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Nach der Feier des Unabhängigkeitstages, der Nordamerikaner aus den verschiedensten Städten Deutschlands um den Botschafter und einige Konsuln der Vereinigten Staaten versammelt hatte, stand die festlich gestimmte Gesellschaft in Gruppen beisammen, die lebhafte, heitere Gespräche mit auffallender Mäßigung, fast gedämpft pflogen. Leises Sprechen und unscheinbares Bewegen, das jede Auffälligkeit fast zu absichtlich vermeidet, wird von Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in der amerikanischen Gesellschaft. Ist das ein »frauenhafter« Zug? Oder entspringt es dem Streben nach schärferer Betonung der Grenze gegen das aufdringliche Naturburschentum der nächstuntern Schicht? Jedenfalls bin ich überzeugt, daß die freundschaftlichen und patriotischen Explosionen in einer übrigens echt amerikanischen Gruppe, die nach aufgehobner Tafel »um die Bar hing,« bei korrekten Herren den Verdacht erweckte, daß in diesen Landsleuten aus Newyork und Pennsylvanien etwas deutsches oder gar französisches Blut fließen müsse. Wer nicht noch einen Händedruck des unermüdlichen, an Geist und heitrer Liebenswürdigkeit unerschöpflichen Mr. Andrew White zu erhaschen strebte, trennte sich nun mit einem letzten liebevollen Blick auf den Saal, dem die Fülle des Grüns und der Blumen einen ganz besondern heimatlichen Reiz verlieh. Nicht die Sternenbanner, Büsten und Inschriften machten, daß eine amerikanische Luft durch den Raum wehte, der den banalen Charakter eines Gasthausspeise- und Gesellschaftssaals unter den Händen amerikanischer Damen und einiger junger Künstler vollständig verloren hatte. Es war völlig ein Stück amerikanischer Boden. Es kam mir vor, als röche es nach Balsam- und Schierlingstannen. Nur einem Volke von starkem nationalem Empfinden gelingt es, mit seiner Persönlichkeit einen fremden Ort irgendwo in der Welt so deutlich und erkennbar zu durchdringen.

Karl Peters erzählte mir einmal von einem Kommers, den ihm schottische Afrikafreunde in Edinburgh veranstaltet hatten, wobei Teetassen und Kakaobecher mit Bier und Scotch Whiskey zusammenklangen und manche Gäste auch völlig »trocken« saßen. Unser Tisch erinnerte mich daran mit seinen Milchgläsern und den kleinen Fläschchen grau-trüben alkoholfreien Ingwerbiers. Es fehlte ihm das Licht und die Glut edler Weine. Ich merkte wieder einmal, daß die Temperenzbewegung auch ihre ästhetische Seite hat. Für uns, in deren Jugenderinnerungen die Reben hineinranken, deren erste Lateinstudien das Verslein einprägte: Aqua das Wasser, Vinum der Wein, Spira die Brezel, die tunkt man hinein, die die Weinlese als das fröhlichste Fest des Jahres, des ehrlichsten und herzlichsten der Ernte- und Dankfeste feiern sahen und mitfeierten, deren Erinnerungen an Freundschaft und Liebe der Duft edeln Weines umweht, ist zum Glück die Alkoholfrage keine reine Genuß-, Gesundheits- und Nervenfrage. Niemals kommen mir die Anglokelten utilitarisch-platter vor, als wenn sie den Wein- und Biergenuß mit aller seiner Poesie kurzweg in dieselbe Grube wie ihre tierische Whiskeyvöllerei werfen. Man muß stumpf sein gegen das Schöne und Gute dieser Erde, wenn man das alte Gold des Rheinweins oder den grünlichen Bernstein des Mosels nur deshalb nicht mehr leuchten sehen will, weil darin ein paar Tropfen von demselben Alkohol sind, der in konzentrierten Dosen den Menschen vertiert. Ich schwärme nicht für unsre Weinpoeten, aber wie kann man die Poesie des Weines wegwerfen? Das ist nur möglich, wo der Sinn für die Schönheit des Lebens überhaupt krankhaft verkümmert ist. Kein fremdartigeres Gewächs auf deutschem Boden als die sogenannte Abstinenzbewegung. Für Mäßigkeit sind wir entschieden und halten die Unmäßigkeit für einen der Erbfehler der Deutschen, denen man, wie dem Neid und der Nörgelei, bei jeder Gelegenheit entgegentreten muß. Aber wir protestieren ebenso entschieden gegen die Intoleranz der fanatischen »Wassersimpel,« und zwar hierzulande noch viel bereitwilliger als drüben. Dort hatten wir freilich das unangenehme Gefühl, daß mit uns zugleich diese »Planke« aus der demokratischen Plattform ein paar tausend derbe Fäuste von Brauern und Schenkwirten emporhielten, die ein Interesse von ganz andrer Natur daran hatten.

Ich kann nie den Eindruck vergessen, daß es eben doch der Kampf gegen die Wein- und Biergegner war, der fester als alles andre die Deutschen aller Länder und Gesinnungen zusammenhielt. Da war plötzlich die politische Disziplin da, die man bei andern wichtigsten Gelegenheiten vergeblich suchte. Ja diese vielbesprochne deutsche Disziplin! Sie wirkt Wunder, wenn wir kommandiert werden oder nach freier Übereinkunft unsre ganze Person in den Dienst einer Aufgabe stellen, die wir ernst nehmen. Wie schmerzlich vermißt man sie oft im gesellschaftlichen Leben. Wohl laufen wir damit auch nicht Gefahr, lächerlich oder läppisch zu werden, weil wir Spiel für Ernst nehmen, oder aus der Schale der Konvenienzen nicht mehr herauszukönnen und uns unfrei durchs Leben zu plagen. Aber wir bereiten uns selbst und andern unnötige Schwierigkeiten, weil wir kleinen Forderungen der Sitte nicht oder ungern und dann natürlich ohne Grazie folgen. Ich setze meine Hoffnung, daß es auch in dieser Beziehung besser werden wird, nicht so sehr auf die Ausbreitung jenes Sitten- und Ehrenkodex des modernen Rittertums, das das ganze deutsche Offizierkorps umfaßt, in die bürgerlichen Schichten, als auf die mit der Pflege der »Weltpolitik« wachsende Einsicht, daß zum Ansehen eines Volks in der Welt auch die Erfüllung der höchsten gesellschaftlichen Forderungen durch jeden gehört, den Bildung oder Besitz berechtigen, eine hervorragende Stelle in Anspruch zu nehmen.

Dresden ist eine Stadt zum Schlendern. Der Strom, die große Brücke, die weiche Luft, die blauen Hügel, die interessanten Bauwerke laden zur Betrachtung ein. Ich vergleiche diese Eigenschaft Dresdens mit Florenz, Brüssel, München. Wer aus dem geschäftigen, nüchternen Leipzig kommt, das sich, seitdem es sich mit einem Kranz von Fabrikdörfern umschlungen hat, niemals, auch an höchsten Festtagen nicht seines Alltagsgewandes entledigen kann, findet in Dresden die Festtagsstimmung einer von zahllosen müßigen Menschen bewohnten und zu allen Jahreszeiten von Vergnügungsreisenden besuchten Residenzstadt. Die Menschen gehn gut gekleidet, sogar geputzt auf den Straßen, ihr Schritt ist langsam, sie »lassen sich Zeit,« glänzend ausgestattete Gewölbe öffnen sich auf die Straßen, Kaffeehäuser sind von lesenden und spielenden Gästen besucht, und stille Alleen öffnen sich zu beiden Seiten der Verkehrsstraßen. Dabei fehlen nicht die Erinnerungen an eine anders geartete Vergangenheit. Die Lebensader der alten Stadt, die Prager Straße, ist keine breite Triumphstraße wie »die Linden,« sie hat vielmehr etwas eng Bürgerliches, das der Entwicklung Dresdens aus kleinen, fast dörflichen Verhältnissen entspricht. Dazu paßt die bürgerliche Lage der Residenz, der gegenüber, nur durch die Straße getrennt, sich die Schaufenster breit machen. Die großartige Elblandschaft mit der Terrasse, der herrlichen alten Brücke und dem Zwinger sind durch den dunkeln Durchgang ganz davon getrennt, gerade so wie das bürgerliche und bureaukratische Dresden einst unberührt geblieben war von den Kunstbestrebungen des Hofes. Beide umfaßt nun das moderne Dresden, hier Stadt der Industrie und des Handels, dort Fremdenstadt. Sogar in der Fremdenstadt möchte man noch die Schichtungen einer geschichtlichen Entwicklung verfolgen, denn der Wechsel ist nicht unbeträchtlich von der Zeit an, wo die polnischen und die russischen Familien zuerst die Vorzüge Dresdens für den Aufenthalt in der Fremde erkannt hatten, und der Periode der großen Überschwemmung mit Engländern und Amerikanern, der endlich ein starker Zustrom norddeutscher Ruhe- und Genußsuchender folgte.

Während wir am Elbufer hinwanderten, führte uns die Betrachtung dieser Vergangenheit unmerklich aus der transatlantischen Stimmung der letzten Stunden in die deutsche Gegenwart zurück. Niemand hatte den Wunsch, sich ihr zu entziehn, denn auch die gebornen Amerikaner gehörten zu denen, die sich Deutschland in irgendeiner Beziehung verschuldet wissen. Wir hatten in unserm Kreise einen der ersten Ärzte von Newyork, den Sprößling einer der idealgesinnten Judenfamilien, die in den fünfziger Jahren zu dem besten Kern der deutsch-amerikanischen Gesellschaft gehörten. Er war in Deutschland gebildet, und zwar nicht gefirnißt, sondern gesättigt mit deutscher Wissenschaft, dabei Amerikaner von Gesittung und wohl auch Gesinnung. Er kam von einem der großen internationalen Kongresse und teilte uns seine Eindrücke mit. Wissenschaftlich, meint er, folgen wir ja alle entschlossen und in Masse den deutschen Führern. Ich habe da Leute getroffen, die kaum ein Wort Deutsch mehr radebrechen konnten, deren Augen aber aufleuchteten, wenn sie den Namen eines von den alten, originellen, uneigennützigen, idealvollen Lehrern vernahmen, zu deren Füßen sie gesessen hatten. Ich habe einen Engländer mit Tränen der Rührung vom »alten Arnold« sprechen hören, der noch zu Ende der sechziger Jahre in Heidelberg dozierte. Nun, er war ja auch rührend, der liebe kleine Mann, der uns in seiner Vorlesung über die »Anatomie des Embryo« mit seinem alten Körper alle Lagen des werdenden Menschen im Mutterschoß mit akrobatischer Gewandtheit vordemonstrierte, uns gelegentlich aber auch mit dem Kindspech übergoß, das er in einer Schale entzückt herumreichte. Welche Begeisterung bei ihm für die Sache, und welche Wärme und Anhänglichkeit bei uns für den Lehrer, der ganz in seiner Aufgabe aufging! Solche Leute wachsen bei Ihnen in Deutschland immer wieder nach, bei uns bleiben sie leider immer selten. Wissenschaftlich kommen wir Deutschland besonders im Technischen nach und manchmal zuvor. Da sind unsre oft belächelten Zahnärzte mit ihren neuen Apparaten und Kunstwerken von Gebissen der ganzen Welt voraus, da kommen aber auch jetzt sehr nahe heran die Chirurgen. Das Chloroform und die unschätzbare Krankenbaracke sind nicht die einzigen amerikanischen Erfindungen auf diesem Gebiet. Die amerikanische Eigentümlichkeit, daß jeder Arbeiter aus seinem Handwerkszeug das beste zu machen strebt, die sogar die Axt des Hinterwäldlers zur Musteraxt aller Holzfäller der Erde macht und der Welt die Goldfeder und die Schreibmaschine gegeben hat, hat auch die chirurgischen Werkzeuge und Verfahren ergriffen und wird noch Bedeutenderes darin leisten. Amerika hat mehr musterhafte Krankenhäuser als das alte, reiche Europa. Auch die Irrenanstalten sind bei uns durchschnittlich vortrefflich eingerichtet. Ich verkenne aber nicht, es sind das alles mehr technische Fortschritte. Beruhen aber nicht alle Fortschritte der praktischen Medizin zuletzt auf technischen? So ist es auch mit den amerikanischen Errungenschaften in der Astronomie und in der Physik, die schon mit den Leistungen des alten Deutschpennsylvaniers Ritterhaus, den chauvinistische Amerikaner und dumme deutsche Nachtreter jetzt Rittenhouse zu schreiben lieben, vor hundert Jahren anhuben. Kraft solcher Fortschritte haben wir freilich einige Lehrstühle an unsern wohldotierten Universitäten mit namhaften Kräften besetzen können. Aber einen Lehrkörper wie auch nur eine mittlere deutsche Universität haben weder Harvard noch Yale, von den jüngern zu schweigen.

Das hängt nur äußerlich damit zusammen, daß unsre meisten Professoren für amerikanische Verhältnisse zu schlecht bezahlt sind. Die Hauptursache liegt tiefer. Der Deutsche wirft seine Persönlichkeit rücksichtslos in die Masse und geht als Forscher und Lehrer ganz in seiner Arbeit auf. Für ihn gibt es nur noch den Maßstab dessen, was er leistet. Ob er dann wie ein Brunnenputzer herumläuft, der eben aus dem Schacht gestiegen ist, ob er in der Gesellschaft gefällt, ob er überhaupt gefällt, das ist ihm gleich. Ein kleiner Kreis von Fachgenossen, mit dem er übrigens meistens im Streite liegt, ist sein Pairsgericht. Auf die Welt darüber hinaus gibt er nicht viel. Sein Fach, seine Lieblingsgedanken oder -theorien, seine Schüler, die sind seine Welt. Wenn nicht die leidigen Titel und Orden wären, könnte man sagen: der direkte Nachkomme des Sokrates und des Plato, der Lehrer nicht bloß seines Volks, nein der Menschheit. Das werden wir in Amerika nicht nachmachen, wie es denn eine Anzahl von Dingen in Deutschland gibt, die man nirgends im Ausland nachahmen kann; es sind mehr und größere, als man sich in Deutschland selbst träumen läßt.

Um bei den Hochschulen zu bleiben: der Amerikaner ist durchschnittlich viel zu viel Sklave der Gesellschaft, als daß er den Adel des ganz freien Ritters vom Geiste so leicht erringen könnte. Von den talentvollen Jünglingen, die alljährlich von deutschen Hochschulen zu uns zurückkehren, erreichen in der Regel nur die Stellung und Einfluß, die ihre Unabhängigkeit opfern. Bei Beförderungen heißt es nicht: Was leistet er? sondern die törichte Frage wird gestellt: Ist er Gentleman oder Scholar? Gut, wenn er beides ist; das kommt aber selten vor. Zeigt er aber in den Augen des Präsidenten, der für eine amerikanische Universität viel mehr bedeutet als für eine preußische der Kurator, Mängel in der ersten Hinsicht, so wird ihm irgendein geschniegelter Streber vorgezogen. Da nun nichts bequemer ist, als durch die Pflege der Äußerlichkeiten, die nach den zunehmend plutokratisch werdenden Ansichten zum korrekten Bürger gehören, Lücken der Leistungen zu verdecken, so findet man die zahlreichen Professoren, die nichts leisten, immer auf der Seite des Gentleman. Der Scholar ist ihnen bedenklich, und von dieser Seite her beginnt schon eine Reaktion gegen die angebliche Überschätzung der deutschen Wissenschaft, die wie alles Chauvinistische bereitwilligst von den im Grunde doch sehr ungebildet gebliebnen anglokeltischen Massen aufgenommen und besonders von den nach Popularität haschenden Blättern geschürt wird. Die deutsche Wissenschaft und ihre Pflege auf den Hochschulen behält ihre Freunde. Einen Mann wie Andrew White erreichen die trüben Strömungen gar nicht. Aber der höchste Stand des deutschen Einflusses auf das amerikanische Geistesleben ist wahrscheinlich schon überschritten.

Wer möchte leugnen, daß Wissenschaftspflege und -lehre in Deutschland, Österreich und der Schweiz auch ihre Mängel haben? Ich habe gerade die Fachmänner mit echt deutscher Unbefangenheit darüber sprechen hören. Gerade weil man sich ihnen nicht verschließt, wird man sie noch beizeiten beseitigen können. Die amerikanischen Beurteiler sprechen meist mit zu viel Voreingenommenheit, als daß sie in Deutschland mit der Ruhe gehört würden, die man nötig hat, wenn man die eignen Fehler einsehen soll. Es sind auch meist nicht Leute, denen man hierzulande wegen ihrer wissenschaftlichen Autorität ein williges Ohr leihen möchte. Immerhin wird es gut sein, die von ihnen nicht zu überhören, die sachlich urteilen, und deren Ausstellungen manchmal mit denen der deutschen Kritiker genau zusammenfallen. Ich möchte besonders drei Punkte nennen, in denen neuerdings die amerikanischen Ansichten übereinzustimmen scheinen. Sie rügen den kleinlichen, in Spitzfindigkeiten ausgehenden Charakter, den die deutsche Wissenschaftspflege anzunehmen beginnt, und machen dafür die Züchtung von Schülern und die Steigerung des Gelehrtenehrgeizes verantwortlich, deren Grund die vielgepriesene Einrichtung des freien und großenteils ununterstützten Wettbewerbs der Privatdozenten sei. Es öffne sich dadurch auch den Reichen die akademische Laufbahn immer weiter und breiter, während den talentvollen Armen vielfach die Möglichkeit genommen sei, mit den andern unter gleichen Bedingungen um den Preis zu ringen. Dieselben Beurteiler tadeln die Einrichtung der Kollegiengelder, die höchst ungleichmäßige Einnahmen an Gelehrte und Lehrer ohne jede Rücksicht auf ihr wahres wissenschaftliches Verdienst verteile; während man mit allen andern deutschen Hochschuleinrichtungen drüben experimentiert hat, ist es allerdings meines Wissens auch der ärmsten Universität des Westens nicht beigekommen, es mit Kollegiengeldern zu versuchen. Das ist bezeichnend für die Stärke des demokratischen Zugs gerade in diesem Felde, wo man doch in so vielen andern Beziehungen Aristokratisches in bewußtem Gegensatz zur Gleichmacherei anzupflanzen strebt. Ich glaube, daß in diesem Falle die Amerikaner Recht haben. Alle Gründe, die man für das Kollegiengeld anführt, sind bei Licht betrachtet faul. Man kann doch am Ende nicht zugeben, daß unter allen Dienern des öffentlichen Wohls nur die Hochschullehrer den Anreiz besondrer Bezahlung brauchen, damit sie ihre Pflicht tun?

Dagegen ist der Vorwurf, der deutsche Gelehrte vergesse über dem Forschen allzuhäufig, daß er zum Lehren berufen sei, verstehe nicht, sich verständlich zu machen, oder ziehe einen dunkeln Stil vielleicht gar nur vor, um die Unklarheit seiner Gedanken zu verhüllen, ganz veraltet. Freilich kein Geringerer als Goethe sagt in den Aphorismen über Naturwissenschaft: Die Deutschen besitzen die Gabe, die Wissenschaft unzugänglich zu machen. Ob er heute die Sache wohl so schroff hinstellen würde? A. von Humboldt, der in der schönen Einleitung zum Kosmos diesen Ausspruch anführt, bezeichnet ihn dort als humoristisch, meint aber auch von den wissenschaftlichen Werken, daß man das Gebäude nicht erblicken könne, wenn das Baugerüst vor demselben stehn bleibe. Jedenfalls hat ja gerade dieser Meister gezeigt, daß Deutschland auch große Baukünstler im Feld der Wissenschaft erzeugen kann. Sein Kosmos ist überhaupt das Größte, was in gemeinverständlicher Darstellung wissenschaftlicher Resultate geleistet ist. A. von Humboldt hat auch Schule gemacht. Indessen so ganz ist der Vorwurf Goethes noch nicht entkräftet. Es gibt manche häßliche Fassaden in der deutschen populärwissenschaftlichen Literatur. Das Vorurteil ist weggeräumt, als vergebe sich ein Gelehrter etwas, wenn er gemeinverständlich schreibt. Der gute Wille, es zu tun, ist bei manchen nur zu sichtbar, deren Rede mit seltsamen Schnörkeln aufgeputzt ist, als ob dadurch die Unklarheit aufgehellt würde. Einigen gelingt es. Aber es mag wohl sein, daß das praktische, auf wenig Zwecke folgerichtig zielende anglokeltische Ingenium für diese Art von Schöpfungen besser angelegt ist. Außerdem wird auch das Verdienst auf diesem Felde bei den englisch sprechenden Völkern viel bereitwilliger anerkannt als bei uns. Es ist genau dasselbe Streben, das sich in ihrer Geschichtschreibung viel deutlicher zeigt, zu fesseln, zu überzeugen oder wenigstens zu überreden. Macaulay als Historiker ist rasch in der Schätzung der Fachleute gesunken, aber Macaulay als Rhetor oder, um es gerade herauszusagen, als Advokat wirkt noch immer auf weite Kreise. Um diese Art von belehrender und aufklärender Literatur, die in den Naturwissenschaften die auch in Deutschland vielgelesenen und naiv überschätzten Huxley und Lubbock vertreten, beneiden wir die Anglokelten nicht. Sie bleibt weit hinter unserm Ideal zurück, daß höchste Wahrhaftigkeit die Seele der Wissenschaft sei. Übrigens ist gerade die populärwissenschaftliche Literatur der Amerikaner schwach. Im Lande der öffentlichen Vorträge, Kurse und Volksbibliotheken sollte man mehr und besseres erwarten. Sie haben einen Klassiker darin, Benjamin Franklin, den man nicht mehr liest, und – eine Masse Übersetzungen aus dem Französischen und dem Deutschen und Nachdrucke englischer Werke.

Der tiefe Ernst, mit dem heute in Amerika pädagogische Fragen in den weitesten Kreisen besprochen und vertieft werden, ist ein echtes Jugendmerkmal; er lebte in Deutschland zu der Zeit, wo alle bedeutenden Menschen Pestalozzis Werke lasen und seinen pädagogischen Versuchen mit mehr als Wißbegierde, mit herzlicher Teilnahme folgten. Auch heute wird in Deutschland viel über Erziehung verhandelt, aber mehr geschrieben als gesprochen. Es muß dem Amerikaner auffallen, daß Erziehungsfragen weder in den Gesprächen noch in Zeitungen die Stelle einnehmen wie in Amerika. Manches Gute wird im allgemeinen von den Fachmännern über diese Frage geschrieben; das Publikum liest es oder liest es auch nicht. Daß sich dabei ein gewisser Zunftgeist breit macht, entspricht deutschen Neigungen. Die Schule als eine Form des sozialen Lebens aufzufassen und ihr das Ziel zu setzen: to socialize the child, wie die übliche Rede lautet, das Kind fähig zu machen, seine Umgebungen zu verstehn, sich in sie einzuleben, seine Stelle auszufüllen und seinen Mitmenschen das zu sein, was sie von ihm fordern dürfen, ist eine amerikanische Idee. Sie ist zwar, wie alle amerikanischen Ideen, auf dem Boden der Alten Welt gewachsen, aber in die Form eines höchst praktischen Erziehungsgrundsatzes haben sie die Amerikaner gebracht. Die Folgerung ist: mehr körperliche Übung, Handarbeit, häusliche Künste, ästhetische Bildung, um eine leise unmerkliche Hebung der sozialen Schichten zu bewirken. Wenn ich auch die grundverschiednen Lebensbedingungen diesseits und jenseits des Ozeans erwäge, scheint mir doch immer die amerikanische Pädagogik hier auf einem guten Wege zu sein. Man überschätzt vielleicht die Leistungsfähigkeit der Pädagogik überhaupt. Aber die öffentlichen Lesezimmer, Volksbibliotheken, wandernden Bibliotheken Amerikas sind ganz gewiß Einrichtungen, aus denen Deutschland noch viel mehr für seine Bildungszwecke herausnehmen kann als bisher. Und daß die Amerikaner nicht so ganz Unrecht haben, wenn sie den deutschen Hochschulen den Mangel an pädagogischen Rücksichten vorwerfen, beweisen die Stimmen aus den Kreisen des deutschen Professorentums, die ähnlich lauten. Es ist die Kehrseite der glänzenden Leistungen der Fachmänner, daß sie das Recht in Anspruch nehmen, allein über ihre Fachangelegenheiten zu urteilen. Wo es sich nun, wie bei der Erziehung, um ein allgemeines Interesse umfassendster Art handelt, kommt leicht die Allgemeinheit dabei zu kurz. Der Kampf der Realschulmänner und der Philologen um die Reform des Mittelschulunterrichts in Deutschland zeigt die widerlichsten Formen des Streits um Zunftgewohnheiten und Zunftvorrechte, wobei die Jugend, die Menschen überhaupt, auf die es allein ankommt, über Sachen und Vorstellungen vergessen werden. Die große Öffentlichkeit, in der in den Vereinigten Staaten von Anfang an alle Erziehungs- und Bildungsfragen verhandelt werden und wurden, ist ein ganz bezeichnender und wichtiger Zug im transatlantischen Leben.

Ich höre den deutschen Gelehrten ihr Spezialistentum vorrücken. Gewiß ist nicht jeder ein Entdecker, aber darum auch noch kein Handwerker. Es gibt auch eine Größe der Arbeit im Kleinen. Ideen fruchtbar zu machen, gelingt nur der emsigen Arbeit Vieler. Der Engländer Sorby ist der Entdecker der umwälzenden Methode der Untersuchung dünngeschliffner Gesteinsplättchen mit dem Mikroskop. Aber nicht in England hat diese Methode ihre Anwendung gefunden. Die Gesteine der ganzen Erde machen ihre Wege durch die deutschen petrographischen Institute, und aus diesen erhalten England, Amerika, Indien, Rußland die Kunde von der Zusammensetzung der Gesteine ihres Bodens. In der Botanik und in der Zoologie ist trotz genialer Einzelner, wie Hooker und Darwin, die Abhängigkeit von Deutschland so groß, daß z. B. in der Entwicklungsgeschichte verwickelte deutsche Wortbildungen wie Bindegewebszelle, Randschlier u. dergl. in die englischen Texte hinübergenommen werden. Julius Sachs ist fast noch mehr der Vater der neuern englischen und amerikanischen Botanik als der deutschen. So ist es so ziemlich in allen Teilwissenschaften. Ich höre, daß sich die Amerikaner jetzt mit mehr Fleiß und Hingebung der gründlichen Sonder- und Einzelarbeit widmen als die Engländer und im Begriff sind, ihre Vettern besonders in den Naturwissenschaften und den philologischen Fächern in den Schatten zu stellen. Leider sind aber unsre jungen Amerikaner nicht immer stark genug, den Wettlauf mit deutschen Strebensgenossen auf die Dauer durchführen zu können. Manche von ihnen wechseln bei ihrem Aufenthalt in Europa regelmäßig zwischen dem Hörsaal und der Kaltwasserheilanstalt ab. Andern fehlt der Antrieb, der den deutschen Privatdozenten die Überzeugung erteilt, daß nur Leistungen ihnen zu einer Professur verhelfen werden; in Amerika glaubt man, diese Einrichtung würde die Universitäten den Besitzenden in die Hand geben. Seltsam; während man sonst drüben überall das Heil nur vom freien Spiel der Kräfte erwartet, hemmt man es gerade da, wo es, wie Deutschland zeigt, treffliche Früchte bringt.

In einer von den Dresdner Fremdenpensionen, wo man sicher ist, dem halben europareisenden Amerika zu begegnen, traf ich kurz nach diesen Gesprächen mit einem Geschichtsprofessor einer nicht unbedeutenden amerikanischen Universität zusammen, der den dort in größern Zeiträumen wiederkehrenden Jahresurlaub, das sogenannte Sabbath Year in Europa verlebte. Vor Jahren hatten wir uns sozusagen auf der Schwelle von Bancrofts Tusculum getroffen, er von deutschen Universitäten zurückgekehrt, ich schon damals voll Sehnsucht, mich aus amerikanischen Geschäften in die deutsche Heimatatmosphäre zu retten, die ich mir wie eine reine, kräftige Höhenluft dachte. Ich hatte nicht ganz Unrecht, wie ich jetzt wohl weiß, wenn auch »nicht alle Blütenträume reiften.« Als wir damals Bancroft sahen, war er ein schöner Greis, wie Amerika viele hat, jetzt waren wir beide weiß. Aber jener Tag stand noch klar in unsrer beider Erinnerung. Ich erinnerte mich sogar genau der fast beängstigend flammenden Herbstfärbung der Alleebäume, Ahorne, unter denen wir hinabschritten. Neben der Verehrung für den in Amerika und Deutschland hoch geschätzten Geschichtschreiber und Staatsmann kam nun freilich auch die kritische Stimmung zum Ausdruck, zu der Menschen neigen, deren Selbsterziehung und -bildung sich tief ins Alter fortsetzt. Die Ideale wechseln bei solchen rascher. Ich verhehlte meinem Professor nicht, daß mich Bancrofts vielgerühmte Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika längst nicht mehr so erwärmen könne wie damals.

Ich glaube in der Tat, daß Bancroft sein Volk gar nicht gekannt hat; seine Amerikaner sind englische Landedelleute und Bürger, die sich in die Neue Welt verirrt haben, besonders aber das erste, und nun hier die Geschichte von Essex, London, Bristol usw. fortsetzen. Eine Schönfärberei voll anglo-amerikanischer Selbstgefälligkeit, das ist der Geist seiner Geschichte. Ich sagte: Bancroft rühmte gern, was er deutscher Schulung und deutschem Geistesleben verdankt habe; aber ich finde, daß seine historische Methode kindlich ist im Vergleich mit der von Ranke, der sich freilich dazu herbeiließ, Bancroft als Gleichstehenden zu behandeln; und außerdem finde ich, daß wenn ein bornierter Engländer diese Geschichte geschrieben hätte, er nicht geflissentlicher die Verdienste der Niederländer und der Deutschen um die Entwicklung Amerikas hätte verschweigen können. Wo ist da der Dank für das, was er Deutschland schuldete? Dieses Übersehen sei aber doch nur ein Fall von vielen und widerspreche der Gerechtigkeit des Geschichtschreibers um so mehr, als es sich dabei um Minderheiten handle, deren Stimme so leicht übertönt werde. Mein alter Freund meinte zwar, dafür seien ja die historischen Vereine da, die gerade auch von den Niederländern und den Deutschen in Amerika begründet worden seien, und übrigens sehe man jetzt über die Verdienste der Völker, die den Boden der Vereinigten Staaten von Amerika erwerben halfen, nicht mehr so hochmütig weg, wie unter anderm Roosevelts Winning of the West und verwandte Werke der letzten Jahre bewiesen. Ich konnte das nicht so ganz zugeben, jedenfalls nicht für Indiana und Ohio, deren Geschichte ich ziemlich gut kenne. Die wahrhaft bedeutenden deutschen Pioniere des Westens werden auch heute nicht nach Verdienst gewürdigt. Übrigens, meinte ich, habe diese Sache eine ganz ernste Bedeutung für Amerika selbst, dessen anglokeltische Bevölkerung die geschichtliche Wahrheit besonders dringend brauche.

Kein Volk ist durch Schläge von außen zertrümmert worden, wenn es nicht innen schon zerrissen und unterwühlt war. So fürchte ich auch nicht für die Nordamerikaner, daß äußere Angriffe ihnen schaden werden. Ihre größten Gefahren lauern in ihnen selbst. Ich glaube sie zu kennen, und sie sind überhaupt nicht schwer zu finden. Es ist die alte Völkerkrankheit der Selbstbelügung, an der sie leiden. Den Keim dazu in einer Stärke, die sonst selten vorkommt, haben die Engländer auf sie übertragen. Sie täuschen sich mit einer solchen Hartnäckigkeit und mit so viel Scharfsinn über ihre Fehler hinweg, daß diese auf Selbstbelügung beruhende Selbstgerechtigkeit ihnen längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Und da sie in demselben Maße andre Völker tiefer stellen, wie sie sich selbst erheben, laden sie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf sich. Ich finde die Amerikaner in dieser Beziehung einstweilen noch etwas erträglicher als die Engländer; denn sie sind doch mit vielen fremden Elementen durchsetzt, die sich gelegentlich noch zur Wahrheit aufschwingen, und das an sich widerliche Parteigezänk läßt kein Idol zu hoch kommen. Was aber die Engländer betrifft, so gestehe ich, kein Volk zu kennen, dem als politischem Körper die Wahrheitsliebe in solchem Maße abhanden gekommen wäre, während man im Privatleben zahlreichen ungemein wahren und offnen Naturen begegnet, und die Erziehung der Jugend zur Wahrheit sogar sorgfältiger geübt wird als bei vielen andern Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner so tief sänken, aber in den letzten Jahren konnte man sich der Befürchtung schwer erwehren, daß es auch dazu kommen werde. Was haben die beiden Vettern gemeinsam in der Samoaangelegenheit über die Deutschen zusammengelogen! Es hat uns ja zum Glück nichts geschadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die Wahrheit, die unsre Stärke ist, nur um so besser zu pflegen, wird das Laster unsrer Vettern uns zum Vorteil gereichen. Ich habe schon früh, wenn ich das herablassende Lob a plain German hörte, aus diesem Worte einen tiefern Unterschied zwischen deutsch und anglokeltisch herauszufühlen geglaubt. Und ist es nicht so, daß bei einem richtigen Deutschen die Wahrheit in der Form von Einfachheit, Absichtslosigkeit, Harm- und Arglosigkeit in allen seinen Bewegungen, in der Art, wie er sich trägt und gibt, zum Ausdruck kommt? So soll es sein. Darin liegen die unscheinbaren Keime der Größe unsrer Denker und unsrer Staatsmänner, die mit derselben Gelassenheit, die der unscheinbare plain German im täglichen Leben zeigt, das Wahre und Wesentliche in den größten Verwicklungen fanden und festhielten. Daß die Wahrheit immer obsiegt, ist eins von den wenigen sogenannten Gesetzen der Geschichte, an die ich noch glaube.


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