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7. Ein zündender Blitz

Niemand weiß, wenn ein Gewitter aufzieht, ob der Blitz, und wo er einschlagen, und wen er treffen wird. In der grauen Wolke dort kann ein Todespfeil für mich oder dich auf dem Bogen liegen, und während wir wähnen, hier mitten im Leben zu sein, zielt schon ein himmlischer Schütze, und sein Finger liegt druckbereit an der Sehne. Man spricht vom Kriegsgewitter und vom Schlachtendonner und vergleicht das fahle Aufleuchten des Geschützfeuers dem fernen Blitz. Es gibt einen viel furchtbarern zündenden Blitz als den, der Gewaffnete trifft, die mehr oder weniger darauf vorbereitet sind; er schlägt wahllos in ein friedliches Leben hinein, daß es zersplittert, er tötet und zündet mitten unter nichtsahnenden Unschuldigen, und wo es vorhin blühte und grünte, ist eine Stunde darauf eine schwarze Brandstätte, und aus den Trümmern des Glücks von vorhin steigt der Opferrauch zum Himmel. Solche Blitze, die weit von den Schlachtfeldern und Heereszügen niederfahren, als ob sie sich verirrt hätten, gehören zum Schrecklichsten des Krieges. Sie zeigen uns die todbringenden Mächte ohne Gesetz und Fessel, umherschweifend wie Marodeure oder die vor Hunger tollen Hunde hinter einem Troß, und anfallend, wen ein übles Geschick ihnen in den Weg wirft.

*

Am 17. Januar lag eine dicke Luft über dem Lande zwischen Vogesen und Jura. Zu unsern Füßen waren Schnee und Nebel, zu unsern Häupten Berge und Himmel nicht zu scheiden. Die Luft war wie greifbar. Der Kanonendonner von Montbeliard rollte wie von einem Wintergewitter unheimlich durch die Wolken, nicht metallen, sondern dumpf echoend; der Nebel dämpft den Schall. Zündeten seine Blitze, die man nicht sah? Vielleicht schossen die Franzosen ohnehin schwächer? Eines Tags wird dieses Donnern doch aufhören. Es rührte sich nichts vor uns. Wagten sie sich im Nebel nicht heran, oder hing ihre Überzahl schon wie eine Lawine über uns, bereit, uns zu erdrücken? Man hatte in der Nacht den Lärm eines heftigen Gefechts von Norden her vernommen, dann war es immer stiller geworden. Darüber war man eigentlich nicht verwundert. Frost und Schnee sind allem Kriegstrubel abhold. Alles ist zur tiefen Stille in dieser Schlafzeit der Natur hergerichtet, und man wundert sich, daß die Armeen in dem weißen Felde stehn. Und die Schlacht an der Lisaine war die rechte Winterschlacht. Man lag und fror im Schnee, man lief und tanzte in ihm, um sich zu wärmen; zum Überfluß beschütteten die Artilleristen sogar ihre Batterien, die Pioniere ihre Brustwehren mit Schnee, um die Werke weniger sichtbar zu machen. Am hellen Winterhimmel flimmerten die Sterne, als schüttelten sie sich vor Kälte, oder als tanzten auch sie, um sich zu wärmen. Nur in den Wäldern knallten die vom Froste springenden Bäume um die Wette mit den Geschützen und Flinten. Nur den Toten, die beide Armeen täglich auf dem Kampfplatze zurückließen, wo sie als dunkle Punkte im Schnee lagen, manchmal von einem rotbraunen Hof umgeben, war es gleichgiltig, ob es fror oder nicht, ihre Glieder erstarrten höchstens etwas früher.

Am Nachmittag trat Regen ein, und wenn sich die Himmelsvorhänge nicht noch früher zugezogen hätten als gestern, hätten wir vielleicht die Nebelschleier zerreißen und die Franzosen in der Richtung des Doubs abziehn sehen. Wir wußten nichts davon, daß Bourbaki heute den Rückzug angetreten hatte. Man fühlte jedoch, daß eine Entscheidung gefallen war, und man begann zu vermuten, daß es die für uns günstige sei. Erst fragte einer den andern: Hörst du auch nicht mehr die Kanonen von Norden her, oder bin ich von dem dreitägigen Gedonner taub geworden? Ja, es donnerte noch, aber das war viel weiter weg als gestern, das war in Belfort. Im Quartier sah man Abends die Mienen der Unsrigen heller, die der Franzosen düstrer geworden. Bei einigen äußerte sich die Erleichterung dadurch, daß sie ein Liedchen pfiffen, das die letzten Wochen verloren gewesen war, bei andern dadurch, daß sie wieder zu klagen anfingen. Für Frohsinn und Trübsinn hatte die Gefahr der letzten Tage den Mund verschlossen. Man kümmerte sich wieder um die Proviant- und Postsendungen, die am 12. von Vesoul hatten zurückgehn müssen und angeblich nun erst auf dem Umweg über Straßburg und Nancy zu uns stoßen würden. Die dumpfe Gleichgiltigkeit der Tage, in denen man nur noch gefroren, gehungert und gefochten hatte, löste sich auf, es wurde Raum für Hoffen und Wünschen. Mein Kamerad Reiske, der seit lange nur noch den Spruch Werners aus »Minna von Barnhelm« auf den Lippen gehabt hatte: Dem Soldaten gehts im Winterquartier wunderlich, ging jetzt zu einer neuen Nummer über: Am Abend wird es hell, wie das französische Sprichwort sagt, ihr werdet sehen, wie hell die Dämmernacht dieses Winterfeldzugs enden wird. Jetzt kommt die Zeit, von der der Franzose sagt: on reprend figure. Der Musketier wird sein wollnes Kopftuch ablegen, der Kanonier wird seine Bärentatzen von Fausthandschuhen ausziehn, der Dragoner sich der wollnen Nachtmütze entledigen, die er noch unter dem Helme trägt. Und wenn alle die Schalen und Hüllen des Winters gefallen sind, werden wir drei sogenannte Ruhetage putzen und flicken, Schneider und Schuster werden in einem anständigen Quartier angestrengt arbeiten, und es wird eine Parade geleistet werden wie nie!

Als wir am 18. Morgens den Marsch nach Westen antraten, zweifelte gar niemand, daß das Verfolgung sei. Das stille Gefühl des Sieges wurde auch bald feste Überzeugung. Man merkte es schon an der wenig ängstlichen Marschsicherung, daß wir nicht viel zu fürchten hatten. Welch froher Ausmarsch! Sieg und Frühling! Zuerst rieselten noch Schneekörner herab, und schwankende Wolkengestalten begleiteten unsern Marsch talaus. Durch den Nebel sah man immer nur das Nächste ganz, das aber sehr deutlich; alles andre trat gleich in die graue Undurchsichtigkeit zurück. Um so frischer marschierte man in die fremde Landschaft. Es war ein verwirrendes Spiel, wie Bäume und Häuser auftauchten und untersanken. Als aber die Sonne durchdrang, waren die Schatten so wunderbar blau, und es rauschten die Bäche so voll und so laut, schon hatte hier außen der Schnee die Felder verlassen und die Bäche geschwellt. Wir haben dasselbe Ziel, schien zutraulich der Bach zu sagen, an dem wir entlang ins Tal des Doubs hinunterstiegen, machen wir den Weg zusammen, und verplaudern wir die Stunden. Hier standen die Mühlen nicht still, wie weiter oben, auch die Fabriken feierten nicht. Man zeigte uns in Beaucourt ein großes neues Gebäude, wo trotz dem Kriege ruhig die feine Arbeit an dem Uhrwerk immer weiter gegangen war. Hier war nicht jedes Gemäuer blatternarbig von Schüssen. Die Vorhut machte noch Gefangne, sie wurden aber nicht rückwärts transportiert, es waren großenteils Halberfrorne, Verhungerte, die gleich auf die Seite gebracht, großenteils in Pflege genommen werden mußten.

Bei Blamont kamen wir auf die große Landstraße, da sah es nun freilich anders aus. Die, die vor uns marschiert waren, hatten offenbar schon etwas Ordnung gemacht, aber noch starrte es allenthalben von den wüsten Spuren eines ungeordneten Rückzugs: die gefallnen Pferde lagen zu Dutzenden rechts und links von der breiten Straße, die von der Straße hinabgedrängten und umgestürzten Wagen oder die Reste davon, die verlassenen Feuer und Lagerplätze, wo Uniformstücke und Waffen zurückgelassen worden waren, die Blutflecke im Schnee, wo man Leichen weggetragen hatte. Beredt war die Tatsache, daß die Munitionskisten geschlossen standen, die großen Kisten mit Biscuits de Lyon aber aufgebrochen umherlagen. Macht Platz, da kommt ein größerer Trupp Gefangner, die Unteroffiziere voraus. Still und gedrückt gehn diese dahin, mit Mienen des Überdrusses schleppen sich die Soldaten fort. Die meisten mögen noch nicht lange Soldaten gewesen sein, sonst würden sie wohl etwas mehr Haltung und Zusammenhang zeigen.

Der Feind hatte keine Macht mehr, unsern Marsch zu stören, kleine Teile von uns näherten sich unbehelligt seinen Hauptmassen, die freilich nach allem, was man hörte und sah, noch immer an Zahl uns weit überlegen waren. Doch wo man auf französische Soldaten traf, waren es Kampfunfähige oder Kampfunlustige, die froh waren, ihr Gewehr loszuwerden, das sie schon aus freien Stücken in die Ecke gestellt haben würden. In diesen Winterstürmen war der kriegerische Hauch von den Wangen der Gallier völlig gewichen, das ganze Volk war blaß und mager geworden. In Baume les Dames bei Besançon kamen die gefangen werden wollenden uns entgegen, ihre Waffen hatten sie hübsch zusammengelegt, und sie machten kein Hehl aus ihrer Freude, mit der Kriegsepisode abschließen zu können. Dazu mochte auch das vorauseilende Gerücht von den neuen Armeen, die im Anzug waren, beigetragen haben; es sprach von ungeheuern Scharen Deutschen, die über Langres und Dijon herabsteigen sollten.

Für uns war es nun am wichtigsten, mit der Manteuffelschen Armee, die in der Tat näher war, als manche glaubten, in Verbindung zu bleiben. Im breiten Doubstal mußten wir uns treffen. Während nun ein Teil des vierzehnten Korps so nahe an der Schweizer Grenze marschierte, als nötig war, die Wege nach Belfort und Vesoul auf dieser Seite frei zu halten, drückte der andre auf die Gegend zwischen Doubs und Ognon, wo sich der Feind vielleicht an das starke Besançon anzulehnen versuchte. Von der neuen deutschen Südarmee aber mußte ein Teil den Doubs überschreiten, um uns die Hand reichen zu können, ein andrer Teil weiter südlich die Saône, um den Franzosen den Weg über Pontarlier nach Süden zu verlegen und Garibaldis schlecht geordnete und schlecht geleitete Scharen, die bei Dijon standen, auf die Seite zu werfen.

Da wir dem linken östlichen Flügel des Vormarsches angehörten, kamen wir bald tiefer in den Jura hinein. An Süd- und Ostflanke stiegen Weinberge empor, aber nicht weit. Hier war nicht, wie in den Vogesen, ein ganzer Berg unten Weinberg und oben Wald. In dem rauhen aber feuchten Klima legten sich Matten dazwischen, die, wo der schmelzende Schnee sie verließ, im hoffnungsvollsten Grün leuchteten. Alle Soldaten freuten sich über die neuen Bilder, die einen fanden den Unterschied dieser tiefern Täler, dieser kräftiger vorspringenden Berge und schroffern Höhen von den Vogesen heraus, die andern erkannten, trotzdem daß der Schnee die Felder eben erst verlassen hatte, die Güte des Bodens und lobten die großen wohnlichen Häuser. Man sagte sich: Wenn wir auf diese Höhen steigen könnten, würden wir tief in die Schweiz hineinsehen, und erwog in der Stille, um wieviel die Eroberung dieses Teils von Frankreich uns dem Frieden näher gebracht haben möge.

Da sich immer mehr Hügel zwischen uns und dem Zentrum der Armee auftürmten, und der Querverbindungen immer weniger wurden, sandte die Spitze auf jeden Weg, der rechts abzweigte, kleine Abteilungen ins Land hinein. Sie sollten Versprengte aufheben und Waffen konfiszieren. Requisitionen waren zum Glück jetzt nicht mehr notwendig, wir waren reichlich mit Nahrung versehen, und das Land wurde zusehends besser. Es wurde auch nicht mehr so viel Vorsicht geübt wie früher. Zwar war noch immer der Unterschied zwischen sichern und unsichern Landschaften; diese durchritt man schnell, in jenen gab man den Pferden Ruhe. Wenn man aus einem engen Tale, wo Wald und Bachesrauschen die Verbündeten des Feindes sein konnten, in offneres Land kam, atmete man auch jetzt noch auf. Aber mit jedem Tage wuchs das Gefühl: Der Frühling kommt und bringt Sieg und Frieden.

Das milde Wetter hielt nicht lange an. Am 20. trieben Schneeflocken in der grauen Luft, auf den Höhen wurde es zusehends weißer, und neuer Frost senkte sich ins Tal. Am 21., als eine neue Schneedecke über Berg und Tal gebreitet war, ritten wir ins Land hinein. Das war so einsam und totenstill, man hörte kaum die Hufe der Pferde. Der Schnee war glücklicherweise nicht so tief, daß man nicht die Departementsstraße hätte erkennen können. Die unfehlbaren schmalgeschnittnen Pappeln bezeichneten sie, und manchmal standen Eichbäume in Reihen, die wie Weiden zusammengeschnitten waren. Marschiert war hier keine Truppe vor uns, man sah nur Spuren von Einzelnen. Man trifft hier selten Walnußbäume an den Landstraßen, Obstbäume gar nicht. Es scheint auch weniger Raben zu geben. Man vermißt ihren schwerfälligen Flug und ihr unscheues, plumpvertrauliches Verweilen neben der Straße. Dafür flogen schon Stare, entweder sehr frühe Boten des Frühlings oder Zeugen eines milden Winters, der ihnen das Überwintern erlaubt hatte. Man ritt ohne Karte und Kompaß ruhig der Straße nach, bis sie sich zu teilen schien. Führte sie doch ziemlich gerade nach Westen und in das Hügelland hinein. Sie stieg zuletzt stärker an, bis sie einen Höhenrücken in scharfem Bogen erstiegen hatte, und schien sich nun zu teilen, das heißt sie verschmälerte sich zu einem Vizinalsträßchen und gab rechts und links einen Feldweg ab. Die Patrouille wurde geteilt; zu einer bestimmten Stunde des Nachmittags sollten sich die beiden Abteilungen in V. zusammenfinden, wo, wenn die Verhältnisse günstig waren, ein Relais für die Verbindung mit Lure gelegt werden sollte. Der Haupttrupp ritt auf dem Vizinalsträßchen weiter, wo noch immer ein Paar Spuren von Holzschuhträgern zu sehen waren. Ich ging mit einem Manne rechts ab, um auf spurlosem Feldweg eine Häusergruppe zu erreichen, die nach der Angabe auf dem letzten Chausseestein sechs Kilometer entfernt war. Das Gelände stieg merklich an, und der Schnee wurde tiefer, schon war es geboten, Mulden zu umreiten, in die er hineingeweht war. Wir hielten auf einer Lücke in dem Waldrande, der sich dunkel und schnee- oder reifbestäubt vor uns hinzog. Es stand dort weit sichtbar ein steinernes Kruzifix. Als wir den Wald erreicht hatten, stießen wir auf das erste Hindernis.

Gefällte Tannen lagen über den Weg: unsre verspätete Christbaumbescherung! Wir brachen von ihren duftenden Zweigen ab und kauten die Nadeln, um den Durst zu vergessen, der sich allmählich einstellte. Die törichten Menschen hatten ihre schönsten Bäume dahin geworfen. Nicht einmal ein Hindernis für eine Kompagnie hatten sie damit geschaffen. Uns machte es freilich einige Mühe, die Pferde um die Barrikade herumzuführen, Infanteristen wären darüber weg voltigiert. Die Hauptsache war, daß der Weg in der angenommnen Richtung weiterführte, wir wünschten dringend, bald am Ziel zu sein, denn es begann zu dämmern, und das Gelände zeigte Einschnitte, die nicht unbedenklich aussahen. Wir kannten die Eigentümlichkeit des Jura damals noch nicht, daß die mildesten Hügelketten von steilen Schluchten und tiefen Kesseln durchschnitten werden, deren Dasein keine Furche, kein Einschnitt in den Umrißlinien verrät. Sie mußten sorgsam umgangen werden. Einzelne waren so tief verweht, daß die Pferde leicht bis über den Bauch versinken konnten. Die Zeit verging im Suchen sicherer Umwege und Übergänge. Die Sonne sank früh hinter den Bergen hinab, und im Schatten wurde die Abendluft schneidend. Den Wegweiser, der an einer Abzweigung an einem schluchtenartigen Hohlweg stand, beschatteten hohe Bäume. Es half nichts, ihn zu erklettern und zu versuchen, mit dem Streichholz seine Inschrift zu entziffern, sie war zerschnitten bis zur Unleserlichkeit.

Ich will nicht lang erzählen, wie wir beim Licht des Schnees auf unsern Spuren zurückgingen und bei rasch hereinbrechender Nacht uns in dem Gewirr von Schluchten und Gruben, durch die wir uns gewunden hatten, verirrten und endlich die Unmöglichkeit erkannten, uns in irgendeiner Richtung herauszufinden. Auf einer freiern Stelle, wo kürzlich Holzfäller gearbeitet haben mußten, kratzten wir den Schnee vom Boden, legten Holzscheite und Gezweige zu einem Windschutz zusammen, hinter dem bald ein Feuer loderte. Eine tüchtige Abreibung und ein paar Hände voll Mais den Pferden, ein Stück Speck und eine Brotkruste den Menschen, wozu beide begierig den Schnee leckten. Das mußte heute genügen. Wir nickten am Feuer ein, als wir uns eben gesetzt hatten, und fanden kaum Zeit, zum Sternenhimmel aufzuschauen, der unglaublich groß, reich und still herableuchtete. Es war eine Nacht, in der wir vom weiten Meere und von Sternen träumten, die sich darin spiegelten oder dicht wie Schneeflocken fielen und uns zudeckten.

Beim ersten Morgengrauen auf und der weißen Seite des Firmaments entgegen. Der Morgenstern stand noch hoch, aber draußen im Osten zitterte schon ein erstes Ahnen von Morgendämmerung in den Ästen. Die übrige Welt war noch still. Die Dämmerung und der Schnee leuchteten uns, als wir uns aufmachten, um den Weg zu suchen, den wir gestern verloren hatten. Wir waren nicht lange gegangen, da lagen hart unter uns die grauen Schindeldächer mit den schwarzen Schornsteinen, als wollten sie zudecken, was hier noch von Leben war.

Es war ganz klar, daß wir kaum einen Kilometer vom Dorfe in einen Waldweg abgebogen waren, der auf den Holzplatz führte. Hier liegt noch viel Schnee, und weithin ist das weiße Feld fleckenlos, ohne eine einzige Menschen- oder Tierspur. Unten liegt der Schnee gegen die Hütten angeweht, ihre breiten Dächer schauen wie Klippen aus dem Meere, über dem es jetzt heller zu werden beginnt. Am Waldrande beginnt in einem kleinen Kalkplattenbruch ein undeutlicher Weg, der hinabführen muß. Wir folgen ihm; das helle Gebell eines Hundes von weiter Witterung kündet uns an, daß das Dorf wohl auch Menschen bergen wird. Der Weg führt stetig hinab, wird zu einer Art Straße, deren Schnee unrein wird, und so marschieren wir langsam, immer die Pferde führend, in das Dorf hinein.

Dieses Dorf lag wie im Hohlweg, zu beiden Seiten ging es steil hinauf, und die kleinen Häuser, manche aus rohem Steinbau, standen eng um das Sträßlein, die ältesten von ihnen drängten sich bis auf den Weg vor und kümmerten sich nicht darum, ob sie schief zu ihm standen. Ein einziges ragte über die andern hervor, es stand auf hohen Mauern an dem Abhang der Mulde, in der das Dörfchen lag. Doch sah es so verfallen unter seinem schweren dunkeln Dach aus, daß man zweifeln mochte, ob es bewohnt sei. Ein paar Männer und Weiber sammelten sich um uns, einige schauten neugierig drein, einige erschraken. Mein Kamerad sagte leichthin: Hier scheinen wir noch nicht gewesen zu sein. Es fehlten in der Tat alle Merkmale, die kantonierende Truppen in den Dörfern zurücklassen: die Inschriften an Toren oder Fensterläden, die Reste von Schutzhütten oder Wetterschirmen an den Eingängen und den Ausgängen, die Scheunen, die offenstehn, weil sie ausgeleert sind, die von Pferden zerstampften Plätze unter Bäumen. Als ich nach dem Hause des Maire fragte, zeigte es sich in der Tat, daß die Leute hier noch nicht die Übung des Verkehrs mit fremden Truppen hatten. Man schickte nach irgend jemand, doch stellte es sich heraus, daß das der Lehrer war, der für den im nächsten Weiler wohnenden Ortsvorsteher Schreiberdienste besorgte, ein verwachsner Mensch, der nicht so ganz dumm und unwissend sein mochte, wie er sich zu stellen schien. Seinem Wunsch, eine halbe Stunde zurück zu dem Weiler des Maire zu reiten, setzten wir die bestimmte Absicht entgegen, hier zu bleiben. Wir überschauten beide in demselben Gedanken prüfend die Hütten und die Scheunen. Wo mochten unsre Pferde am besten aufgehoben sein? Die Aussichten waren nicht glänzend, das Dörfchen war offenbar ebenso dürftig wie klein. Die Leute, deren Zahl nun gewachsen war, schauten zwar absolut friedlich aus. sie wären uns aber doch gern los gewesen und schilderten das Nachbardorf in hellen Farben.

Auf einmal stand die hohe, breitschultrige Gestalt eines Geistlichen wie aus der Erde gewachsen hinter dem Haufen, der sich teilte, als er ihn gewahr wurde, als sei es selbstverständlich, daß er mit uns parlamentieren müsse. Ich fühlte den prüfenden, fast stechenden Blick kleiner kohlschwarzer Augen auf uns ruhn, grüßte, stieg vom Pferde und ging auf ihn zu. Der schien nichts andres erwartet zu haben, fragte sogleich, woher wir kämen, und ob ein größerer Truppenkörper nachkommen werde. Auf meine nicht ganz bestimmte Antwort, die diese Möglichkeit mit Absicht nicht ausschloß, sagte er, daß wir die ersten Deutschen seien, die den Weg hierher gefunden hätten. Er ging dann gleich dazu über, die Friedfertigkeit seiner Dorfbewohner zu loben, und hob sein Bemühen hervor, sie auf diesem Wege zu erhalten. Sie hätten hier eine Streifpartie von Clinchant gehabt, erzählte er, schlecht berittne und viel zu leicht gekleidete Truppen, Leute, zum Erbarmen la pauvreté même, denen wir, die wir selbst in Friedenszeiten arm sind, gaben, was wir entbehren konnten. Sonst hat niemand den Weg hier herauf gefunden. Man hörte zwar deutlich heraus, daß er unsre Ankunft bedauerte und uns vielleicht im stillen weit weg wünschte, aber ein Blick auf die Dorfbewohner, die sich um uns gesammelt hatten, bestätigte, was er von ihrer Friedliebe sagte. Man konnte übrigens begreifen, wie ungern er sein Dörfchen noch so spät, vielleicht an der Schwelle des Friedens, von den Kriegswellen erreicht sah. Es war klein, eigentliche Bauern gab es hier offenbar nicht. Den Leuten, die uns umgaben, sah man an, daß sie den ganzen Winter an der Hobelbank oder über der Schnitzbank gearbeitet hatten. Diese blassen, gebückten Gestalten mit dem weichen Blick waren kein Material für Franktireurs. Auch der Geistliche flößte Vertrauen ein, er erinnerte in seinem ruhigen Sprechen an die besonnenen, zuverlässigen Halbdeutschen, die wir aus der Gegend von Belfort kannten. Ich richtete an ihn die Frage, ob wir unsre Pferde irgendwo einstellen könnten, ich sähe kein Wirtshaus, bezahlte aber gern das Futter. Am nötigsten sei ein warmer Stall und eine Abreibung mit trocknem Wolltuch. Ob ich beides bei einem Pferdebesitzer im Dorfe fände.

Pferdebauern gibt es hier keine. Doch ist in meinem Hause ein geräumiger Stall, den gegenwärtig nur drei Kühe bewohnen, und der Bauer, der den Kirchengarten pflegt, wird das andre besorgen. Seine Haushälterin werde uns hoffentlich etwas Warmes anbieten können.

Wir machten uns auf den Weg. Die Umstehenden blieben auf einen mahnenden Blick des Geistlichen zurück, offenbar hatte er sie gut in der Hand. Ein Knabe ging mit uns, zeigte den Stall, wo wir das Nötigste fanden und die Pferde besorgten. Heu war im Überfluß da. Das Pferd meines Kameraden verschmähte das Futter, hatte schon den Morgen am rechten Hinterbein gelahmt, es war ein französisches Beutepferd von Langres, ein schöner Falbe, aber für solche Strapazen wohl etwas zu fein. Mit Mühe brachten wir die Ingredienzen eines Trankes zusammen, der seine Nerven aufrütteln sollte. Als es trocken gerieben war, fing es an, den Kopf höher zu heben, und seine Augen blickten klarer.

Während mein Kamerad bei den Pferden blieb, suchte ich das Haus des Geistlichen auf. Es sah von außen bäurisch aus mit seinen niedrigen Fenstern, die nicht einmal in einer Reihe lagen und jedenfalls ganz gleichgiltig und unbedeutend dreinschauten. Trat man hinein, so war der erste Eindruck womöglich noch ungünstiger, denn die steinplattenbelegten Gänge und die schmalen steinernen Treppen wurden von dicken Mauern erdrückt, und es fehlten so ganz, wie in den meisten katholischen Pfarrhäusern, die erwärmenden Zeugnisse menschlicher Tätigkeit. Man fühlte sich wie in einem Kloster, das eben von seinen Insassen verlassen worden war. Stein und Kalk, ein paar schwere stumme Türen, und sonst nichts. Es regte sich kein Wesen. Wir stiegen in das erste Stockwerk hinauf, da war es schon heller. Und nun öffnete sich die Tür zu dem Studierzimmer des Geistlichen, »zugleich mein Kunstzimmer,« fügte er hinzu, da flutete mir das Wintermittagslicht entgegen, als flösse es von den weit ausgebreiteten Goldflügeln der Lichtengel einer Verkündigung herab, die in der Fensternische stand. Das Haus war an den äußersten Rand des Talabfalles gebaut, und so schaute seine Rückseite hinab zu dem grünen Faden des Flüßchens und hinaus in die Höhe des jenseitigen Talrandes, und gerade dieses Zimmer empfing von drei Seiten volles Licht. Es war eine sonderbar großartige gegensatzreiche Lage zwischen dem Dörfchen auf der einen und dem Blick in die Welt und den Himmel auf der andern Seite. Mein Begleiter erklärte mir, daß das Haus in die Reste einer Burg hineingebaut sei, die hier als Warte an der Stelle gestanden hatte, wo man den weitesten Blick talauf und talab gewinnt. Deshalb vorn Bauernhaus und hinten eine Ritterburg mit alten tief hinabfallenden Mauern. Wer weiß, ob nicht die ersten Fundamente keltische sind? In dieser Gegend ist es mehr als wahrscheinlich, wir sind nicht allzuweit von Bibracte und dem Gau der Häduer, die sich den Römern zuletzt gebeugt haben; hier stand vielleicht eine der Burgen, in denen keltische Edelleute, Anhänger des Julius Sacrovir, noch zu des Tiberius Zeit die Unabhängigkeit Galliens verteidigten. Vielleicht ragen diese festen Grundmauern noch weiter zurück, sagte er, indem er einen Schrank aufschloß, in dem glänzende Bronzespeer- und Beilklingen, sogenannte Kelte, lagen. Solche alte Reste findet man hier nicht selten. Doch mag nun in der Tiefe ruhig liegen, was noch unberührt unten liegt; wir haben keine Mittel, danach zu graben, und wenn wir sie hätten, möchten wir es nicht. Meine Bauern und ich sind darin ganz derselben Ansicht. Das Leben des Tages gibt uns Aufgaben genug und braucht uns ganz, setzte er mit merklicher Absichtlichkeit hinzu.

Wir aßen auf dem Vorplatz, dessen rote Backsteinfliesen ein dicker Teppich bedeckte, wie ihn die Bäuerinnen hierzulande aus den Randstreifen ihres rauhen Wolltuches flechten. Ein altes stummes Weib trug auf. Köstlich schmeckte die Gemüsesuppe mit ihren hineingeschnittnen kräftigen Fleischstücken, und die gelben Äpfel waren trotz dem Spätwinter noch voll Duft und Frische. Einen dunkeln herben Rotwein, dessen Heimat die Gegend von Besançon war, schenkte der Pfarrherr fleißig in mein Glas, und er ließ es nicht zu, daß ich ihn nach der Sitte des Landes mit Wasser mischte. Ich müsse mich nach der kalten Nacht im Freien innerlich wieder erwärmen. Meinem Kameraden wurde das Essen in den Raum im Erdgeschoß geschickt, wo man uns Quartier angewiesen hatte. Nach dem Essen kam die Haushälterin, die sich den Fremden wohl ansehen und Lob für ihre Kochkunst ernten mochte, ein schlankes Wesen von unbäurischer Gestalt und einem blassen, friedvollen Gesicht, das etwas madonnenhaftes hatte. Seltsam berührte mich die Ähnlichkeit ihrer Haltung mit dem Muttergottesbild, das ich vorhin in dem Zimmer des Geistlichen gesehen hatte. Man hätte wetten mögen, das Mädchen oder die junge Frau habe Modell dazu gestanden.

Eine halbe Landsmännin von euch, warf der Pfarrer hin, als sie sich still wieder entfernt hatte. Ihr bemerkt vielleicht, wie wenig Ähnlichkeit sie mit den Leuten dieser Gegend hat? Sie ist zwar dunkel wie eine Französin und spricht unser Patois wie eine Jurassierin, aber ihre Eltern sind aus Baden eingewandert; ihr Bruder ist der Künstler, dem ich schöne Werke in der Kirche verdanke, ein geschickter und frommer Holzschneider!

Der Geistliche ließ mich nach Tische nicht gleich aufstehn, er schien noch manches auf dem Herzen zu haben, wovon es ihn zu sprechen drängte. Wahrscheinlich hatte er in diesem Dörfchen keinen Überfluß von Ansprache, vielleicht hoffte er auch neues von mir zu hören. Zunächst freilich schien er mehr Lust zu haben, sich selbst als mich zu vernehmen. Mir aber war es nur recht, ihm zuzuhören, denn aus seinem Munde rollte Satz auf Satz, wohlgebildet, klangvoll und frei von der Phrase, die sonst die Äußerungen der Franzosen über den Krieg entstellten. Übrigens wies ihn seine Rede nicht als Jurassier aus, wofür ich ihn gehalten hatte, er stammte aus dem Herzen Frankreichs, der Touraine. Es war etwas Abschweifendes, nach Bildern Suchendes in seinen Reden, das mir zuzeiten unklar blieb. Doch verstand ich ihn wohl, wenn er sagte: Was wollen wir schwachen Leute? Über uns, hoch oben hat sich ein Block losgelöst und rollt zu Tal. Wer hält ihn? Es gibt kein Gesetz Gottes, das der Krieg nicht mit Füßen träte, er ist ein schweres Übel. Aber aus dem getretnen Boden springt oft die beste Saat auf; und es gibt auch keine Tugend, zu deren Übung der Krieg nicht Anstoß gäbe. Sie können von französischen Kugeln und sogar von Meuchelmördern erzählen, die ein Geschäft mit der Flinte machen, aber gewiß auch von französischem Christensinn.

Von jenem und von diesem, sagte ich, doch heute lieber von diesem. Es ist zum Beispiel noch nicht lange her, als ich in einer kalten Nacht, es war am 4. Dezember, in Dijon eine alte Frau, die nicht zu den Reichen gehörte, mit einem Topfe warmen Kaffees bei den Posten vor dem Spital herumgehn sah, sie gab den halberfrornen Burschen zu trinken: eine kleine Gabe großer Barmherzigkeit! Gewiß hatte auch diese alte Frau die rauhe Hand des Krieges zu spüren bekommen. Wer nicht? Aber es hinderte sie nicht, Barmherzigkeit zu üben. Und als ich nach dem blutigen Gefecht bei Nuits erschöpft neben dem Herd eines armen Hauses niedergesunken war, fand ich mich Morgens mit einem Frauenrock bedeckt, den die mitleidige Hand der Bäuerin über mich gebreitet hatte, während ich im Herdwinkel lag. Es war das einzige, was ihr geblieben war, womit sie einem kranken Feind eine Wohltat erzeigen konnte!

O, unsre Frauen sind mildherzig. Die französischen Eigenschaften gedeihen überhaupt besser auf dem Boden der weiblichen als der männlichen Natur ... Ich bin für den Frieden, fuhr er nach einer Pause mit einem Ausdruck der Überwindung fort, ja für den Frieden. Sie wundern sich wohl?

Ich antwortete ihm, indem mein Blick unwillkürlich zu dem friedvollen Marienstandbild zwischen den Fenstern hinüberschweifte, daß der Geistliche ja ohnehin ein Diener des Friedens sei, dem die Greuel des Krieges viel unnatürlicher vorkommen müßten als uns. Sein Auge war dem meinen begegnet und blieb, während er sprach, mit einem Ausdruck von Innigkeit, der nichts Gewohnheitsmäßiges hatte, auf dem Bildwerke ruhn.

Mit Recht sagt man, der Krieg sei die Sache der Männer; wir können sogar sagen, der waffenfähigen Männer. Welche große Mehrheit von Frauen, von Kindern, von Greisen, von Kranken ist in jedem Volke dem Kriege abgeneigt. Viele tun, als bestehe diese Mehrheit nicht. Aber wir Geistlichen sind so recht ihre Vertreter, wir kennen sie. Und als katholischer Geistlicher, der stündlich das Bild der schmerzensreichen Mutter und des Kindes mit der Krone des Weltherrschers vor Augen hat, empfinde ich doppelt tief das Unrecht, das der Krieg dieser Mehrheit tut, deren Waffen die Tränen und das Gebet sind. Lassen wir ruhig die reden, die behaupten, der Krieg entfalte erst recht die Eigenschaften, die die Männlichkeit ausmachen. Es sind nicht die besten, die Gott in uns gelegt hat. Das Weib und das Kind stehn dem gemeinsamen Grunde der Menschheit näher, und eben deshalb müssen sie auch meinem Herzen näher sein.

Gerade ihr Deutschen müßtet die christlichen Franzosen verstehn, sagte er plötzlich abspringend. Ihre Führer haben Beweise von Demütigung vor Gott gegeben. Ich habe mir sagen lassen, Ihr General Werder lese am Wachtfeuer seine Bibel. Wie könnte auch ein solcher Mann seine Verantwortung ohne Glauben an Gott tragen? Vielleicht ist einmal sein Auge auf die Stelle gefallen, wo die Juden auf den Stein Eben-Ezer stoßen, bei dem Samuel spricht: Bis hier hat der Herr geholfen. Vielleicht sagt er sich heute: Versuchen wir den Herrn nicht weiter. Für Frankreich ist das ein Karfreitag, wie er in der Geschichte der Völker selten so dunkel gewesen ist, aber auch er hat seinen Abend, und dann folgt Ostern und Pfingsten. Deutschland war offenbar berufen, diesen Tag heraufzuführen. Aber die Vernichtung Frankreichs kann der Wille des Höchsten nicht sein. Vor ihm sind die Franzosen auch als Besiegte ein Volk Gottes. Ich will nicht sagen, daß die Deutschen das nicht seien, aber was die Franzosen für den christlichen Glauben getan haben, muß irgendwo ihnen zugerechnet stehn. Und ihr Posten im Hauptbuch der Vorsehung kann nur wachsen, wenn sie geläutert aus dieser Prüfung hervorgehn. Er faltete die Hände und sprach mit unmerklich gehobnem Ton: An meiner Schwäche vollende sich deine Stärke, und je schwächer ich bin, desto stärker bist du, o Herr. Glaube ich aber fest, so ist deine Stärke auch die meine.

Als ich in den Stall zurückkehrte, schlief mein Kamerad höchst behaglich unter seinem Mantel, und die Pferde schauten mich freundlich an, als wollten sie sich für den warmen Stall bedanken. Ich setzte mich zu ihnen. Die »stille Lebenslust« geht bekanntlich nirgends so intensiv von den Tieren auf den Menschen über wie in einem warmen Pferdestall. Den Tieren war es wohl, meinem Kameraden offenbar nicht minder, auch mir behagte es in der bräunlichen Dämmerung des alten Holzbaues, dessen dicke Bohlenwände keine Kälte hereinließen. Draußen wehte von den Bergen her ein kalter Wind, der sich feucht anfühlte; der Schnee auf den Dächern und an den Häusern schien zu sagen: Ich liege gut so, es eilt mir keineswegs, wegzuschmelzen.

Als sich der Abend früh herabsenkte, wanderte ich durch das Dörfchen und suchte den kürzesten Weg ins Freie; der einzige betretne führte an neun Bildstöckeln, auf denen die Leidensstationen des Herrn gemalt waren, zu einer kleinen Kapelle, von der man talaufwärts in abendgrauen Wald und über breite weiße Flächen hinsah, unter denen wohl Wiesen dem Frühling entgegenharren mochten. Der Abendhimmel stand kühl darüber, am Horizont topasgelb, oben weiß. Im Westen war die Sonne am Versinken. Der Gedanke, daß so gar nichts von dem Lärm des Krieges, der hinter diesen Bergen noch wütete, hereindrang, beschlich mich halb heimwehartig. Wenn man monatelang in der Gesellschaft von Tausenden marschiert ist, gefochten und gelagert hat, muß man sich an das Alleinsein erst wieder gewöhnen.

Auf dem Rückweg begegnete ich dem Geistlichen.

Sie haben sich unsern kleinen Kalvarienberg angesehen? Er ist bescheiden, aber die neuen Bilder sind nicht schlecht, heimische Arbeit.

Ich konnte ihm mit gutem Gewissen sagen, daß ich sie bewundert hätte und erstaunt sei, Bilder von so künstlerischem Ausdruck und so feiner Farbe hier zu finden.

Sie werden noch mehr finden, wenn Sie Zeit haben, sich umzusehen. Sie wissen noch nicht, daß Sie sich hier in einem künstlerischen Zentrum befinden, müssen es aber kennen lernen, sagte er lächelnd.

Ich wollte im Dorfe nach dem Quartier abbiegen.

Haben Sie nichts Besseres zu tun, so kommen Sie zu mir, setzen Sie sich an den Kamin und erzählen Sie.

Ich folgte gern und freute mich, in dem Zimmer, wo ich heute Mittag die Aussicht bewundert hatte, die Röte des Abends durch die drei Fenster in alle Winkel eindringen, jeglichen Gegenstand liebevoll und freigebig anglühn zu sehen. Und auf der andern Seite wartete das Kaminfeuer nur, um seinerseits, wenn das Rot des Himmels gewichen wäre, Fackeln und rote Schatten durch das Gemach huschen zu lassen.

Wir Franzosen müssen das Feuer sehen, sagte der Geistliche, indem er sich mir gegenüber vor den Kamin setzte, da sehen Sie, was für Phantasiemenschen wir sind.

Es war freilich eine phantastische Beleuchtung, aber die Abendstille und die wohltuende Wärme milderten ihr Grelles.

Der Geistliche ließ sich von Deutschland, von andern Ländern im Osten erzählen, die ich gesehen hatte, und von denen er nur die Namen kannte. Er selbst kam dann ins Reden, und unversehens stand man wieder mitten im Kriegsgespräch. Mich erstaunte seine entschiedne Verurteilung des Krieges, die ich so von einem Franzosen noch nie vernommen hatte. Der Krieg an sich war ihm ein Greuel, und dieser doppelt.

Ich fälle mein Urteil nicht von weitem her, sagte er mit einem Ausdruck der Überwindung, habe nicht bloß von weitem zugesehen, bin mitten im Gewühl gewesen, bin mitgeflohen. Mitgesündigt, mitgestraft! rief er laut. Wir zogen in den Krieg wie in einen Kreuzzug; meine Voltigeurs, die Paris geboren oder wenigstens erzogen hatte, waren freilich keine Heiligen, aber unter den Offizieren gab es Leute, die im Gefolge Gottfrieds von Bouillon hätten reiten können. Dächten wir an einem Faden fort, wie ihr, so hätte uns der Kaiser und sein Gefolge von unsern Kreuzzugsgedanken abbringen müssen, aber unsre Begeisterung führte gerade über die Lücken weg, in denen die Gefahren lauerten. Wir sahen Frankreich bedroht, das unter den besondern Schutz der heiligen Jungfrau gestellt war. Den Heiligen Vater, dem man Rom nehmen wollte, unser Land und unsern Glauben: das alles verteidigten wir.

Hier ist das Gebet, das wir hundertmal in jenen Augusttagen inbrünstig gesprochen haben. Er reichte mir aus einem Gebetbuch ein kleines Blatt, das in Metz gedruckt worden war. Es hieß am Schluß: N'oubliez pas, ô mon Dieu, qu'en protégeant la France, notre patrie, vous défendez votre Sainte Église, dont elle a mérité le titre glorieux de fille ainée.

Aber ich bin bald überzeugt worden, daß ein Ratschluß feststand, an dem so verspätete Gebete nichts ändern konnten. Ich mußte tagtäglich erfahren, daß für unsre Nächsten, unsre Soldaten, dieses schöne Gebet zu spät kam. Sollte man nicht glauben, daß der Soldat, indem er seinen Willen aufgibt, überhaupt das Walten eines höhern Willens deutlicher erkennen und es willig anerkennen müßte? Es hat immer Soldaten demütigen Herzens gegeben. Wer weiß, was im Krieg die nächste Stunde bringt? Frömmigkeit sollte eigentlich zu den militärischen Haupttugenden gerechnet werden. Ihr seid in der großen Mehrzahl Protestanten, aber Sie werden mir zugestehn, daß die Religion aller Soldaten etwas Katholisches hat: das feste Gefüge, die Unterordnung des Einzelnen, dessen Wille nichts gilt, und der Himmel so nahe! Überhaupt, der Katholizismus ist die einzige vernünftige Religion, zu ihr werden Sie und werden die Juden und wird der Islam zurückströmen, so notwendig wie das Wasser unsrer Bäche in sein natürliches Bett zurücktritt, aus der die Überschwemmung im Frühling sie herausschwellen ließ. Ich sehe in allen Revolutionen solche Überschwemmungen, die die Lebensfülle der Menschen aus ihrem gewiesnen Bett verwüstend über die Nachbarfelder treibt. Das sind nur Episoden.

Doch ich kehre zu meinen Kriegserinnerungen zurück. Am 18. August standen wir im Feuer bei Roncourt, das heißt wir lagen in den Furchen der Getreideäcker und in den Gräben der Wiesen und ließen die Kugeln der Zündnadelgewehre über uns weggehn. Wir stießen vor und schwenkten zurück, und so mehreremal, und als wir zuletzt alle Kräfte zusammennahmen und den Feind, der uns umfassen wollte, zurückzustoßen hofften, zersplitterte unser ganzes Korps. Und als wir im eiligen Rückzug die Furche wieder überschritten, wo wir so lange im Kugelregen gewartet hatten, lagen in ihr Mann an Mann die Tapfern, die unser Vorgehen und unsern Rückzug gedeckt hatten. Es war schon spät Abends, und man unterschied nicht, waren es Lebende oder Leichen? Man rief, man sprach sie leise an, man rüttelte: kein Laut, es waren die Toten, die noch Lebenden waren zurückgegangen, oder man hatte sie zurückgetragen. Ich kann dieses Bild nicht vergessen, diese dunkeln Gestalten, die da gestreckt oder gekrümmt, manche mit erhabnen Armen dicht nebeneinander lagen. Auf ihren bleichen Gesichtern spielte das Licht der ersten Sterne. Adieu, Kameraden, ich werde euch nie vergessen, nicht bloß beten werde ich für euch, ich werde für euch handeln, für euch leben.

Wir überstiegen die wandernden Barrikaden des Trosses und machten unsern Weg über das Schlachtfeld, dessen Erde aufgerissen und zerwühlt war, als ob sich die Hände von Riesen im Todeskrampf hineingekrallt hätten. In Gravelotte war denen, die beten wollten, nicht einmal die Kirche und sogar der kleine Kirchhof nicht geblieben, der sie umgibt; jene lag voll Schwerverwundeten und Toten, und dieser war für neue Gräber umgewühlt und stellenweis über Leichenhaufen mit frischer Erde aufgefüllt, in die kaum erkaltete Leichen gebettet wurden, die schon bereit lagen. Nur ein zerschossenes Kreuz war übrig, vor dem wir knieten. Niemals hat ein Gebet, das ich zum Himmel sandte, eine so große Macht gehabt. Die Verzweiflung fuhr aus, wie der böse Geist aus dem Besessenen. Dieses Elend, sprach es in mir, liegt hart am Tod, aber es grenzt auch an das Glück. Ergib dich in beide. Du bist jetzt auf dem Gipfel des Elends. Siehst du das Lichtlein ganz fern? Das ist das Glück, das du mit Glauben dir erringen und den Deinen sichern wirst.

Noch an diesem Abend waren wir vom Feinde, von Ihren Leuten, umringt, die Leichtverwundeten entwaffnet und gefangen abgeführt, die andern der Obhut des einzigen Arztes, der nicht mit nach Metz hineingezogen war, und der meinen überlassen. Es müssen katholische Preußen gewesen sein, die auf diesem Punkte vordrangen, ich hatte mich nicht über Feindseligkeit zu beklagen. Als diese weitergezogen waren, und die Belagerungstruppen sich um Metz zusammenschlossen, kamen andre, die weniger freundlich waren, sie wiesen uns barsch weg, und wir brachten unsre letzten Kranken nach Troyes. Einer nach dem andern genas, einige starben, zuletzt, mitten in dem schrecklichen Winter, war ich überflüssig geworden. Was nun tun? fragte ich mich. Zu den neugebildeten Truppen stoßen, die keinen Überfluß an Geistlichen hatten? Dazu hatte ich nicht den Mut. Man muß Vertrauen zu diesem Amte mitbringen, Vertrauen zu sich und zu der Sache. Mir aber lag Metz so schwer auf der Seele, ich konnte nicht einmal den Namen nennen hören, ohne daß ich innerlich zusammenschrak. Und ich sah voraus, daß es noch mehr Metze geben werde in diesen schlecht vorbereiteten Feldzügen des Winters 1870/71. Meine Nerven waren zerrüttet. Eine einzige Erinnerung, die sich mir am Tage aufdrängte und in der Nacht im Halbwachen erschien, peinigte mich bis zum Wahnsinn. Ich hatte in St. Privat aus dem Schutt, der die Kirche füllte, in der ich für meine Mitgefangnen eine Messe las, eine schwarze Hand aus den Brandtrümmern ragen sehen, bedeckt mit weißen Würmern, die an ihr nagten. Die verfolgte mich ... Gott sichtlich mit dem Feinde, und wir, die wir uns wie Gottes nächste Freunde gefühlt hatten, nicht bloß äußerlich besiegt, sondern innerlich geschlagen, der Glaube an unsre Sache und der Glaube an uns selbst zerschlagen. Glauben Sie mir, nicht wir, die das erlebt haben, wünschten den Krieg fortzusetzen; auf diese Gedanken konnten nur Freigeister, Journalisten, Advokaten kommen, die fern von den Schlachten ihre Reden schmiedeten. Wir dachten nur an innere Heilung und vertrauten dem Glauben und der Herzensreinheit, die nach solchen Prüfungen wachsen mußten. Darin lag für uns die Revanche.

Ein Freund teilte mir mit, daß die Kirche dieses Dörfchens, wo ich als junger Kleriker meine ersten Dienste geleistet hatte, verwaist sei; noch niemand hatte sich um die ärmliche Stelle tief im Gebirge beworben, und ich erhielt sie sofort. Ich habe immer die frommen, starken, genügsamen Menschen des Jura gern gehabt und war glücklich, unter ihnen leben und wirken zu dürfen. Hier genas ich von dem innern Zusammenbruch des schrecklichen Sommers. Der Krieg hat uns bis heute verschont. Sogar die Armee Bourbakis ist zu beiden Seiten unsrer Berge nach Norden geströmt und wieder zurückgeflossen. Sie sind der erste deutsche Soldat, den ich seit Metz sehe. Noch vor zwei Monaten hätte ich Ihren Anblick nicht ertragen, jetzt freue ich mich, in dem Feinde dem Christen die Hand zu reichen.

Sie wissen nun, wie ich den Krieg erlebt habe, und mögen sich denken, wie ich ihn beurteile. Ich nenne mich Franzose, aber zuerst bin ich Christ, und unter den Franzosen bin ich einer von den wenigen, sehr wenigen, die nicht nach Sieg, sondern nur nach Frieden verlangen, und nicht nach Frieden, um den Krieg vorzubereiten, sondern nach Frieden, um Gott zu dienen und zu preisen. Wir Franzosen sind viel zu weit von Gott abgekommen. Wir müssen ganz andre Wege einschlagen, als die wir seit vier Jahrhunderten gegangen sind. Als man die letzten gotischen Dome in Frankreich baute, da neigte sich die Zeit zu Ende, in der Frankreich groß und glücklich war.

Wer ist glücklich als der, dem es beschieden ist, ganz zu sein, was er sein kann und soll? Gewiesnen Weg zu gehn, das ist Glück. Sie werden sagen: Ich bin glücklich, weil mich als Soldaten ein einfaches Sollen durch die Wirrnis von Wollen oder Nichtwollen, Können oder Nichtkönnen durchführt. Nun wohl, ich bildete mir ein Ziel, auf das ich hinstreben mußte. Auch darum vergrub ich mich in dieses weltferne Dörfchen, weil hier niemand mich fragen konnte: Warum trennst du dich von der Masse deines Volkes, das im Kampfe steht? Diese armen Bauern und Uhrmacher des Jura stehn gerade so beiseite wie ich, nur mit andern Gedanken. Wir fragen einander nicht, was wir über den Krieg denken, wir wünschen aber alle, daß er vorbeigehe und ende.

Einst blühte die christliche Kunst in den burgundischen Landen. Wer kennt nicht die Schätze Dijons? Wenn Sie in Dijon waren, haben Sie Sainte Bénigne gesehen, die schönste aller echt gotischen Kirchen, und Sie müssen das Portal von Notre Dame und im Innern die herrlichen Steinbilder der Himmelfahrt Mariä von Dubois bewundert haben. Das liegt freilich jetzt alles wie jenseits eines tiefen Tales. Die Revolution hat bei uns das Leben der Kunst ausgetreten, und nun fällt auf uns die Pflicht, das Scheintote wieder zu beleben. Denn es war nicht gestorben, es schien nur so. Das ist ja eben der Grund, warum wir alle, die es gut meinen, das Ende dieses Krieges aus tiefstem Herzen wünschen. Wir wollen an die Arbeit gehn. Haben Sie unsre düstere kellerähnliche Dorfkirche gesehen? Hat es Ihnen nicht gegraut von den fetischartigen Marienbildern unsrer Kapelle? Nun wohl, sehen Sie einmal hier hinein. Er öffnete eine kleine Tür in der Vertäfelung der Seitenwand, die in einen ähnlichen Raum wie das Altarzimmer führte, der aber höher war und aus hoch angebrachten Fenstern klares Licht von Norden empfing. Er führte mich an der Hand in die Mitte des Raumes und weidete sich an meinem Erstaunen. Ich stand in einem Museum mittelalterlicher Kunst, in dem zugleich höchst gelungne Werke der neuern Bildschnitzerei aufgestellt waren. Zwei fast lebensgroße Marien mit dem Kinde standen nebeneinander im besten Lichte, die eine schien alt und zeigte Risse, die andre war offenbar neu und sah aus, als ob noch eben daran gearbeitet worden sei. Das lange blonde Haar, das in feinen Wellen über die Schultern floß, trug schon seinen goldnen Ton, aber die Gesichter waren erst grundiert, der Maler hatte sich das Schwierigste bis zuletzt vorbehalten. Nur das Stirnband, das die klare Stirn Mariens frei hielt, leuchtete purpurn von dem weißen Grunde. Der Künstler hatte im allgemeinen die Gestalt und die Stellung der beiden Figuren auf dem alten Bildwerk wiederholt, aber wie man sofort erkannte, mit Freiheit. Unter den Werken, die an den Wänden umher standen, waren auch einige alt, andre neu, von diesen letzten waren einige noch nicht bemalt, andre sahen ganz frisch aus. Auch ohne die Erklärung meines Führers würde ich eine gewisse Ähnlichkeit der Motive und sogar der Stimmungen herausgefunden haben: es waren Bilder der Gottesmutter mit dem Kinde, mit dem Leichnam, und vielleicht das bedeutendste, jedenfalls das ergreifendste war der Tod Mariens, in dessen rührender Darstellung des Zusammenbruchs eines Lebens und mit ihm des Glückes aller derer, die schmerzerfüllt die Sterbende umgaben, ich Anklänge an Memling zu erkennen meinte. Es war ein kleiner Marientempel und zugleich ein Tempel, wo der Innigkeit des Mutter- und des Leidensgefühls Mariens geopfert wurde. Schade, daß alle Kirchengeräte, zum Teil zerbrochne, die an den Ecken standen, etwas an die Gerümpelkammer eines Kunsttrödlers erinnerten.

Der Pfarrer ließ mich ruhig betrachten und staunen. Dann sagte er: Solche herrliche Dinge fanden sich in der alten Freigrafschaft einst in Menge. Was hier steht, hat zuerst mein Vorgänger vom Untergang oder aus den Wucherhänden abscheulicher Hebräer gerettet, der Freunde Renans. Mein Vorgänger sammelte nur, ich unterfange mich, das alles zu beleben, zu erneuern, für Frankreichs neues Leben nutzbar zu machen. Man merkte bei diesen letzten Worten ein Beben in seiner Stimme, wie von unterdrückter Rührung. Dann sprach er mit Begeisterung von der Bestimmung aller dieser Werke, die hinauswandern sollten in die Dorfkirchen eines weiten Kreises, und wie sie veredelnd wirken würden, wie die Kirchen erneuert werden sollten, um die heiligen Bildwerke würdig aufzunehmen, und daß dann diese Bewegung Frankreich ergreifen und sich wie einst die Predigten Bernhards von Clairvaux in die Nachbarländer ausbreiten würde. Frankreich muß besser werden, auch ihr müßt besser werden, Frankreich siegt und triumphiert, indem es diese Bewegung führt, wie so oft. So etwa schloß er.

Es ist eines der unbehaglichsten Gefühle, wenn uns eine fremde Begeisterung fortreißen möchte, und wir sind unfähig, ihr zu folgen. Das zieht und zerrt, aber wir können mit dem besten Willen nicht mit, und je heißer unser Gefährte wird, desto kühler wird es uns ums Herz. Diesem Manne machte es gar keine Mühe, sich über die Erde zu erheben; aber es schien mir, als ob seine Sonnenrosse von kurzem Atem seien. Denn plötzlich hielt er im Entrollen der weiten Perspektiven inne, sein Blick blieb ins Leere gerichtet, dann senkte er sich schwankend zurück. Es hatte etwas Beängstigendes. Unwillkürlich mußte ich diesen Geist mit dem Rosenkranz vergleichen, der dort an der Türkante über ein reizendes zinnenes Weihwasserkesselchen geschlungen hing: so reihten sich in ihm schöne Gedanken, einer an den andern. Aber ich sah nicht den Faden, der sie zusammenhielt. Und war er fest?

Unwillkürlich mußte ich den Kopf betrachten, der fast etwas zu groß für die mittelhohe Gestalt war, und den die kurzgehaltnen Haare – nur eine ganz kleine Tonsur ließen sie erkennen – nicht kleiner machten, weil die Größe mehr im Gesicht als im Schädel lag. Von der Stirn, die in derselben Linie mit dem Vorderkopf zurückflog, wanderte jedes Runzeln bis auf den hohen Scheitel, von dem man es den steilen Hinterkopf hinabsinken zu sehen meinte bis zu dem starken Halsansatz. Mund und Hand wetteiferten an Weichheit und Wärme, und wie die Handbewegungen, die die Rede begleiteten, rund waren, rollten die Worte rundlich und voll von den Lippen. Wie eitel, mußte ich denken, sind alle diese schönen Pläne, wie luftig ist die Größe dieser Ideen! Fürchtet nichts für eure Ruhe, Franzosen, von diesem Reformer, und hofft noch weniger; das ist kein Mann des Willens und der Tat, keine befehlende Natur, nur eine grübelnde, sich bespiegelnde und wohl auch genießende.

Es dauerte nicht lange, daß die Rede auf ein Lieblingsthema der Franzosen, die Spionage, kam. Es lag ja hier im Grenzlande noch näher als anderswo.

Der Erfolg des Krieges zeigt, daß Ihre Führer ausgezeichnet unterrichtet waren. Sie wissen besser Bescheid in Frankreich als die französischen Generale. Das macht man nicht bloß mit Karten und Büchern. Sie müssen ausgezeichnete Kundschafter haben. Das weiß man ja, sie sind überall. Und Sie wissen das sicherlich besser als ich!

Ich habe einen einzigen Kundschafter gesehen, das war ein Reiter in französischem Jagdkostüm, der auf blutiggesporntem Renner nach Bar le Duc am 26. August die erste Nachricht von dem Abmarsch Mac Mahons nach Sedan brachte, nachdem er mitten durch ihre Kolonnen durchgeritten war. Es war ein preußischer Offizier, der wer weiß wie die wichtige Nachricht erhalten hatte. Sie werden ihn doch wohl nicht Spion nennen?

Zur Hälfte wohl. Die Maskerade fehlt ja nicht. Doch habe ich allerdings andre Leute im Sinn. Nennen wir sie einmal Zurückgekehrte. Wir haben überall im Jura vor dem Kriege Deutsche und Schweizer gehabt, Uhrmacher und andre, katholische Deutsche aus dem Schwarzwald und protestantische Schweizer aus der Gegend von La Chaux de Fonds. Die Deutschen, die uns lieber waren, weil wir sie wegen ihrer Religion und ihres Charakters besser verstanden, sind alle, fast alle gegangen. Es war keines Bleibens, auch nicht für die Ruhigsten; auch konnten und wollten sie nicht bleiben. Nun will man da und dort einen wieder gesehen haben. Man verwechselt wohl Schmuggler oder Wilddiebe damit, an denen es im Jura nie gefehlt hat. Grenzland und Waldland, gefährliches Land!

Eine einzige Familie ist hier geblieben, fuhr er nach einer Pause fort. Wer weiß, ob auch diese es vermocht hätte, wenn ich nicht dazu beigetragen hätte, aus diesem Tal einen Winkel zu machen, der in den Kriegsstürmen unbewegt, still wie ein Bergsee des Jura blieb. Und ich habe sie sozusagen unter meinen Schutz genommen. Er sprach leiser, als lasse er Erinnerungen vor seiner Seele vorbeiziehn. Es schien zuerst eine schwere Verantwortung zu sein, die mich nicht wenig drückte. Zum Glück ist alles gut vorbeigegangen. Er wandte sich mir wieder zu. Unsre Leute, soweit sie Feineres arbeiten, sind durch die Mechanik für die Kunst verdorben. Wer die Woche lang Rädchen gefeilt oder Kettchen zusammengefügt hat, hat nicht mehr die Innigkeit, die die Kunst der Kirche braucht. Wer weiß, vielleicht ist es auch Sache des Charakters. Die germanische Seele ist vielleicht inniger angelegt oder hat eine dauerhaftere Fähigkeit, sich zu versenken. Doch genug. Der Mann kam aus seiner kleinen Malschule im Schwarzwalde hierher im Glauben, man brauche hier ebensolche Schildermaler wie dort. Aber unsre Uhrenfabrikanten sind darauf gar nicht aus, so wenig wie sie auf Kuckucksuhren oder andre Spielereien verfallen, an denen die Schweizer und die Deutschen ihre Freude haben. Der französische Bauer liebt ein hellglänzendes Uhrblatt aus geschlagnem Messingblech. Joseph brachte nun einige Uhrschilder, die er gemalt hatte, einem Fabrikanten in S. Hippolyte, bei dem sah ich sie. Es waren Darstellungen aus der Heiligen Geschichte, konventionell, aber mit gläubigem Herzen gemacht. Ich fragte gar nicht nach dem Stil und der Vollendung, mich fesselte so das Gefühl, das den heiligen Gestalten Leben und Sprache verlieh in einer Zeit, wo sie sogar in den Seelen vieler Frommer nur ein Scheinleben führen, daß ich sie für ein Billiges kaufte. Und auch das wagte der junge Schildermaler kaum zu fordern. Es stellte sich heraus, daß er auch schon in Holz gebildhauert hatte. Mein Vorgänger, der alte Pfarrer, übertrug ihm auf mein Bitten die Wiederherstellung der vermoderten Kreuzwegbilder, die am Wege zu der Kapelle Trinité stehn. Und als diese Arbeit zu aller, auch der Bauern Zufriedenheit gelang, ließ sich Joseph hier nieder und warf sich auf die Holzschnitzerei. Werkzeug und das Holz der Arven und Ahorne ließ er sich zuerst aus seiner Heimat kommen, später kaufte ich ihm das nötige Holz bei uns im Lande, wir fanden vortreffliche Lärchen und Ahorne hier. Die Künstlerseele lag in seinen ersten Versuchen zwar nicht so, wie Sie sie in den Werken bewunderten, die Sie in meinem Atelier gesehen haben, aber doch schon so sprechend, daß meine Amtsbrüder seine Werke erwarben, wie sie nur zu haben waren. Joseph ist kein Geldmacher; daß er seine Sachen zu so billigem Preise abließ, hat ihm noch mehr Abnehmer verschafft. Das war vor drei Jahren. Seitdem ist er als Künstler immer freier und feiner geworden, als Mensch aber blieb er derselbe. Er will nicht mehr sein als ein Bauer, der statt des Pflugs das Schnitzmesser führt. Sie sehen ja, wie einfach er ist. Er hat eine Tochter aus dem Tale geheiratet und hat keine Lust, weiterzuziehn. Als es letzten Sommer beim Ausbruch des Kriegslärms hieß: Fort mit den Deutschen, hat sich gegen ihn keine Stimme erhoben, und trotzdem daß er sich nicht dazu herbeilassen wollte, sich naturalisieren zu lassen, beschloß die Gemeinde, ihn auf ihre Verantwortung ungestört hier zu lassen. Wir sind ja zum Glück weit von Vesoul und von Besançon, wo die Schreier sitzen, niemand hat ihn verdächtigt, niemand ihn belästigt, und er spricht kein Wort vom Kriege.

Nur eins habe ich für ihn befürchtet: daß das vergiftende Wort Spionage mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden möchte. Wie leicht könnte das geschehen! Er hat die Furchtlosigkeit des Arglosen. Ich habe ihn gewarnt, mit versprengten Deutschen oder Schweizern, die es unter den Schmugglern gibt, zu sprechen. Aber die Leute kennen ihn. Man sieht da in seltsame Verhältnisse. Neulich hat ihn ein Deutscher besucht, der in Dôle bei einem großen Metzger dient und auf seinen Viehkäufen landauf landab wandert. Denken Sie, dieser Mann ist noch während des Kriegs zu dem Meister zurückgekehrt, bei dem er vorher in Diensten gestanden hatte. Eine rührende Anhänglichkeit, nicht wahr?

Zum Glück wartete der Geistliche meine Antwort nicht ab. Hätte er nicht so lebhaft von den Arbeiten des Bildschnitzers gesprochen, so würde er irgend etwas von Überraschung, vielleicht ein Erschrecken auf meinem Gesicht gelesen haben. Im vierzehnten Armeekorps erzählte man sich Wunderdinge von einem Soldaten eines badischen Regiments, der in der Verkleidung eines viehkaufenden Metzgers halb Frankreich während des Krieges durchstreifte und aller Paar Tage mit Nachrichten ins Hauptquartier kam, unter denen angeblich die so wichtige erste über den Transport der Bourbakischen Armeekorps nach Osten war. Mehr als einmal beargwöhnt und verhaftet, hatte er sich immer wieder freizumachen gewußt; er sollte auch bei Belfort wieder Dienste geleistet haben. Ich hatte den kühnen Kundschafter in der blauen Bluse mit dem großen Hund zur Seite mehr als einmal gesehen, würde ihn sicherlich wiedererkannt haben. Ohne mir Rechenschaft geben zu können, berührte mich der Gedanke peinlich, daß er in diesem stillen Dörfchen auftauchen könnte. War das schon ein Schatten, den der von vielen nahe geglaubte Friede vorauswarf?

Ich kannte meinen holzschnitzenden Landsmann nicht, aber es regte sich ein Gefühl für ihn in meinem Innern, dessen Keim Wohl die Befürchtung war, daß es für den fremden Mann nicht heilsam sein könne, sein Geschick zu eng mit den unklaren Plänen des Geistlichen zu verknüpfen. Sind Phantasten jemals zuverlässig? Das Abgerissene seiner Reden, so viel Wahres und Geistreiches sie enthalten mochten, und mehr noch die Art, wie er dem Kriege den Rücken gewandt hatte, gerade als daraus der Krieg des Volks geworden war, erfüllten mich mit Argwohn. Ich hielt ihn nicht gerade für einen Feigling und Fahnenflüchtigen, aber doch für einen von den Schwärmern, die es leicht mit großen Pflichten nehmen, wenn deren Erfüllung nicht in ihre Pläne paßt.

Den andern Nachmittag kam der Befehl, uns am frühen Morgen des 25. in Etalans der Bedeckung des Fuhrparks anzuschließen, der seinen Marsch nach Dôle fortsetzen werde. Unser Aufbruch war rasch vorbereitet. Wir wollten zuerst die Nacht reiten, zogen aber den Frühmorgen vor. Den Abend nahm ich mit Dank das Anerbieten des Geistlichen an, mich zu dem Holzschnitzer zu führen. Er wohnte etwas abseits vom Dorf an dem Hange, der es nach Norden überragt und schirmt. Äußerlich war das Häuschen nicht von einem gewöhnlichen französischen Bauernhaus kleinern Formats zu unterscheiden, sein Dach war flacher als draußen in der Ebene, wie überall in den Gebirgsdörfchen des Jura, und seine Fenster waren schmal und steckten tief in den dicken Mauern, die übrigens sauber verkalkt waren; auf der einen Seite zog sich ein Gemüsegarten die leichte Anhöhe hinauf, vor der das Häuschen stand, auf der andern war ein Stall angebaut, dessen schwärzliches Holzwerk ein reifes Alter verriet. Als aber mein Begleiter die obere Hälfte der Haustür zurückdrückte und von innen mit sicherm Griff aufklinkte, trat man nicht in den üblichen Vorraum, der zugleich Küche und Aufenthalt der Familie ist, sondern ging auf einem mit unregelmäßigen Steinplatten gepflasterten Gang geradeaus auf eine Glastür, die ein Dämmerlicht in das Dunkel sandte. Offenbar war gerade die Stelle des Vorraums durchgebrochen, wo sonst über dem langsam qualmenden Feuer der immer brodelnde, schwarzberußte Kessel an schwarzer Kette hängt. Dadurch hatte dieses Innere einen so ganz andern Charakter als das französische Bauernhaus sonst, es erinnerte eher an die Hütte eines deutschen Dorfhandwerkers. Aber nun öffnete sich die Tür am Ende des Ganges, und ein heller Raum strömte reichliches Licht in das Dunkel. Man sah eine schräge Decke, in die zwei Oberlichter eingesetzt waren, durch die das vom Schnee blau zurückgeworfne Tageslicht eindrang.

Da hingen die Schnitzereien in allen Stufen der Vollendung und daneben die Schablonen, nach denen die Grundlinien auf die Holzblöcke gezeichnet werden. Es waren auch in den Fensterecken Holzstücke von verschiednen Formen aufgeschichtet, denen man die Größe und die Gestalt der Figuren, die sich aus ihnen entwickeln sollten, schon ansehen konnte. Ganz fertig schienen aber nur einige Tafeln zu sein, die in hohem Relief Ornamente, meist Blumen und Ranken und schöngeschnittne Blätter, trugen. Die waren im besten Lichte aufgehängt, und gerade jetzt spann die Spätnachmittagsonne goldne und rote Fäden darum.

Joseph stand am Schnitztische, eine Christusfigur, die die Hände segnend erhob, lag vor ihm. Er arbeitete daran mit einem feinen Messer weiter, ohne sich durch unser Kommen viel stören zu lassen. Den Pfarrer begrüßte er mit der Ehrfurcht, die dem Seelenhirten gebührt, an meiner Uniform haftete einen Moment sein Blick, dann wandte er sich mit einer gewissen Geflissentlichkeit wieder der Arbeit zu. Seine Haltung hatte das Freie, das dem Manne eigen ist, der sich mit seiner Arbeit eins und durch sie gehoben fühlt. Mit raschem Schnitte nahm er ein Spänchen weg und änderte dadurch den Ausdruck der werdenden Gestalt in wunderbarer Weise. Das war nicht bloß Übung, in dieser Sicherheit des Blicks und der Hand sprach sich die rasche Auffassung aus, die der ruhige, fast schwer auf den Dingen ruhende Blick seiner hellen Augen bestätigte. Die Beweglichkeit seines geistlichen Freundes hob sich auffallend von dieser tiefen Ruhe und Sicherheit ab, die im blauen Arbeitskittel doppelt imponierte. Der Mann nahm die etwas stark aufgetragne Patronage gleichmütig hin, ließ sich aber offenbar nicht in seiner Arbeit dadurch stören oder gar beeinflussen.

Die Rede ging von den Arbeiten, von denen der Holzschnitzer nur karge Kunde gab, auf die Kriegsläufte über. Der Kanonendonner aus der Gegend der Schweizer Grenze hatte sich gegen Abend verstärkt. Den ganzen Tag hatten die Dorfbewohner in der Furcht gelebt, daß er sich nähern werde, und ich war verschiedne mal darum gefragt worden. Nur der Südwind hatte ihn gelegentlich näher ertönen lassen, jetzt war es dagegen klar, daß er sich entfernte.

Möchten sich doch Bourbakis Kranke und Krüppel endlich ergeben, sie haben ja nichts mehr zu gewinnen, rief der Geistliche.

Sie hoffen immer noch etwas Kriegsruhm zu guter Letzt zu ernten, sagte obenhin der Bildschnitzer. Ich würde es ihnen gönnen. Die Deutschen haben soviel davon, und die Franzosen gar nichts. Sind denn beide Nationen so verschieden? Vor dem Kriege waren sie es doch nicht, wenigstens in unsern Schichten, wo man arbeitet und froh ist, ein kleines Ziel zu erreichen. Der Friede wird doch endlich kommen, und dann werden Deutsche und Franzosen wieder nebeneinander leben müssen. Es wird wohl leichter alles wieder ins Gleis zu bringen sein, wenn die einen nicht zu sehr Sieger und die andern nicht zu sehr Unterworfne sind. Du wunderst dich wohl, Landsmann, fuhr er zu mir auf Deutsch (mit alemannischem Anklang) fort, daß ich so rede, aber bedenke, ich lebe hier unter Franzosen, deren keiner mir ein Haar gekrümmt hat, und ich lebe mehr noch in meiner Arbeit.

Leider, antwortete ich, bringt der Krieg alles friedliche Hantieren in Unordnung. Daß wir hier heraufkommen mußten, hat euch sicherlich nicht gefallen. Und auch wir wären gern weitergezogen.

Glaubs wohl! sagte der Bildschnitzer in seiner einfachen Weise. Doch was kannst du dafür? Es heißt gehorchen. Übrigens, um offen zu sein, ich habe mich gefreut, einmal einen von den deutschen Soldaten zu sehen, wenn sie nun doch einmal in dieser Gegend sind. Der Herr Pfarrer weiß, daß ich kein Franzose bin. Man kann nun einmal nicht von seiner Wurzel weg. Eigentlich führen wir auch Krieg, der Herr Pfarrer und ich, aber nur mit den schlechten Figuren, die auf den Altären der Kapellen stehn. Wir haben doch schon manche beseitigt, aber es gibt noch viel zu viele. Mein Leben reicht nicht hin, sie zu ersetzen, und wenn ich jede Woche einen Herrgott schnitzte. Jetzt hoffen wir auf nichts mehr als auf friedliche Zeiten, sie müssen kommen, und wenn die Menschen wieder ihrem Tagwerk nachgehn können, wird sich irgendein Knabe finden, den ich unterrichte, und dann wird es zusehends besser in Kirchen und Kapellen werden. Er wiederholte die letzten Worte französisch, und der Geistliche war hocherfreut, seine eignen Wünsche und Hoffnungen in zwei Sprachen verkündet zu hören.

Die Sonne war hinabgesunken, nur ihr letzter Widerschein auf den Wolken und dem Schnee lag noch rötlich in der Luft. Eine einfache junge Frau kam herein, an deren Kleide sich ein kleiner Knabe hielt, und brachte die trüb flackernde Ampel. Von der Kirche klang das Ave Maria-Glöckchen, und das laute Abendgebet, in französischer Art singend gesprochen, hallte in dem niedern Raum. Wir saßen auf der Bank vor dem grünen Ofen, in dem Holzreste fröhlich knisternd verbrannten. Der Mann im blauen Kamisol stand an seinem Schnitztisch und warf wenige Worte in das Gespräch. Dann und wann hob er mit der Nadel, die an einem Kettchen an der Ampel hing, den Docht heraus und glättete weiter. Er arbeitete nur noch mit Bimsstein, und nur an der untern Partie des Christusbildes, glättend weiter, da es zum Schnitzen nicht hell genug war. Auch an dieser Arbeit erkannte man die Feinheit seiner Hand und das Liebevolle in seinem Verkehr mit den Stoffen. Der Knabe hatte meine Militärmütze auf seinen blonden Lockenkopf gestülpt und schwang einen hölzernen Span als Schwertchen mit den Worten: Prussien, zum Krieg, zur Schlacht! Vorwärts!

Glückliches Kind, sagte der Geistliche, alles ist ihm nur ein Spiel.

Das Wort Krieg wird in diesem Hause sonst nicht gehört, sagte der Bildschnitzer. Es ist eine Art Aberglaube, daß ich und meine Frau es nicht gern aussprechen, so wie man beim Gewitter nicht vom Feuer spricht. Das Kind lernt das von seinen Spielkameraden. Der Krieg ist eine Strafe Gottes, zu hoch und zu schwer zum Spiel.

Da muß ich mir einen Vorwurf machen, die Erinnerung daran in Ihr stilles Haus gebracht zu haben, meinte ich.

Tut nichts, sagte er, indem er mir zum Abschied die Hand reichte, verschont uns nur der Krieg selbst. Und dazu hat es ja nun allen Anschein. Adieu, Landsmann, komm glücklich heim und grüße das badische Ländle.

*

Den nächsten Morgen erhoben wir uns um vier Uhr, um zu füttern, die Nacht war kalt und sternenreich. Wir warfen uns noch für eine halbe Stunde aufs Stroh und hörten mit Behagen dem Kauen und Mahlen der Pferde zu. Da plötzlich rasch hintereinander fünf oder sechs Schüsse, dem Klang nach aus Henrygewehren, dann verworrenes Geschrei. Näherte es sich uns? Unsre Karabiner waren zur Hand. Man schien den Ruf »Feuer« ganz in unsrer Nähe auszustoßen. Im Nu war die Stalllaterne in einen Winkel gestellt, wo ihr Licht uns nicht verraten konnte, dann das Tor weit geöffnet. Das Sternenlicht genügte nicht, die Straßen zu erleuchten, man mußte dem Ohr allein vertrauen, das aber nur den Laut des Öffnens und des Schließens der Fenster und der Türen und von Schritten vernahm, die nicht in unsrer Richtung zu gehn schienen. In den Fenstern des Geistlichen war Licht, sonst alles dunkel. Da wurde es vom obern Dorfe her heller, als ob dort der Vollmond aufgehe, aber das war keine Mondnacht. Zuckende Widerscheine hätten an ein Nordlicht denken lassen, wenn nicht in demselben Augenblick aufsprühende Funkengarben den Brand gemeldet hätten. Es war dem Anschein nach eine Scheune in Brand geraten. Aber die Schüsse? Die Möglichkeit eines Gefechts mit deutschen Soldaten war hier ausgeschlossen. Wo sollten sie und wo ihre Gegner herkommen? Für eine etwaige Streiftruppe der Franzosen wäre doch der Überfall unsers kleinen Postens, von dem die ganze Gegend wußte, das Nächste gewesen. Wir rieten auf Wilddiebe oder Schmuggler. So saßen wir eine Stunde schußbereit, bereit auch, im Augenblick aufs Pferd zu springen und davonzureiten. Ich kam endlich auf den Gedanken, im Hause nachzusehen, ob der Geistliche zurückgekehrt sei. Alles Klopfen war vergeblich, kein Mensch antwortete. Die Sache wurde rätselhaft. Was blieb übrig, als ohne Abschied abzumarschieren? Längeres Verweilen hatte keinen Sinn, wäre auch gegen den Befehl gewesen, der uns ein frühes Zusammentreffen mit dem Fuhrpark vorschrieb. Also vorwärts! Vorsichtig die steile Seitenstraße hinab zur Hauptstraße, in dieser nordwärts zum Ausgang des Dorfes. Es schienen sich mehrmals Fenster beim Schall der Hufe zu öffnen, aber kein Kopf wurde sichtbar. Ein Begegnender, den wir anriefen, verschwand ohne Antwort im Dunkeln. Da, beim Einbiegen in das Tal, wo unser Weg talabwärts führen mußte, stand plötzlich die Feuerstätte oben in halber Höhe am Hang des Hügels, hinter ihr gespenstisch, wie ein Riesenschatten, der Kirchturm. Mir schnürte sich die Brust zusammen. Unwillkürlich hielten wir unsre Pferde an. Das war das Haus, wo ich gestern Abend glückliche Menschen verlassen hatte. Das Häuschen war schon ausgebrannt, rauchende Balken hingen über die Brandmauer, deren angeglühte Steine grell herausschauten, in der dicht angebauten Scheune qualmte es noch in Holzstößen, die zu Kohlenmeilern verbrannt waren, und ein stinkender Schwaden zog in der Morgenluft, das Dach war eingestürzt. Die Sterne allein strahlten ruhig herab. Stumm stand um die Stätte der Vernichtung eine Menge, in der sich kaum einer bewegte. Gleich darauf führte unser Weg am Tor des kleinen Kirchhofs vorbei, dessen entblätterte, sonderbar zinnenförmig geschnittne Weißdornhecke ich vom Einmarsch her wiedererkannte. Man sah die gelben und die schwarzen Perlenkränze im Widerschein der roten Glut schimmern, und ein harter Ton von Spaten, die den gefrornen Boden zu zerteilen suchten, klang von nahe her. Hart am Straßenrand waren graue Gestalten an der Arbeit, eine dunklere schien sie anzuweisen. Es ist nur ein Häufchen Knochen, hörte ich sie sagen, alles andre ist verbrannt, man könnte sie in diesem Loche unterbringen, darauf die Stimme des Geistlichen, die fest, fast geschäftsmäßig klang: Man lege sie auseinander, dieser ist Joseph, jener der Knabe, jedes Häufchen in einen Sarg für sich. Indem hatte er den Hufschlag unsrer Pferde gehört und tat einige Schritte auf die Hecke zu. Was ist Schreckliches vorgegangen? Joseph und sein Sohn sind tot, aus Irrtum von schweifenden Franktireurs erschossen, zusammen mit seinem Landsmann, dem Metzger, in dem sie einen Spion suchten; sein Haus verbrannt mit allem, was es an Werken und Hoffnungen barg. Maria lebt, aber ich fürchte für ihren Verstand. Mein Metz! rief er, indem er die Hände zum Himmel hob, mit erstickter Stimme.


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