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Eine Dampferfahrt von ein paar Tagen gibt ausgezeichnete Gelegenheiten zu vergleichenden Völkerstudien. Der seltsame Zustand einer im Bauche einer großen Stahlhülse ins weite Meer hinausschwimmenden Menge von Menschen jedes Alters, Berufs und Herkommens bringt merkwürdige Schichtungen und Gruppierungen hervor. Anziehungen und Abstoßungen bewegen die einen zu- und voneinander. Andre verhalten sich vollkommen gleichgiltig und sinken wie unlösliche Körper, die sich aus einer Flüssigkeit aussondern, langsam in stillere Tiefen. In der ursprünglich von gleichen Gefühlen und Interessen getriebnen Reisegesellschaft vollziehn sich sehr bald Sonderungen. Kaum haben sie die Mühe der Einpassung in das enge Gehäuse hinter sich, so vergessen viele vollständig ihren vorherigen Zustand. Man merkt, die Menschen wollen auch aus dieser Gegenwart alles machen, was gemacht werden kann. Wohl sieht man hier Augen, die keine Träne mehr haben, mit angstvoller Sehnsucht den letzten Schimmer des Landes festhalten, von dem wir uns mit Sturmeseile entfernen. Aber gleich daneben fordern andre voll Eifer den fehlenden Mann für eine Skatpartie. Das immer wieder versuchte Experiment wird auch diesesmal gemacht, durch einen Unterzeichnungsbogen, Musik und Deklamationskränzchen und Unterhaltungszirkel mit bestimmtem Programm für zehn Tage ins Leben zu rufen. Doch beteiligt sich kaum jemand daran. Natürlich, denn die Mehrzahl der Reisenden sind Deutsche, die Zwang und System besonders aus der Unterhaltung verbannt sehen wollen. Ich habe auf Schiffen, wo das englische Element überwog, diese Einrichtung mit Erfolg anwenden sehen. Was man dort nicht sieht, hat sich dagegen bei uns schon organisiert: eine große Kneiperei nach allen Regeln der Kunst. Nach amerikanisch-geschmackloser Sitte traktiert sich eine Gesellschaft von Deutsch-Amerikanern gegenseitig mit Milwaukeebier, besten Vorzüge vor dem bayrischen man laut preisen hört. Es sind Leute aus allen Teilen der Union, die sich großenteils vorher nicht gekannt haben. Geschäfts- und Geselligkeitstriebe machen, daß sie wie Öl zusammenrinnen. Einzelne davon kannte ich sonst als vortreffliche Menschen; als Gruppe, die sich durch Trinken, Rauchen und lautes Reden in ein Vergnügen hineinsteigert, das für alle Nebenmenschen lästig ist, ist mir diese Art zuwider.

Wie sich diese Leute, denen es drüben offenbar »geglückt« ist, schnell vereinigen, das erinnert mich an die Vereinsgründung, die zwei schiffbrüchige Deutsche auf einer einsamen Insel in dem Augenblick vollziehn, der sie zuerst zusammenführt. Man kann sicher sein, daß in wenig Tagen die neuen Freunde einander nicht mehr ausstehn können. Sobald einmal die Oberfläche abgegrast ist, stoßen sie auf eine Menge von Unvereinbarkeiten. Es fehlt ihnen eben jede Gemeinsamkeit der Bildungsgrundlagen und vor allem ein ausreichender Gemeinbesitz von gesellschaftlichen Formen. Sie fordern in dieser Beziehung unglaublich wenig voneinander. Durch diese Genügsamkeit erniedrigen sie aber überall, wo sie hinkommen, das gesellschaftliche Niveau. Leider tragen sie ihren Bier- und Zigarrendunst, ihr Lärmen und Gläserklingen überall mit sich. Duldet man sie und ihre Atmosphäre nicht in der Oberwelt, so steigen sie in die Unterwelt hinab. In einem amerikanischen Bahnzug findet man sie dann bei Negern und Irländern im Smoking Car, und im Hotel vertagen sie sich ins Kutscherzimmer. Mehr, als man glaubt, schadet der Deutsche mit diesen Gebräuchen seiner gesellschaftlichen Stellung. Ins Politische übertragen bedeuten diese Neigungen die rücksichtslose Anfechtung der Gesetze zum Schutz der Sonntagsstille und aller Mäßigkeitsbestrebungen, das dem Ansehen der Deutschen in Amerika die schwersten Wunden geschlagen hat. Sie mögen in sehr vielen Beziehungen Recht haben und ihren Gebrauch geistiger Getränke dem Mißbrauch, den die Anglokelten damit treiben, mit voller Begründung entgegenstellen. Der freie Bierausschank und die Bierfiedelei in Sommergärten sind aber nun einmal keine politischen Programme für ein großes Volk. Die hervorragende Stellung der Bierbrauer und der Bierwirte in den politischen Gruppen der Deutschamerikaner hat dazu beigetragen, daß höhere nationale Bildungsbestrebungen bei den deutschamerikanischen Politikern so selten eine warme Unterstützung gefunden haben. Sie sind mit Feuer gegen jede Beschränkung der Trinkfreiheit vorgegangen, aber der Bewegung für Volksbibliotheken stehn viele Deutsche teilnahmlos gegenüber.

Das Bedürfnis des »Anschlusses« ist bei Deutschen immer stärker als bei andern Völkern. Ich meine beim Durchschnitt. Hochgebildete Deutsche bewegen sich geradeso wie andre um ihren eignen Mittelpunkt und sind sich so lange selbst genug, als sie nicht einen andern Fixstern finden, mit dem sie sich zum Doppelstern verbinden. Es ist aber das Eigentümliche, daß der Engländer ein tieferes Beruhen in sich selbst auch dann zeigt, wenn er keinen geistigen Schwerpunkt hat, vielmehr eine taube Nuß ist. Ist es Naturell? Ist es praktische Lebensweisheit? Wohl beides: die Weisheit wächst aus der Naturanlage heraus; sie hat sich einmal die Regel gebildet, jede Lebenslage kühl zu überschauen und sich die Frage vorzulegen: Wie paßt du da hinein? Und die befolgt sie nun wie ein Naturgesetz instinktiv. Der Deutsche ist beweglicher, läßt sich leichter anziehn, folgt einem oberflächlichen Unterhaltungsbedürfnis und fühlt sich sehr häufig ebenso rasch abgestoßen, wie er sich vorher anziehn ließ. Ein gutes Teil des Streites und Haders in großen und kleinen deutschen Gemeinschaften kann man darauf zurückführen, daß die Persönlichkeiten nicht hinreichend scharf abgegrenzt sind, nicht genau genug wissen und rasch genug entscheiden, was sie wollen und sollen, weshalb sie aus Übereinstimmung oder aus Widerspruch wechselseitig viel zu viel in ihre Sphären hinübergreifen. Daher die endlosen Reibungen. Ein Halbdeutscher russischer Abkunft, der die Dinge in einer kleinen Hafenstadt Guatemalas halbneutral viele Jahre beobachtet hatte, sagte mir einmal das treffende Wort: Wir streiten uns gerade so, als ob wir alle Mieter enger Wohnungen in einer einzigen Berliner Mietkaserne wären, und doch könnte hier jeder unter seinen eignen Palmen und zwischen seinen blühenden Kaffeehecken so friedlich leben. Ich bin immer überzeugt gewesen, daß ein großer Teil der deutschen Vereinsmeierei zuletzt in dem Bedürfnis wurzelt, in die einander wirr durchkreuzenden Anziehungen und Abstoßungen eine gesetzliche Ordnung zu bringen. In den Vereinen platzen sie zwar erst recht aufeinander, aber da sind dann die Statuten, die Gewohnheit und – das Vereinsvermögen die Anker, um die das wracke Schifflein schwingt. Die Pflanze entwickelt ein silbernes Haarkleid, um sich gegen Vertrocknung zu schützen, die Schildkröte baut sich ihr knöchernes Haus und belegt es mit herrlichen Hornplatten, um gegen Stöße geschützt zu sein, der Deutsche schafft sich seine Vereine, die er mit Wappen, Siegel und Fahnen ausstattet, um sich selbst vor seinem Eigen- und Sonderwillen zu schützen.

Die Franzosen, viel weichere Naturen als Deutsche und Angelsachsen, vereinigen sich als Einzelne leicht, verschmelzen gleichsam, fühlen aber nicht das Bedürfnis der Organisation, wenn es nicht die vorübergehende einer Geselligkeit ist, in der sie glänzen können. Dazu trägt auch die viel mächtigere Anziehung bei, die auf sie das Weib ausübt. Deshalb sehen wir sogar im französischen Studentenleben die Verbindungen und Vereinigungen Gleichstrebender zurücktreten, die jede deutsche Universität zu einem Wald von parkartigem Wachstum machen, zu einer fröhlichen Anlage, in der zahllose kleine und große Gruppen bunt nebeneinander auf demselben grünen Boden in die Höhe streben oder auch in die Breite gehn. Dem Deutschen steht in dieser Beziehung der Skandinavier am nächsten; diesem haben Charakter und Gewohnheiten besonders im Nordwesten: Wisconsin, Minnesota, Dakota einen merkwürdigen Übergangsplatz zwischen Deutschen und Engländern angewiesen. Das gemeinsame Luthertum trägt dazu etwas bei. Aber nur etwas. Der Hauptgrund liegt in einer gewissen Sympathie der Volksseele, besonders zwischen Deutschen und Schweden, die beide das Leben leicht nehmen.

Unsre Landsleute sehen oft mitleidig auf die Amerikaner hinab, die an Nervosität, Dyspepsie und andern Folgen der Überarbeit und unvernünftigen Lebensweise leiden. Gewiß, der Amerikaner ist oft verschlossen, »spinnt« und ist dann kein guter Gesellschafter. Aber was bedeutet das für das Volk? Was ein Volk aus seiner Gegenwart gewinnen kann und was nicht, darin liegt für mich ein großer weltgeschichtlicher Unterschied. So wie es Einzelne gibt, die sich aus jeder Lebenslage ein weiches Bett zu bereiten wissen, während andre unter allen Umständen hart liegen, schwer träumen und verdrossen aufstehn, um ihr Lager besser zu machen, bis es ganz gut ist, so ist es auch mit den Völkern. Es ist die alte Beobachtung, für die Shakespeares Cäsar die allgiltige Form gefunden hat:

Let me have men about me that are fat;
Sleek-headed men, and such as sleep o'nights.
Yond Cassius has a lean and hungry look;
He thinks too much: such men are dangerous.

Wären die Russen eine so leicht zu regierende, so leicht bis in den Tod zu führende Masse, wenn nicht ihr »Allmenschtum,« das uns verschwommen vorkommt, sie molluskenhaft anpassungsfähig machte? Auch die Deutschen erkauften jahrhundertelang individuelles Behagen mit Knechtung. Kein politisch Lied durfte die Ruhe des Spießbürgers stören, man überließ die Leitung den Obern, zur Not den Fremden und kümmerte sich um das Geschäft und das Vergnügen. Es steckt darin mehr, als wir glauben, von der verderblichen Apathie der Franzosen, die sich heute dem Konvent und morgen der Militärdiktatur beugen und dabei immer den unternehmenden Einzelnen abwarten, sei es nun Cäsar oder Brutus, der sie retten soll. Die Deutschen haben noch keine Veranlassung, auf diese Eigenschaft ihrer Nachbarn so hoch hinabzusehen. Was sie in großen Zeiten gerettet hat, war nicht die Leistung vieler Einzelnen, sondern die übermenschliche Anstrengung einzelner großer Menschen, von denen das deutsche Volk nach langer Dürre seit Stein und Blücher allerdings eine überraschende Anzahl geboren hat, und die Bereitwilligkeit, mit der man diesen Leitern folgte.

Ich finde die deutsche Geselligkeit schöner als jede andre, ich teile sie mit Freuden, auch auf der Bierbank, soweit sie Geister belebt und die Herzen öffnet. Aber ich fürchte sie als Gleichmacherin nach unten hin, als Abstumpferin der heilsamen Selbständigkeit der Einzelnen, als eine Verführerin, die uns arm an eigentümlichen, starken Individualitäten in einem Augenblicke macht, wo wir nicht reich genug daran sein können. Vielleicht ist es undankbar, dieses Urteil in einem Augenblicke niederzuschreiben, wo ich noch unter dem Eindrucke der schönen Abende stehe, die ich in der kleinen Kabine des Schiffsarztes im Kreise lieber Landsleute verlebt habe. Aber gerade von ähnlichen Abenden nach grauen, einförmigen Schiffahrtstagen im Atlantischen Ozean klingt mir ein Wort nach, das Kurt von Schlözer, in der Mitte der siebziger Jahre deutscher Gesandter in Washington, der unvergeßlich heitere, originelle, aussprach: Es ist verdammt unbequem, alles, was wir tun, auf seine Wirkung aufs Ganze prüfen zu müssen; aber in die politische Kinderstube können wir doch auch nicht zurück. Also vorwärts, in die Ungemütlichkeit hinein!

*

Sei mir gegrüßt, liebliches Hamburg! Und du, deutscher Landsmann, der du gewohnt bist, bei dem Namen Hamburg an die erste Handelsstadt des Kontinents und die zweite Stadt des Deutschen Reichs zu denken, verzeihe mir, wenn ich dein großes, stolzes, reiches Hamburg lieblich nenne. Ich denke jetzt an die lachenden Bilder der Marschdörfer mit ihren altersbraunen hochgiebligen Häusern, an die blühenden Gärten und die hellen Gartenhäuser auf den höhern hügligen Elbufern von Blankenese, und vor allem denke ich an die alten Bäume, die grünen Plätze, die gartenumsäumten Alsterufer, die schattigen Straßen Hamburgs und seiner Vorstädte. Es mag für den Binnenländer sehr interessant und lehrreich sein, in dem Geschäftsleben Hamburgs die Vereinigung deutscher und englischer Neigungen, Richtungen und Begabungen zu sehen; ich finde es viel anziehender, in Hamburgs Außen- und Innenleben eine der reichsten Variationen über das Thema der deutschen Stadt zu vernehmen. Daß Hamburg, rein als Städtebild, schöner ist als jede andre Seestadt von gleicher Größe kraft seiner breiten Anlage um die stolze Wasserfläche herum, die ganze Wiesen und Haine des vor fünfzig Jahren noch unbebauten Landes mit eingeschlossen hat, gereicht ihm ebenso zum Stolz, wie die Größe und Ordnung seiner Hafenanlagen. Sogar Venedig und Genua, die geschichtlich nah verwandten Städterepubliken, verblassen in meiner Erinnerung neben dieser künstlerisch ungemein viel ärmern, einfachern Stadt des Nordens, in der soviel mehr Behagen ist und nichts welkt, sondern Saft und Kraft sich lebensfreudig regt. Man wird ja freilich vergebens nach den Palästen der Hamburger Patrizier fragen, der Doria und Vendramin.

Was heute von Hamburger Kaufleuten Weltruf hat, das wohnt in einfachen Häusern, die nicht übermäßig luxuriös ausgestattet, aber herrlich gelegen sind. Ein freier Blick auf die einzig schöne grünumrandete Wasserfläche der Alster, ein recht breiter, wohlgepflegter Rasenteppich, ein paar uralte Ulmen, die noch aus der Zeit stammen, wo hier ein Dorfwäldchen stand, gelten diesen Leuten, die gar nichts scheinen wollen, mehr als Marmorsäulen und Giebelpracht. Es ist wahr, daß nicht alle Hamburger damit einverstanden sind. Aber die Träger hoher künstlerischer Ideale sind, wie überall, nicht die, die über Macht und Einfluß gebieten. Die Hamburger lassen sich in der kleinen Kunst, die das Leben schmückt, Lichtwarks und Brinkmanns Rat ganz gern gefallen, aber ihre Häuser gestalten sie diesen verehrten Ratgebern zuliebe nicht um. Ein befreundeter Hamburger zeigte mir sein Geschäftshaus, eines von den hohen schmalen Häusern am Kanal, unten Kontore, oben Speicher, mit kaum sichtbarem Eingang und schmalen Treppen. »Hier, wo jetzt die erweiterten Kontore sind, da sind wir, meine Brüder und ich, aufgewachsen. So waren die alten Hamburger Häuser; unten Geschäftsräume, oben Speicher, dazwischen die Wohnräume. Man wohnte beschränkter als jetzt, aber das Wohnen in diesen alten Häusern hatte den besondern Reiz, daß alles warm beisammen war. Vor den Fenstern stiegen die Ballen empor, die der krächzende Kran in den Speicher hob, und an der Schwelle des Hauses legten Schiffe an. Wer in solchem Haus groß wurde, der lernte die Kaufmannschaft von selbst, der sog die Luft des Groß- und Seehandels im Schlaf ein. Meine Eltern sind hier gestorben, erst dann legten wir Geschäfts- und Wohnhaus auseinander. Damit ist aber auch die Stetigkeit geschwunden. Vielen behagen schon jetzt die vor dreißig Jahren erbauten Häuser nicht mehr, sie sind nicht bequem genug, und man zieht es vor, der neuen Generation ein neuausgestattetes Haus in neuer Lage zu erbauen, statt das alte umzubauen. So kommt es, daß wir keine Paläste haben. Die schmalen hohen Ziegelbauten, die am Hafen unmittelbar aus dem Wasser auftauchen, gefüllt mit Waren, immer sich leerend und immer neu gefüllt: das sind unsre Paläste.«

Da Hamburg noch ein elendes Nest war, als die Städte der eigentlichen Hanse an der wendischen Küste von Lübeck bis Stralsund samt ihren östlichen Ablegern ihre wirtschaftliche und politische Blütezeit hatten, die auch eine Blütezeit der Kunst war, hat es keine Kirchenbauten, die sich mit Lübecks oder Danzigs Kleinodien messen könnten. Die Lübecker Marienkirche ist als Muster für Kirchenbauten des vierzehnten Jahrhunderts bis Reval gedrungen, den kurzen Weg an der Stecknitz hin zur Elbe hat sie offenbar schwerer gefunden. Dazu ist dann noch der Brand gekommen, der denkwürdige Profanbauten vernichtet hat. Vom alten Hamburg stehn noch einige Reihen von Giebelhäusern von echt niederdeutschem Charakter, aber viel nüchterner, als was man sonst im westlichen Niederdeutschland sieht. Hamburg hat in diesen Teilen weniger Verwandtschaft mit Lüneburg, Hannover, Hildesheim, als mit den niederländischen Städten, deren Vertreterin auf deutschem Boden das hochgieblige kanalreiche Emden ist. Diesen alten niederländischen Städten ist eine im höchsten Grade einfache und gleichförmige Bauart eigen, die sehr deutlich auf den demokratischen Charakter ihrer Bewohner hinweist. In Enkhuizen oder Hoorn ist bei allen Spuren einstiger großer Blüte der Gemeinwesen kein einziges wahrhaft palastartiges Haus, auch die künstlerisch bedeutendem sind schmal und nüchtern. Auch manche Straße in Amsterdam, Leiden u. s. f. trägt noch diesen Charakter, wenn auch daneben Größeres und Eigentümlicheres entstanden ist. Ich weiß nicht, ob sich die Geschichtsforschung schon dazu herabgelassen hat, die Stammbäume der städtischen Wohnhäuser wiederherzustellen. Vermutlich würde sie eine interessante Abzweigung von den Niederlanden und dem Scheldeland aus nach Südengland hinüber auf der einen und an der Südküste der Nordsee hin bis zur Elbe auf der andern Seite nachweisen können. Wer durch Städte wie Harwich oder Yarmouth an der Ostküste wandert, findet dort das niederländische Haus bis auf Tür, Schwelle und Fenster wieder und im Innern eine übereinstimmende Anordnung der Räume. Eine starke Einwanderung vom Südufer der Nordsee, die man flandrisch nennt, hat ja hier stattgefunden.

Wer einen freien Nachmittag in Hamburg hat, sollte nach Lüneburg ausfliegen. Wenn man in Hamburg die mächtigste Hansestadt kennen gelernt hat, lohnt es sich, eine der verfallensten unter den einst blühenden zu sehen. Welcher Unterschied zwischen dem stolzen, ja pompösen neuen Rathaus Hamburgs und dem alten schadhaften Rathaus von Lüneburg. Es zeigt, so malerisch es wirkt, den Ziegelbau von seiner Schattenseite. Auch die mit einem schönen durchbrochnen Fassadenvorbau, Galerie und Bogenpfeilern versehene Nikolaikirche und die Johanniskirche mit ihrer schönen Flachornamentrosette lassen erkennen, wie die Verwitterung der Rohziegelbauten einen kleinlichen, ärmlichen Eindruck hervorbringt. Das aus grauschwarzen Glasurziegeln erbaute Haus in der Bardowieker Straße mit Porträtmedaillons steht noch am festesten da. Lüneburg muß man gesehen haben, um zu begreifen, wie Hamburg und Bremen waren, als Deutschland als Seemacht und seehandeltreibendes Land nichts mehr war, und die alte Herrlichkeit buchstäblich in Stücke ging.

Ich habe immer gern die Beziehungen Hamburgs zum geistigen und künstlerischen Deutschland verfolgt. Man könnte die Geschichte der geistigen Kultur Englands schreiben, ohne Liverpool in irgend nennenswertem Maße zu berücksichtigen. Bristol müßte schon eher genannt werden. Aber wer kann die Geschichte des deutschen Geistes verstehn, der nicht Hamburgs Stellung in der Musik- und Theatergeschichte, Hagedorns, Klopstocks und Lessings Hamburger Beziehungen kennt. Es hat Zeiten gegeben, wo Hamburgs Anteil an der deutschen Literatur auf ein dünnes Bächlein zusammengeschwunden war, dabei hat aber Hamburg in aller Stille wissenschaftliche Fortschritte gemacht, die, seinen staatlichen Sammlungen und Instituten eine der ersten Stellen sichern, und hat sich einen Einfluß auf die Entwicklung der Malerei und des Kunstgewerbes in Deutschland errungen. Auch sollten die Hamburger Zeitungen nicht vergessen werden. Deutschland wartet noch immer des Weltblatts, das kommen soll. Einstweilen finde ich, daß der Hamburger Korrespondent und die Hamburger Nachrichten zu den am besten redigierten Zeitungen Deutschlands gehören. Über den Nachrichten, die, gleich manchem andern Blatt ihres Namens, einst das verbreitetste Haus- und Frühstückblatt, wichtig vor allem durch seine Familiennachrichten, waren, leuchtet augenblicklich noch der Schimmer Bismarckischer Mitarbeiterschaft. Ich glaube, daß die solide Ofenwärme des Eingebürgertseins in den Hamburger Häusern besser vorhalten wird als das schwankende Scheinwerferlicht von Friedrichsruh her. Der Korrespondent hat Zeiten gehabt, wo er dem Charakter eines Weltblatts näher kam als heute, so z. B. in der großen Zeit von 1870 und 1871. Damals hatte, soviel ich weiß, kein andres deutsches Blatt so ausführliche und gute Korrespondenzen aus Frankreich, wie dieses Hamburger. Es war wahrscheinlich das einzige, das ganz »echte« Korrespondenzen aus dem Bordeaux der weltgeschichtlichen Abstimmung vom 1. März 1872 und aus dem belagerten Paris der Kommune hatte. Ein »gerissener« Hamburger, der die Korrespondenzen aus Orten schrieb, wo damals kein Deutscher ungestraft, man möchte sagen unzerrissen verweilen konnte, hatte die ebenso geniale wie naheliegende Idee, die seltenste aller Nationalitäten, die der Helgoländer, vorzuschützen, womit er sogar bei Engländern Glück hatte, die ihm sein teutonisches Englisch verziehen, als er sich als einer der seltensten Insulaner unter britischer Flagge vorstellte.

Hamburgs Kunstsammlungen sind nach der kunstgewerblichen Seite hin bedeutend. Das Kunstgewerbemuseum hat eine der allerschönsten japanischen Sammlungen, die es in Europa gibt. Für Kenner enthält sie in manchen Teilen Besseres als das einst über Verdienst gerühmte Londoner Kensingtonmuseum. Sie stehn freilich alle weit hinter den Bostoner Sammlungen zurück, wie sich denn überhaupt das Verständnis für Japanisches in Amerika rascher ausgebreitet hat als in Europa; das beweisen die japanischen Einflüsse im amerikanischen Kunstgewerbe, die zum Teil erst über Amerika für Europa wirksam geworden sind. Auch hier in Hamburg sieht man schon bemerkenswerte Wirkungen der mit großen, in aller Stille gebrachten Opfern seit noch nicht einem Menschenalter vermehrten Sammlungen. Ich frage mich: Wird man so viel erreichen wie in Amerika und England, wo hinter den kalten Zügen gleichgiltiger Gesichter eine künstlerische Leidenschaft lebt, die sich in Farben ergießt? Ich denke an Turners glühende Farbengedichte. Ist nicht der Hamburger Charakter zu hart, zu männlich, als daß sich in Hamburg eine Kunstblüte entfalten könnte, wie sie die Niederlande gehabt haben? Die ruhmvolle Geschichte der niederländischen Freistaaten kann nicht darüber täuschen, daß in der Volksseele der Niederländer eine Weichheit und Empfindlichkeit lebt, die die Erfinderin der Kunst tiefer Töne und weicher Stimmungen ist, in der die Niederländer den andern um zwei Jahrhunderte vorangeschritten sind. Für den niederländischen Patrioten liegt die Kehrseite dieser Fähigkeit in der Verweichlichung, die er dem Luxus und der in den reichen Familien getriebnen Inzucht zuschreibt. Es ist auch ein Stück halbrepublikanischer Meisterlosigkeit dabei.

Ein geistvoller Niederländer, Sproß einer Künstlerfamilie, sagte mir: Nous sommes une race effeminée. Das könnte der wahrheitliebendste Hamburger von seinen Landsleuten nicht sagen. Es gibt wohlgemästete Männer und Frauen in Hamburg, besonders Frauen, die aussehen, als ob sie hauptsächlich von Milch und Rotwein lebten. Aber im allgemeinen ist das ein kräftiges, arbeitliebendes Geschlecht von energischen Zügen. Die Hamburger Kaufmannssöhne geben ausgezeichnete Soldaten. Es ist da eine hochgewachsene, hellblonde Rasse, die in ihren extremen Vertretern mit weißblonden Wimpern und sehr blauen Augen fast albinohaft aussieht; das ist die verkörperte Energie. Häufiger sind die untersetzten Leute, deren breite Schultern starke Lasten tragen können. Die spanisch- und portugiesisch-amerikanischen Mischungen haben auch sehr schwarzäugige und dunkelhaarige Hamburger und Hamburgerinnen erzeugt, deren Haut einen tropengelblichen, wächsernen Charakter hat. Auf die Gefahr hin, in den »Alldeutschen Blättern« wegen mangelnder nationaler Gesinnung denunziert zu werden, erkläre ich, daß meinem Geschmacke diese Fremdlinge und Fremdlinginnen besser zusagen als die einheimischen Schönheiten. Man denke sich aber die Hamburger nicht als eine stolze Patrizierrasse. Der Besitz und damit die soziale Stellung wechseln hier wie in allen Handelsstädten ungemein rasch. Wenig Familien behaupten sich durch drei Generationen auf derselben Höhe. Außerdem hat man in den großen Hamburger Familien Gelegenheit, dieselbe Beobachtung zu machen wie in den ältesten Fürstenhäusern, daß die jahrhundertelang fortgesetzte vortreffliche Ernährung und Erziehung, Sorgenfreiheit, Lebenskunst, fest gegründetes Besitzgefühl nicht imstande sind, zu verhüten, daß die plebejischsten Gesichter und die schlotterigsten Jammergestalten von schönen, sorgenfreien Eltern gezeugt und herangezogen werden. Es spricht sich darin eine der merkwürdigsten Eigenschaften des Menschengeschlechts aus, daß sich die Natur entschieden ablehnend gegen die Bildung einer Daueraristokratie verhält. Könnten Eigenschaften der Übermenschen durch Züchtung befestigt und fortgepflanzt werden, dann wehe uns andern, die aus der Masse des mittlern Bauern-, Bürger- und Beamtenstands hervorgegangen sind. Aber die gütige Natur sorgt für ihre Kinder. Zu denen, die die Unterschiede des Besitzes und des Standes ihren Nachkommen für immer sicherstellen möchten, sagt sie einfach: Ich will nicht. Sie macht, daß fürstliche Gestalten und königliche Geister in Bauernhütten geboren werden. Die Nation wäre töricht, die nicht der Natur ihr ausgleichendes Werk erleichtern wollte, indem sie alles tut, die Lage der untern Klassen zu verbessern. Es liegt vielleicht in der bessern Lebenshaltung der einheimischen Arbeiter – ich spreche nicht von den importierten, billig arbeitenden Slowaken, Polen und Italienern, die für den Amerikaner gleich hinter den Chinesen kommen –, die der zweifelloseste Vorzug Amerikas vor Europa ist. Sie erzeugt Männer und Frauen, deren Gestalt, Gang und Mienen niemand die Tagelöhnerarbeit ansieht. Sobald sich ein Weg nach oben auftut, sind sie bereit, in eine höhere Schicht einzudringen, wo sie sich ganz zuhause fühlen. Ich fürchte allerdings, daß gerade diese Schicht an der Unlust, Kinder zu haben, einst noch früher als die Franzosen zugrunde gehn wird.

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Die Fahrt von Hamburg nach Lübeck enthüllt nichts Großes, nichts Schlagendes. Es ist eben ein bescheidnes Stück Land, etwas aus der Vossischen Luise, den Idyllen Storms und Geibels, ein beschauliches, friedsames Stück Erde, das übrigens in der Heide der schleswigschen Höhenrücken und überall, wo das Meer hereinschaut, auch größere Züge hat. Fernow, ein Bewundrer klassischer Landschaft aus dem Weimarischen Kreise zu Goethes Zeiten, sagte kecklich von der niederländischen Natur, in diesen flachen Gegenden herrsche Reiz und Schönheit, doch sei die Schönheit keine hohe, und Größe finde sich gar nicht darin. Die Größe der Düne, des Meeres und des hohen Himmels, wie sie Rembrandt auf dem Bilde Haarlem (im Haag) zeigt, galt also nicht neben der gewaltsamen Größe der schroffen Gebirge oder den stilvollen Kegeln und Wölbungen der Albaner Berge. Das war die Zeit, wo man in der Landschaft Fülle mit Größe verwechselte. Ein erst nur halb entwickeltes Schönheitsgefühl vergnügte sich an der genrehaften Staffage, ohne die kein Landschaftsbild auch nur des Anblicks wert zu sein schien. Dagegen schlummerte noch tief das Gefühl für das Große und Schöne in der Einfachheit. Je niedriger das Land, desto höher der Himmel, desto mehr blaue Luft, Sonne, mächtigere, fixiere Wolkengebilde; das war eine unentdeckte Wahrheit. Übrigens reicht ein Gang durch die deutschen Gemäldesammlungen hin, zu erkennen, daß die landschaftlichen Reize des norddeutschen Tieflands auch heute noch lange nicht genug künstlerisch verwertet sind. Es ist weit dahin, bis man sagen kann, sie seien ausgeschöpft. Es ist noch keiner dagewesen, der sich die Abend- und Nachtstimmungen, wo jede Einzelheit vor dem weiten, tiefen Horizonte wie abgelöst steht und sich wunderbare Farbentöne von dunkelrot bis hellgrünlichgelb und milchweiß auf der hohen Wand des Himmels mischen, so zum Ziele seiner Darstellung gemacht hätte, wie drei Generationen von Künstlern aller Nationen, die die Alpen, das Mittelgebirge und sogar den Apennin gemalt und wieder gemalt haben. In Hamburg erfreuen sich die Werke der Worpsweder und einiger holsteinischer Künstler, die dieses anstreben, großer Teilnahme, auch praktischer d. h. zahlender, wie ich zu meiner Freude in den Häusern kunstliebender Privatleute wahrnahm.

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Lübeck hat im höchsten Grade die Eigenschaften der echten alten Hansestädte, neben denen Hamburg nur ein Emporkömmling ist, allerdings einer, dem es sehr geglückt ist. Lübeck ist eine geschlossene Existenz, die ehrwürdiges Alter mit einigen Spuren des Rückgangs verbindet, unter denen aber noch immer ein Strom ruhiger Weiterentwicklung, wenn auch in behaglicher Enge, weitergeht. Eine gesunde Verbindung, die wohltuend anmutet. Welch erfreuliches Bild, wenn mau aus dem Bahnhof tritt und Lübeck wie eine turmreiche Insel vor sich liegen sieht, im Flachland zwar und schon am Süßwasser, aber doch schon eine echte Küstenstadt in der Schiffe mastenreichem Wald, beherrscht von seinem dunkelbraunen Dom, der, wie der ganze Marktplatz, höher als die übrige Stadt liegt. Das bedeutendste Denkmal ist jedenfalls das im wahren Wortsinn unvergleichliche Rathaus aus dunkeln, schwärzlich wirkenden, glasierten Ziegeln, die in der Mischung mit roten den durch Masse und schöne Verhältnisse ausgezeichneten Bau wie einen dunkelgeharnischten Ritter hinstellen. Dabei sind aber die Außentreppen, die verbindenden Bogengänge mit Galerien und die Türmchen höchst lebendig. Und im Innern zeugt die geschnitzte Stube von der Pracht, die in der wehrhaften Stadt wohnte. Unter den Kirchen ist der Dom mit seinen Türmen im Übergangsstil etwas schwer, um so leichter schwingen sich die schmalen Hallen der Marienkirche zur Höhe, vor allem aber das Chor. Es ist kein Mangel an Metall in diesem Gotteshause. Der Protestantismus zieht sonst vor, das Metall im Beutel zu behalten. Hier ist es freigebig verwandt. Die Kanzel gleicht einer Art von Sakramentshäuschen, ist höchst bewegt, jeden Pfeiler zieren Votivbilder und Fahnen. Die Petrikirche sendet den schlanksten Turm empor, den vier Ecktürmchen flankieren. Es kommen auch zierlich durchbrochne Türmchen auf dem Hauptschiff vor. Aber den Eindruck des Rathauses und des Holstentores erreicht keiner von diesen Tempeln. Man kann an den Privathäusern lernen, wie gut sich der Ziegelbau dem räumlich anspruchslosen Profanbau anpaßt, der mit dem Wechsel roter und gelber Steine einen warmen, heitern Ton erzielt, offne Loggien anwendet und in gebrannten Ornamenten nach Art des Wismarer Fürstenhofs schwelgt. Das berühmte Schifferhaus zeigt uns das stimmungsvolle Düster eines Hausinnern. Um lange Tische behagliche Bänke, die Räume durch halbhohe dunkle geschnitzte Wände geschieden. Schiffsmodelle und erbeutete Korsarenwaffen zieren Decke und Wände.

In der Stille dieser wundervollen Stadt, von deren Wällen man auf eine lachende Landschaft von Wiesen, Feldern, Wäldern und blitzenden Seen und Flußschlingen hinaus und hinab schaut, sind namhafte Menschen geboren. Geibel steht kühn in den Mantel drapiert da, genau so, wie man ihn einst in München dahinschreiten sah. Der Historiker Curtius ist eine seinem berühmtem Freunde und Landsmann seelenverwandte Natur gewesen: mehr anempfindend als schöpferisch, hochgesinnt, der Phrase zuzeiten nicht abhold, im ganzen eine höchst wohltuende Erscheinung. Lübeck hat auch kräftigere, für die hanseatische Diplomatie in alter und in neuer Zeit bedeutende Männer gestellt. Der Senator Krüger, ein mit der Schöpfung des neuen Reichs eng verbundner langjähriger hanseatischer Gesandter in Berlin, war ein Lübecker.


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