen nur das, was uns nicht besitzt. Nur die Eigenschaften befähigen uns, ein klar erkanntes Ziel auf dem kürzesten Wege zu erreichen, die wir sicher in den Zügeln haben. Beim Vergleich der germanischen Völkerzweige erschienen mir immer die Deutschen und die Holländer durch die Verbindung von Phlegma und Erregbarkeit ausgezeichnet. Am Tropenkoller laborieren sie beide mehr als andre. Ich teile nicht die naive Ansicht eines amerikanischen Professors, der in dem systematischen Betrieb der Leibesübungen den einzigen Grund sieht, warum sich die Anglokelten besser in der Hand hätten. Er sagt: Das tägliche Messen der Kräfte birgt die Gefahr der rohesten Prügelei, wenn nicht feste Regeln eingehalten werden; ich kann mich nicht der Gefahr aussetzen, daß mein Gegner beim Fußball Hand an mich legt, wenn ich nicht ganz genau weiß, daß er gewisse Grenzen nicht überschreiten wird. Insofern jedoch als die Spiele, in denen Entschlossenheit und Kraft den Ausschlag geben, auf die Selbstzucht heilsam zurückwirken, ist auch in dieser Ansicht ein Körnchen Wahrheit.

Aber die ganze Wahrheit liegt doch wo anders. Daß der Einzelne sich der Gesamtheit schuldet, diese Erkenntnis muß uns ganz durchdringen. Wir haben sie noch viel nötiger als andre Völker, denn wir sind durch unsre geographische Lage und durch die keilartige Einzwängung unsers Volkstums zwischen Slawen und Romanen, endlich durch die Unmöglichkeit, verpaßte Gelegenheiten zu überseeischen Verjüngungskolonien noch einmal zu finden, gezwungen, Kräfte für die elementaren Fragen von Sein oder Nichtsein aufzuwenden, die andre sparen können. Ja wenn es uns gelingt, uns noch Jahrhunderte gesund zu erhalten, während andre dem Greisentum unrettbar entgegensiechen, können sich auch die äußern Daseinsbedingungen noch einmal günstiger gestalten. Aber einstweilen kommt es doch vor allem darauf an, daß wir uns die eigentümliche Lage des Deutschen Reichs und Volkstums vollständig klar machen und uns und die, die uns nachfolgen, dafür erziehn. In überseeischen Ländern wird sich voraussichtlich kein Gebiet den Deutschen erschließen, wo sie durch Ackerbaukolonisation ein geschlossenes Deutschland aufbauen könnten. Ich sage ein geschlossenes, gerade weil ich für Millionen Deutsche die Hoffnung hege, daß sie z. B. im gemäßigten Südamerika, und zwar noch viel weiter südlich, als sie jetzt in Argentinien und Chile leben, und auf den kühlen Hochländern des tropischen Amerikas in zerstreuten Gruppen Gedeihen finden werden. Die besten Gelegenheiten sind vor Jahrhunderten verloren worden, und kein noch so scharfes Schwert nimmt den Anglokelten Nordamerika und den Russen Nordasien ab. Die Vereinigten Staaten von Amerika und das Reich des weißen Zaren können zugrunde gehn, die Amerikaner und die Russen wachsen fort wie das Gras ihrer Steppen. In Südamerika können noch viele Millionen Deutsche Raum finden, in Australien einige Millionen, in Südafrika einige Hunderttausende. Aber alle diese nur neben und zwischen andern Völkern, deren Auswandrerströme neben und zwischen den Deutschen und neuerdings sie an Zahl weit übertreffend denselben Zielen zufluten. Darauf kommt es nun also an, daß die Deutschen im gedrängten Wettbewerb mit andern Völkern ihr Gedeihen finden, wobei sich unfehlbar Unterschiede an Kraft des Schaffens und sogar des einfachen Beharrens herausstellen werden, die mit der Zeit aus dem Völkerdurcheinander ein Völkerübereinander machen müssen. Vielleicht ist die größte Frage auf diesem Gebiet die der Zukunft des romanischen Amerikas. Wird es dem immer mächtiger anschwellenden Strom italienischer Auswandrer gelingen, in Südbrasilien und den La Plataländern die dort vorhandne, noch dünne romanische Bevölkerung zu erneuern? Wenn, wie wir glauben, nicht, so sorge Deutschland beizeiten, sich dort eine solche Summe von festgewurzelten Interessen zu schaffen, daß der unverschämte Anspruch Nordamerikas, auch südlich vom Golf von Mexiko zu herrschen, ohne weiteres zerschellt. Das kann freilich nur die Tüchtigkeit der Deutschen als geschlossene Volkspersönlichkeit vom Gesandten bis zum deutschen Rinderhirten im Gauchogewand schaffen; aber nicht bloß die Tüchtigkeit der Herz- und Armmuskeln, sondern auch die liebenswerten Eigenschaften eines Nationalcharakters, die verhindern, daß die Achtung des Schwächern in Furcht und Haß ausarte.

In Europa liegt die Zukunft Deutschlands in der Erhaltung seiner Machtstellung und in der Festhaltung aller Volksgenossen: zwei Aufgaben, die man immer mehr als auf einer Linie stehend anerkennen wird; hier muß uns die Verletzung unsrer Volksgrenze so empfindlich sein wie die kleinste Beschädigung unsrer Staatsgrenzen. Ferner liegt es aber Deutschland vermöge seiner geographischen Stellung ob, seine volle Kraft an den Zusammenschluß der mitteleuropäischen Mächte zwischen den Weltmächten England, Rußland und Nordamerika zu setzen. Und diese Aufgabe ist die wichtigste und vielleicht nicht die schwerste von den dreien. Das sind Aufgaben, die so verschiedne, fast widerstrebende Kräfte zur Arbeit rufen, daß man mit den alten Regeln, die aus der unendlich viel einfachern Geschichte der ältern Mächte Europas oder der Kolonialgeschichte Hollands oder Englands oder gar der römischen, auf die man uns noch hinweisen möchte, bei uns nicht auskommt. Unser Fall liegt viel verwickelter als alle frühern, denn von der gemeineuropäischen Krankheit der Völkerzerklüftung und der Völkerverfeindung ist Mitteleuropa am schwersten heimgesucht, und während wir für die Welt draußen freien, weiten Blick und große Auffassungen nötig haben, will uns der Hader der Nationalitäten, der Konfessionen und der wirtschaftlichen Interessengruppen kleine Geister und enge Herzen anerziehn, wozu die liebe Presse, die von der Dummheit und den schlechten Neigungen ihrer Leser viel bequemer und einträglicher lebt als von den guten, aus besten Kräften beiträgt.

Aus klein wird kleinlich. So geht es in der Sprache, und so geht es in der Sache. Kleine Verhältnisse machen kleine Leute. Es gehört ein Geist von einer gebirgsquellhaften Tiefe und Frische dazu, auf der Schusterbank Welträtsel zu lösen wie Jakob Böhme. Wie mußte Bismarck wachsen, um mit fünfzig eine deutsche und mit siebzig Jahren eine Kolonialpolitik zu machen, die beide er mit dreißig und vierzig noch gar nicht hätte begreifen können! So ist denn auch in den gesamteuropäischen Dingen die Saat weitausgestreut, aus der kleine Gemüter aufwachsen, und sie streut sich wie Unkraut mit beschwingten Samen immer neu aus.

Wir haben es in Amerika drüben allerdings sehr leicht, die deutsche Nationalitätenpolitik engherzig zu nennen, wenn wir sie mit dem Weitoffenstehn aller Tore des großen Landes vergleichen, durch die Einwandrer jeder Rasse, Sprache und jedes Glaubens frei einziehn, ausgenommen die Chinesen und die Japaner, ausgenommen ferner die armen Teufel, die gar nichts haben, und die Räudigen und sonst Unheilbaren. Stelle ich mich aber in die Mitte dieses meines alten Landes und sehe die 220 000 Franzosen in Elsaß-Lothringen, hinter denen zweihundertmal so viel Franzosen in Westeuropa wohnen, so erwäge ich, wie nötig für Deutschland in Ermanglung andrer, natürlicher Grenzen ersten Ranges die feste und sichere Hinstellung seines Volkstums in diesem Meer von Völkern ist, das von allen Seiten anschwillt; da begreife ich dann recht gut, daß man tut, was möglich ist, aus diesen Franzosen Deutsche zu machen. Die deutsche Politik in Nordschleswig findet noch weniger Beifall als die reichsländische. Es mag sein, daß sie noch öfter zu kleinlichen Mitteln greift, die niemand billigen mag. Aber diese 139 000 Dänen sind in ihrer Weise gerade so unbequem wie die Franzosen. In gewissem Sinne sind diese 360 000 Menschen im Westen und im Norden eine größere politische Gefahr als die zehnmal zahlreichern Polen, denn sie stützen sich auf Staatswesen ihres eignen Volkstums, denen sie auch politisch früher angehört haben, und zu denen noch immer ihre Sympathien sie hinüberziehn. Man soll zwar diese Gefahr nicht übertreiben, da ja die Masse jedes Volkes glücklicherweise mit den Sorgen und Freuden ihres Lebens viel zu sehr beschäftigt ist, als daß sie die Vertiefung und die Leidenschaft an die nationale Frage hinzubringen vermöchte, von denen wir manche Angehörigen der höhern Klassen beseelt finden. Aber jedenfalls ist die allmähliche Gewinnung dieser teils sich widerwillig, teils sehr passiv stellenden Nordschleswiger und Elsaß-Lothringer eine wichtige Aufgabe, die nicht bloß unsern Politikern und Beamten, sondern insofern jedem Einzelnen von uns gestellt ist, als die am sichersten zum Siege führende Waffe die Überlegenheit in Kultur und Sitte ist, die sich unwillkürlich die Anerkennung ihrer Überlegenheit erzwingt. Und das ist eben der Punkt, wo diese Nationalitätenfragen, die neben andern klein zu sein scheinen, mit den großen Fragen zusammenhängen, die die Zukunft eines Volks überhaupt betreffen.

Seitdem die Vertretung von Pennsylvanien noch vor der Unabhängigkeit beschloß, es seien ihre Verhandlungen nur in einer Sprache zu führen, und dazu die der englischen Minderheit erkor, ist im »Lande der Freiheit« daran festgehalten worden, die Ökonomie der Zeit und der geistigen Arbeit verlange, daß in einer politischen Gemeinschaft, wie verschiedensprachige Gruppen sie auch zusammensetzen mögen, eine Sprache das gemeinsame Mittel der Verständigung und des Verständnisses, des tiefern Sichverstehns, Sichkennenlernens sei. Das wird als Forderung des Staates und wie etwas Selbstverständliches hingenommen. Andres fordern die Bedürfnisse des täglichen Lebens, andres die höhergestimmte humanitäre und politische und wissenschaftliche Meinungsäußerung. Man greift zur Muttersprache, die schon im Namen an die familienhafte Geschlossenheit des Stammes erinnert, der seiner Natur nach unter dem Staat steht, um an das Mitleid aller für unglückliche Volksverwandte zu appellieren, die allerdings vielleicht kein Wort in dieser Sprache schreiben können, man bespricht in ihr die Interessen der Schule und der Kirche, die über die engen Grenzen der Völkerbruchstücke hinaus bis an die der Menschheit reichen, und verständigt sich in ihr vor allem über das, was die Ausgewanderten mit der Heimat noch zusammenhält. In dieser Weise haben nicht bloß die Deutschen, sondern innerhalb dieser wieder sogar die Luxemburger ihre besondre Literatur und Presse in Amerika gepflegt, und so neben den Iren die Gälen und die Waliser und unzählige andre. Sogar unter den Anglokelten haben politisches Bewußtsein Bruchteile dieser Familie ausgebildet, die sich in der fernen Inselheimat nicht als Volkspersönlichkeiten fühlten. In dieser Weise bildeten sich die fest zusammenhaltenden Nachkommen der schottisch-protestantischen Einwandrer in Nordostirland, kurzweg Irish Scotchmen, Irische Schotten, genannt, zu einem ebenso tätigen wie selbstbewußten Völkchen mit einer ganz respektabeln Literatur aus, über die man sich in des liebenswürdigen Whittier Prose Works unterrichten kann. Niemand kümmert sich politisch um all das, da von allen die Voraussetzung stillschweigend anerkannt wird, dem Staat werde gegeben werden, was er braucht, und der Verkehr werde sich das seine ebenfalls zu schaffen wissen.

Hoffentlich kommt man in ähnlicher Weise auch in Deutschland und in Österreich-Ungarn dazu, die Staatsnotwendigkeit scharf gegen das Lebensbedürfnis der untergeordneten Glieder, der Stämme abzugrenzen.

Die wichtigsten Fragen alle ziehn in Deutschland langsam nach Osten hin. Dort liegt die größte Gefahr, der Zug des Ostens nach Westen, der nur über Deutschland weggehn kann; und auch die größte Zukunft. Leider stehn wir auch hier im Bann einer Geschichte, die uns in den polnischen Angelegenheiten eine Politik aufnötigt, die wir offenbar nicht gewählt haben würden, wenn wir überhaupt hätten wählen können. Dem großen eurasischen Slawentum, das vom Dnjepr bis zum Stillen Ozean reicht, ein westeuropäisches entgegenzustellen, das stark genug war, die Verwirklichung des altslawischen Gedankens zu hindern, lag im Interesse Mitteuropas. Es ist die Politik, die Österreich-Ungarn unter manchen Schwankungen und Fehlgriffen befolgt, und zu der wir uns gemeinsam mit ihm auf der Balkanhalbinsel bekennen, soweit wir es für nötig halten, dort Stellung zu nehmen. Vor allem diente ja bekanntlich auch die Einpflanzung einer deutschen Dynastie in Rumänien diesem Gedanken mit großem Erfolge. Es ist weiter bekannt, wie im Norden schon von dem Rückfluten der Deutschen nach Osten im frühen Mittelalter an die Bedingungen für eine Einschiebung polnischer und litauischer Staaten zwischen Deutschen und Russen durch eine Ineinanderdrängung der Wohnsitze besonders der Deutschen und der Polen erschwert und durch den Zerfall des polnischen Staats unmöglich gemacht wurde. Dort grenzt nun Deutschland politisch an Rußland, aber das deutsche Volkstum ist durch das polnische und das litauische vom russischen getrennt. Wird die großslawische Idee das Polentum für sich gewinnen? Oder werden die historischen Erinnerungen und die Gegensätze zwischen dem Christentum des Westens, das von Rom, und dem des Ostens, das von Byzanz ausging, jede Verbindung auch in Zukunft unmöglich machen? Die Deutschen schmeicheln sich, es werde so sein, und nehmen Mickiewiczs Dichterwort: »Es ist ein alter Haß im slawischen Geschlechte« für ein wahres Wort.

Ich begreife, daß sie es glauben wollen, aber mit meinen alten Augen, die an amerikanische Dimensionen gewöhnt sind, sehe ich die Unterschiede nicht so groß, und da ich so viele Völkerunterschiede sich habe verwischen sehen, kann ich nicht so fest gerade an die Dauer dieser glauben. Wenn man die hinreißende Macht gesehen hat, womit räumlich große politische Gedanken auf die Gemüter der Menschen wirken, legt man größere Maßstäbe auch an die europäischen Verhältnisse. Wie in Amerika zuerst der Staat von Meer zu Meer, dann der Grundsatz »Amerika den Amerikanern,« endlich der Gedanke einer großen pazifischen Politik, den man in Europa noch immer nicht recht erfaßt hat, schwungradgleich die politischen Auffassungen in Bewegung und im Wachsen erhalten hat, ist im höchsten Grade lehrreich. Es ist ja möglich, daß kleinere Differenzen, wie die alten zwischen Nord und Süd, oder die neuern zwischen den atlantischen und den Mississippistaaten, darüber nur eingeschlummert sind. Aber jedenfalls schlummern sie einstweilen sehr tief. Wenn ich nun sehe, wie den großen politischen Gedanken die großen wirtschaftlichen Entwürfe folgen und auch nicht etwa bloß Entwürfe bleiben, so muß ich jenen eine schöpferische Kraft zuerkennen, die durch gewaltige Werke wie die Pazifikbahnen oder der Interozeanische Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken. Ich meine, in Amerika gelernt zu haben und diese Lehre auf Europa anwenden zu dürfen: die Kunst der Politik besteht zu einem sehr großen Teil darin, die politischen Konflikte aus engen Räumen, wo sie sich wie Geschwüre einfressen, herauszuführen. Darin liegt das Heil, das die Erweiterung der Räume der Welt gebracht hat. Es ist keine Beschwörung der Übel, aber eine für lange hinaus heilsame Verteilung. Auch das gesunde Wachstum der Staaten neigt dazu, sich in bestimmten Richtungen zusammenzudrängen und in andern dafür zurückzubleiben. Beschränkten Erwägungen, fast Instinkten folgend, ging der ungelenkte Strom deutscher Auswandrung ein Jahrhundert lang nach dem Norden der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Daß er so viel Größeres für das ganze Deutschtum in Osteuropa, Vorderasien, Südafrika und Südamerika leisten konnte, sah damals kein einziger »Staatsmann« ein, d. h. keiner erkannte die Aufgabe, die von Rechts wegen die größte hätte sein müssen. Einstweilen sehe ich nur einige wenige fortgeschrittne Geister in ganz Mitteleuropa an der Arbeit, ihre Volksgenossen zu lehren, Völker- und Staatengrenzen zugunsten eines größern Zukunftsgebildes weniger zu betonen als das, was Völker und Staat einigt. Auffallenderweise verschließen sich diesem Streben am allermeisten die, die inner- und außerhalb Deutschlands einen hervorragend unpolitischen Götzendienst mit dem Namen Bismarck treiben. Als ob nicht gerade Bismarck, zuzeiten bewußt, zuzeiten instinktiv, in der Herausbildung des Reichs aus dem Zollverein, in der Tripelallianz und in der Kolonialpolitik dem gesunden Trieb: Hinaus aus der Enge! so mächtig gedient hätte. Auf die Gefahr hin, daß man mir die Eigenschaft eines Realpolitikers abspricht, muß ich erklären, daß ich den zehnten Teil der Worte und der Tinte, die in der sentimentalen Burenbegeisterung verschwendet worden sind, auf den mitteleuropäischen Zollverein verwandt als eine ungemein glückliche nationale Anlage betrachten würde. Für mich gibt es überhaupt in der europäischen Politik westlich von der Weichsel keine größere Frage als eben diese des Zusammenschlusses der Völker und der Staaten, die zum Teil seit Jahrtausenden nur Gegensätze unter sich anerkannt haben, zu einem Bunde, der zunächst ihre wirtschaftlichen Interessen gegen die Riesen im Osten und im Westen kräftig vertritt. Welcher Macht Europas ist aber diese Frage näher gelegt als dem im Herzen des Erdteils liegenden Deutschland? Ich wage zu behaupten, daß seine eigne Zukunft noch mehr als die von Mittel- und Westeuropa von der Stellung abhängt, die es dazu einnimmt.


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