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Das deutsche Dorfwirtshaus

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Über das deutsche Bauernhaus ist schon viel geschrieben worden. Auch über die Häuser der Bürger, über Burgen und Schlösser, Bahnhöfe, Kasernen, Spitäler und viele andre Gebäude, besonders auch über alte Häuser gibt es eine große Literatur. Wie kommt es, daß gerade über das deutsche Wirtshaus so wenig geschrieben worden ist? Ist es doch für unsre Volksart und unser Volksleben so bezeichnend! Das Wirtshaus gilt bei uns mehr und ist auch bei uns mehr als bei irgendeinem andern Volke. Es steht höher und übt einen größern Einfluß. Nirgends lernt der Fremde so viel von dem Leben und Trachten eines Volks im Wirtshaus kennen wie in Deutschland. Seine dumpfen Räume ersetzen uns Deutschen sogar einen großen Teil von dem, was die Agora den Griechen war. Dringt doch die Politik mit Versammlungen und Wahlen so in die Wirtshäuser ein, daß manches heutzutage mehr Diskussions- und Agitationsmittelpunkt ist als Wirtshaus in dem guten alten Sinne. Wenn ich hinzufüge, daß auch unser geselliges und unser Einzelleben sehr stark vom Wirtshaus beeinflußt wird, so sage ich das im Guten und ohne an einen Vorwurf zu denken. Schreibe ich doch diese Zeilen auf der Holzbank neben der gastlichen Tür eines ländlichen Wirtshauses, das mich fast wie ein zweites Heim alljährlich freundlich empfängt. Bin ich doch ein Deutscher, der einen guten echten Trunk mit Freunden oder sinnig allein als ein hohes Gut schätzt. Wie auf manches andre im deutschen Lande, so bin ich auch auf unsre guten, ehrlichen Wirtshäuser stolz. Wenn sie dem Mißbrauch unterliegen, so ist das eine Eigenschaft, die sie mit allem Guten dieser Erde teilen. Gerade das ist schön am deutschen Wirtshaus, daß es für den offnen und mäßigen Genuß in Speise und Trank, womöglich nicht ohne Behagen an wohltuenden Räumen oder an gastlicher Naturumgebung da ist. Nicht dem Gewöhnlichen, sondern dem Bessern in unserm Leben soll das Wirtshaus dienen. In einem guten Wirtshause sollen die Gäste vergessen, daß sie nicht zuhause sind. Der Wirt oder die Wirtin an der Spitze des Wirtstisches will den wechselnden Gästen die Illusion des Familientisches gewähren. Diese Sitte ist allerdings in Frankreich, besonders auf dem Lande, weiter verbreitet als in Deutschland, aber sie verdient namentlich wegen des günstigen Einflusses auf die Küche gelobt zu werden. Der Gefahr eines allzu offnen Wortes setzt sich der Wirt dabei freilich aus, ebenso wie der Gast der einer etwas peinlichen Lage, wie ich sie vor einigen Jahren einmal in Saalfeld erlebte. Dort sagte ich zu dem Wirte, der gerade so aussah wie die Geschäftsreisenden, die da herum saßen: Finden Sie es nicht eigentlich geschmacklos, ein Mittagessen aus fettem Rindfleisch, Schweinsknochen und Gänsebraten zusammenzusetzen? Antwort: Ich bin der Wirt. Mir ists ganz recht, wenn Sie einen Gang überschlagen, denn andre essen für zwei. – Unfern ländlichen Anschauungen entspricht es vielleicht mehr, daß sich die Wirtin, wo sie überhaupt noch selbst kocht, in frischer, weißer Schürze und mit küchengerötetem Antlitz nach dem Appetit ihrer Gäste erkundigt und freundliche Mienen und Worte gewissermaßen als letzten Gang bietet. Dazu gehört freilich das gute Gewissen der »perfekten« Köchin!

In der deutschen »Trinkkemenate« schwebt uns ein Ideal von gemütlicher Geselligkeit vor, wie es im deutschen Mannesherzen lebt, und der Speisesaal eines englischen Inn von gutem altem Schlag kommt dem feinen Behagen des englischen Innenlebens so nahe wie möglich. Es kann und soll ja nicht anders sein, als daß das beste Wirtshaus noch tief unter einem guten »Heim« steht. Aber wie groß ist auf der andern Seite die Zahl derer, die in ihren engen, dumpfen Räumen nie das Behagen finden, das ihnen schon eine Bierstube niedern Ranges bietet! Die Schöpfung von Bierpalästen, die die äußern Bilder unsrer Städte so sehr beeinflußt, führt dem Leben weiter Kreise einen Strom von Behagen zu, worin manchmal auch feinere ästhetische Genüsse sind. Als sich die bayrischen Bierkeller nach Franken und an den Oberrhein ausbreiteten – es war vor etwa vierzig Jahren –, da wurde das Leben der Kleinstädter bereichert; sie ließen sich nun an schönen Sommerabenden mit ihren Frauen unter dem künftigen Schatten junger Roßkastanien nieder. Glücklicherweise hatten die Nachahmer den Bayern auch den seinen landschaftlichen Sinn abgeguckt, mit dem diese ihre »Keller« an herrlichen Aussichtspunkten anzulegen pflegen. Der Spießbürger wunderte sich, indem er sein Bier trank, nicht nur über die merklich bessere Verwertung des trefflichen Schwetzinger oder Hagenauer Hopfens, die die bayrische Schule eingeführt hatte, sondern auch über die Reize seiner Landschaft, die ihm nie so schön vorgekommen war. Nicht überall gibt es freilich eine so schöne Lage wie in Traunstein, wo mir von meinem Gastfreund der Kollerkeller als der schönste Keller in Europa gerühmt wurde. Der Blick auf die Berge von Ruhpolding ist allerdings wundervoll, besonders wenn er mit dem Blick auf einen vollen Maßkrug abwechseln kann. Wären nicht einige leichte Schatten, die diese beliebten Bierhügel über die Städte und Städtchen hinwerfen, wo die Leute um so anspruchsloser wohnen, je näher und je billiger sie diesen gemeinsamen Erholungsplatz haben, so möchte man von dem »Bierkeller als Schule des Naturgenusses« mit ungemischtem Behagen sprechen. Auch bin ich bereit, jedem Literaturmenschen, der den Natursinn von Rousseau an datiert, nicht bloß die herrliche Lage mancher uralten Kapelle und Kirche, sondern die Aussicht von so manchem altberühmten Bergwirtshaus oder von der Bank vor einem Fährhaus am Rhein zu nennen und ihm damit zu zeigen, daß das Naturgefühl nicht in dem Augenblick erfunden wurde, wo sich ein Dichter hinsetzte, um eine Aussicht zu bedichten; ebensowenig wie das deutsche Gasthaus erst würdig war, besungen und gerühmt zu werden, als Lessing seinen köstlichen, von dem wackern Just so tief verachteten Wirt in der Minna von Barnhelm eingeführt hatte, und Goethe sein Dorfwirtshaus von Wahlheim mit den zwei Linden, unter deren ausgebreiteten Ästen (»so vertraulich, so heimlich hab ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden«) Werther seinen Kaffee trinkt.

Die Ausflüge auf das Land, deren Ziel ein gutes Wirtshaus ist, gehören zum deutschen Leben. Sie machen es genußreich, beeinflussen es aber auch in andrer Beziehung mehr, als man denkt. Es ist die Rückkehr der Stadt zu dem Lande, aus dem die Stadt herausgewachsen ist. Die arme Stadt! Solange die deutschen Städte noch ihren Kranz von Äckern und Gärten hatten oder nicht so weit hinausgerückt hatten wie jetzt, umschlossen viele selbst so viel Land, als sie zum Atmen und zur Freude am Leben brauchten. In Stuttgart oder Karlsruhe, so gut wie in Kleve oder Brieg, besaß vor fünfzig Jahren der kleine Bürger und Beamte seinen Garten vor dem Tor, wenn nicht sogar vor dem Haus, und die Frau des Tagelöhners bebaute einen Acker mit Kraut, Kartoffeln, Rettichen und Obst, wovon nur ein Teil verkauft wurde. Am Sonntag Nachmittag auf seinem eignen Land leichte Arbeit zu tun und dann auf dem Bänkchen vor der bohnenumrankten Holzhütte zu selbstgebautem Rettich einen Krug Most oder Bier zu leeren, war eine Erholung, bei der es dem Holzhauer nicht einfiel, über das Wohlleben andrer Betrachtungen anzustellen. Jetzt gibt es eine Menge von Wohlhabenden, die ihr Leben in einem schmutzigen Miethaus und im Anblick von ebensolchen abstoßenden Backsteinhöhlen verbringen, und denen Rasen und Bäume nur leihweise zugänglich werden, wenn sie eine staubige und kostspielige Eisenbahnfahrt aufs Land unternehmen. Die Städte sind über die einst grünen Flächen hingewachsen, und die Nachkommen derer, die dort gewohnt haben, suchen jetzt ihre Erholung in den halbländlichen Wirtshäusern der Vorstädte, wo sie unter Schutt und Neubauten schon Natur zu finden glauben. Es ist eine ärmlichere und doch kostspieligere Erholung, aber gerade auf sie wird unser Volk nicht verzichten. Und ist sie nicht immer noch gesünder als viele andre? Wenn in Deutschland dem minder begüterten Mann immer noch ein größeres Maß von Lebensfreude vergönnt ist als in den meisten andern Ländern Europas und Amerikas, so hat daran das ländliche und halbländliche Wirtshaus seinen nicht zu unterschätzenden Anteil. Je weiter die Wege, je größer die Anziehung des Waldes und der Wiesen mit ihren Blumen und Früchten, je schöner die Ausblicke, desto mehr tritt der materielle Genuß in den Hintergrund, desto unschädlicher sind die Getränke, mit denen ein wohlbegründeter Durst gestillt wird, desto vollständiger ist die Erholung, an der doch in vielen Fällen auch die Familie teilnimmt.

Ein Höhepunkt wirtshäuslicher Entwicklung ist in den Restaurationen an Aussichtspunkten erreicht, wo ein seines Weges und des Lohnes seiner Mühe frohes Publikum verkehrt. Hier ist an schönen Tagen ungeheurer Durst zu bewältigen, während die Küche kalt zu sein pflegt. Aber Wirt und Kellner dürfen hier nicht nur für die Gewährung materieller Genüsse vorbereitet sein, man verlangt von ihnen Naturgefühl und Orientierung. Ist keine Orientierungstafel vorhanden, dann wohnt ihnen sogar eine hohe Autorität inne, auf die man sich allerdings nicht blind verlassen darf; denn diesen Kellnertopographen kommt es bisweilen nicht darauf an, die Berge bunt am Horizont durcheinander zu werfen. Nur die Städte und die Kirchtürme halten sie fest, denn darin werden sie kontrolliert. Will doch jeder Gast seinen heimatlichen Kirchturm wiedererkennen. Es gibt in Deutschland Städte, die man sich ohne ihre Ausflugsberge gar nicht mehr denken kann. Daß diese Höhen immer mehr auch im Winter besucht werden, wo die Mühe größer, aber der Ausblick heller zu sein pflegt, bezeugt die Vertiefung des Naturgefühls. Aussichtstürme sind auf manchen wohlgelegnen Bergen lange vor der Begründung der Gebirgsvereine und Touristenklubs von Menschenfreunden errichtet worden, die ihren Mitbürgern eine gesunde Freude zugänglicher machen wollten. Natürlich übt immer der ruinengekrönte Berg eine besondre Anziehung aus, auch wenn es kein Heidelberger Schloß ist, und so gibt es denn in Deutschland bald keine Ruine mehr, die nicht wenigstens mit einer Sommerwirtschaft verbunden wäre. Die einst einsame Rudelsburg ist seit Jahren an Sonntagen mehr Bierwirtschaft als Ruine, und auf den alten Schlössern von Heidelberg und Baden sind Restaurationen »ersten Ranges« eingerichtet. Matthisson würde dort heute, trotz der mehrfach in alten Mauerlöchern angebrachten brummenden Äolsharfen, auch beim schlechtesten Wetter nicht die Ruhe und Stimmung zu einer »Elegie in den Mauern eines alten Schlosses« finden; dagegen würden die hohen Preise und der öde Luxus seine Seele vielleicht zu einem Klagelied von der Länge eines abschreckend splendid gedruckten »Menu« stimmen.

Für den Freund der Einsamkeit sind diese Orte entweiht. Und so hat ja auch der Naturfreund den Erguß sonn- und festtäglicher Vergnügungswallfahrer in die stillen Wälder und Täler zu beklagen. Was die Menge an ziemlich oberflächlichem Naturgenuß gewinnt, geht dem Einzelnen an tiefern Eindrücken verloren. Die Sache will aber nicht egoistisch betrachtet werden, sondern wir müssen die Steigerung des Erholungsbedürfnisses in Betracht ziehn, an der vor allem die städtischen Menschenanhäufungen schuld sind. Man hat die Leute hereingezogen in die Städte, wo sie Mangel an Licht und Luft leiden. Die Industrie, der Handel wollten es so, und die andern schauten diesen Zustrom lange Zeit mit Vergnügen an. Wenn es nun die Zusammengepferchten an ihren spärlichen Feiertagen ins Freie hinaustreibt, so sind die Unbequemlichkeiten, die sie damit den stillern Naturfreunden bereiten, klein im Vergleich mit denen, die sie selbst ihre sauern Wochen hindurch zu ertragen haben. Laßt sie diese Last städtischer Eingeschlossenheit abschütteln und freut euch, daß sie nicht die bequemern Erholungen in städtischen Kneipen und Singspielhallen vorziehen! Begreift, daß das ländliche Wirtshaus bei unserm Stand der Bevölkerungsanhäufung als billige und unschädliche Erholungsstätte eine Wohltat geworden ist!

Legt einmal die Scheu vor der Berührung mit der »Masse« ab und geht an den Pfingsttagen ins Freie, wo sich euch die aus allen Städten herausflutende Bevölkerung zeigt, die sich frühlingsmäßig heiter, wie sonst nie, ausstaffiert hat und sich alle Mühe gibt, heiter zu sein, weil sie Heiterkeit zu finden hofft. Ich freue mich über die Männer mit abgearbeiteten Mienen, die heute einmal wirklich Feiertag machen. Sie fühlen sich aller Pflicht ledig. Der grüne Zweig am Hute versinnlicht den seelischen Mitbesitz an Gottes freiem Walde, den sich kein Deutscher abstreiten läßt. Einige deuten ihre Unternehmungslust durch eine mit »Kornjack« gefüllte Reiseflasche an, die sie über ihren feierlichen Bratenrock gehängt haben. Andre bemerken am Eingang eines Aussichtsturms, dessen Besteigung zehn Pfennige kostet: Nee, das Geld legen wir in Bier an und für dich Olle (zärtlich) in Kaffee. Ich freue mich für die würdigen Gattinnen, die in ihren Sonntagskleidern entweder furchtbar schwitzen oder entsprechende Angst ausstehn, daß sie vom Regen durchnäßt werden möchten. Gar nicht zu reden von der Angst um das Familienportemonnaie, das sie in der Hand des festlich heitern Gatten heute nicht ganz sicher aufgehoben glauben. Ich freue mich am allermeisten über die kleinen Mädchen, die in weißen Kleidern, weißen Strümpfen, Hellen Schuhen und bunten Sonnenschirmchen wie Schmetterlinge umherflattern, sich wechselseitig begrüßen und begucken. Das reine Glück, das durchaus keine Lust hat, sich von dem schon grollenden Pfingstgewitter trüben zu lassen! Draußen sind die ländlichen Erholungsstätten, mit Maien und Blumen geschmückt, bereit, Tausende zu tränken und zu speisen. Nachmittags erschallt Musik im Garten, und Abends folgt der unvermeidliche Tanz. Wenn ich daran denke, wie in Frankfurt am dritten Pfingsttag Hoch und Niedrig in den Wald zieht, um den »Wäldchestag« im frischen Grün zu feiern, oder in München, wo am Pfingstmontag alles, was von der niedern Bevölkerung fahren oder gehen kann, die Waldwirtschaften von Großhessellohe und Pullach aufsucht, so freue ich mich dieser Erholungen, als ob ich sie selbst mitmachte.

Es fällt mir dabei ein, wie ich an einem Frühlingssonntag voll Sonnenschein und Regenschauern vor plötzlicher Durchnässung im Torgang eines Wirtshauses bei London Schutz suchte. Die Wirtschaft schien verschlossen. Nach mir kamen aber andre Männer herein, die das »Sesam« wußten, das solche Türen öffnet. Sie klopften und riefen Traveller, worauf, da dem Gesetz Genüge geleistet war, das nur dem »Reisenden« am Sonntag geistiges Getränk erlaubt, durch die Türspalte die gewünschte Erfrischung, in der Regel ein Schnaps, herauswanderte. Ich bin sonst ein Verehrer der englischen Sonntagsruhe; soweit sie den Lärm der Städte zur Ruhe bringt, ist sie eine körperliche, moralische und ästhetische Wohltat. Aber wenn sie dem Städter die ländliche Erholung verschließt, übt sie einen törichten und grausamen Zwang aus. In England ist nun die Umgehung des Verbotes, am Sonntag Erfrischungen zu verkaufen, auf den sinnreichsten Wegen möglich, die dem anglokeltischen Erfindungsgeist ein glänzendes Zeugnis ausstellen. Auch in einem Temperenzstaate Nordamerikas, wo man noch nicht so weit war, begegnete es mir vor einigen Jahren, daß ich mit einem Lokalzug, der Sonntagsruhe hatte, bis zu einer einsamen Waldstation fuhr. Da hieß es nun den Sonntag zubringen. Um das trockne Biskuit und den salzigen Speck möglichst gut anzufeuchten, wanderte man zur nächsten Ansiedlung, wo der Arzt für solche Fälle den erschöpften Reisenden eine beliebige Menge Bier oder Wein verschreibt, genau in der hergebrachten Rezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich dachte an den alten Provisorenwitz: Recipe et misce: Stiefelwichs et mel rosatum. Der Jünger der Heilkunde holt die Arznei aus seinem kühlen Medizinalkeller und ist gern bereit, dem Reisenden bei ihrer Vertilgung Gesellschaft zu leisten, natürlich in einem der Straße möglichst abgewandten dunkeln Zimmer, das sich zum sonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn entwickelt hat. Also hier machen die Sonntagsgesetze den Arzt zum Bierwirt!

Ich ziehe die andre Verbindung des gastwirtlichen und ärztlichen Berufs vor, die sich ganz von selbst aus der Natur des Gasthauses als Rast- und Erholungshaus ergibt. Sie ist ebenso wahr und menschlich, wie jene amerikanische verlogen und verzerrt ist. Was ist das Haus des Wirtes für so manchen Kranken, der fern von der Heimat Genesung sucht! Wieviele Werke der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten, ihren Familien und Bediensteten plötzlich Erkrankten oder, besonders im Gebirge, Verunglückten geleistet! Auf einzelne Fälle, in denen übermäßige Rechnungen dafür geschrieben werden, kommen zahlreiche Samariterdienste, von denen nichts bekannt wird. In den zahlreichen Bädern, Kurorten und Kuranstalten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zeigt sich die hospizartige Funktion des Wirtshauses von der besten Seite. Sie gliedert sich hier allerdings einer großen Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und Wohlbehagen leidender und gesunder Menschen ein. Doch erreicht gerade in unsern Badeorten das deutsche Wirtshaus einen seiner Höhepunkte. Wenn die Entwicklung eines Baden-Baden oder Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leistung der Fürsorglichkeit, der Intelligenz und des Schönheitssinnes ist, so tragen die großen internationalen Hotels an solchen Plätzen neben den andern Anlagen und Bauten ebensoviel dazu bei, wie in den kleinern Bädern die bescheidnen Badegasthäuser, die zum Teil noch in die menschenfreundlichen letzten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts zurückreichen, die so manche Heilquelle gefaßt und so manchen Waldweg um unsre Gebirgsbäder gezogen haben, und in die auch die Anfänge unsrer Seebäder zurückreichen. Damals sind jene freundlichen weißen Badehäuser, Logierhäuser und Wandelbahnen gebaut worden, die gewöhnlich im Bogen die Quelle umgeben. Ihr einfacher Stil, eine Verbürgerlichung des Schloßstils Ludwigs des Sechzehnten, mutet uns sehr behaglich an. Im Gegensatz zu andern Gasthauszimmern sind ihre Räume groß, nicht hoch, und haben wenige aber breite Fenster. Das Ganze ist von Parkanlagen umzogen, an deren Abschluß sich in einer schattigen Rotunde, von Steinbänken eingefaßt, ein vermooster Denkstein erhebt, auf dessen einer Seite der fürstliche oder gräfliche Eigentümer seinen Gästen als milder Wirt den Segen der Quelle wünscht, während die andre altmodisch vertraulich-beredsam das wichtige Jahr und die Umstände dieser Erneuerung kommenden Geschlechtern verkündet. Tauperlen in dem Moos des alten Steines glänzen uns wie alte Tränen menschenfreundlichen Mitgefühls an. Gute Zeiten waren das doch!


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