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Vor der Sägemühle an der Landstraße, die sich nach dem grauen ummauerten Pfalzburg hinaufwindet, sitze ich am Holztisch und schaue in die duftigen, blauen Waldberge der Vogesen hinein. Talauf talab hallt das Singen der Säge und das Fallen der Bretter. Der Harzgeruch des frisch zerschnittnen Holzes würzt die feuchte Luft. Hart vor mir stehn die ersten Tannen, und Tannen erfüllen den vielgestaltigen Gesichtskreis rechts und links und vor mir. Der fast regelmäßig flache Kegel des Schneebergs ist bis oben mit Tannenwald bekleidet. Ich bin drei Stunden gewandert, habe wenig Föhren und zahllose Tannen gesehen und habe kaum einmal ihren Schatten verlassen. Ihr Wurzelgeflecht, das über den Boden hervortritt, hat mir den Weg herauf erleichtert; man steigt auf dem Fußpfad wie auf Holzstufen von einer Wurzel zur andern. Der Duft ihrer nahen Zweige weht mit der Abendluft talaus. Diese Tausende und Abertausende von Tannen, kräftig alle im Gewand ihrer straff anliegenden silbergrauen Rinde und mit den breiten Schirmästen, scheinen wie eine Armee über die runden Berge im Westen herzumarschieren und mit unwiderstehlicher Kraft ins Rheintal hinabzudringen. In den Schluchten schieben sich diese dunkeln Heerhaufen zusammen, und nur an den flachen Berghängen zeigen sich Lücken, Lichtungen. Dort hinten schimmert es gelblich und bläulichgrün vom Talausgange her, das ist der obere Rand des Rebengürtels, ein Grenzsaum, der dem Walde zuruft: Nicht weiter! Aber er ist nur Grenze, solange der Mensch will. Als die Römer flohen und ihre Dörfer und Pflanzungen den Alemannen überließen, da dauerte es nicht lange, daß unter den hellen Reben die Vorposten des dunkeln Waldes erschienen, sie überschattend und in sich aufnehmend. Dieser dunkle Tann ist der alte Wald, der Urwald des Schwarzwalds und der Vogesen, mit denen er seit Jahrtausenden verwachsen ist, und die auch heute ohne ihn gar nicht zu denken sind. Er ist vor den Menschen dagewesen und würde an ihre Stelle treten, wenn sie jemals wieder die Täler verließen, in die sie sich seit der alten Keltenzeit mühsam hineingerodet haben.
Zwischen diesen tiefen, dunkeln Wäldern des Gebirges und dem gartenartig angebauten Lande des ebnen Rheintals zieht an allen tiefern Berghängen ein Saum von Laubwald entlang. So hoch vor allem der Kastanien- oder Kestenbaum ansteigt, so weit ist ein Zug von lichter Heiterkeit durch die hellgrünen, großblättrigen Kronen und die vielversprechenden Früchte des kräftigen Baumes eingeflochten. Er macht nicht den Eindruck eines Fremdlings wie die weiter oben dann und wann eingesprengte Lärche. Ebenso wie die Hopfenbuche, deren Ährenfrüchte im Herbst den Boden bedecken, eine gern gesehene Bereicherung des an Ahorn, Ulmen und Eschen armen Schwarzwald- und Vogesenwaldes ist, so grüßt uns der Kestenbaum, der die Eigenschaften des Wald- und Fruchtbaums vereinigt, als ein vertrauter und dazu freigebiger Gast, den man an keinem mittägigen Berghang missen möchte.
Die Nordvogesen tragen auf ihren roten Sandsteinquadern auch die Säulen herrlicher Buchenhallen. Die schönsten Buchenwälder Deutschlands, wie sie am Ostseestrand und dann wieder im Wellenhügelland und an den steilen Talhängen des bayrischen Inn- und Isargebiets grünen, übertreffen nicht die Buchenwälder der Sandsteinvogesen und der Hardt. Und diese Buntsandsteinhügel haben dazu die naturgeborne Phantastik ihrer Felsformen und die Menge des gleichsam aus dem Stein herauswachsenden Gemäuers alter Burgen, Schlösser und Klöster für sich. Die Kammwanderung von der mächtigen Ruine Hochbarr zu den durchaus nicht unbedeutenden Trümmern der Burgen Groß- und Kleingeroldseck führt auf schattigen Waldwegen in einer halben Stunde an drei Burgruinen vorüber. Von diesen burggekrönten Hügeln sieht man Vorsprung hinter Vorsprung des buchtenreichen Gebirges, wie Vorgebirge ins Meer, in die Ebene hinaustreten. In die Buchten schmiegen sich die Städtchen und Dörfer, deren Obstgärten wie zerstreute Vorposten des hinabsteigenden Waldes den Gebirgsrand der Ebne durchschwärmen.
Dieses mächtige Schloß von Hochbarr über Zabern, das auf zwei seltsam gestalteten Felsen auf konglomeratartig kieselsteinreichem Buntsandstein gegründet ist, wiederholt in seinen wulstförmigen umlaufenden Gesimsen die Struktur des Felsens. Man sieht bei diesen Bauten oft kaum, wo die aus dem roten Fels herauswachsende Burgmauer anfängt; und diese hängt in der Tat so innig mit dem Grundfelsen zusammen, daß bei Sprengungen beide miteinander gebrochen sind. Auf der Waldeck, die weiter nördlich, zwischen den Hanauer Weihern, zwei stillen, halbversumpften Waldseen, auf einem Sandsteinkegel emporsteigt, nimmt diese Verbindung phantastische Dimensionen an. Der Zugang zu dem schlanken, gut erhaltnen viereckigen Wartturm wird durch die vorspringende Platte eines Felstisches gedeckt. Aus ihm eröffnet ein natürliches Fenster den Blick nach Norden. Die meisten Stufen sind in den Fels gehauen, und zu beiden Seiten des obern Plateaus sind zwei große kesselförmige Vertiefungen im Felsgrunde zu sehen. Der etwas tiefere westliche Teil der Burg zeigt überhaupt kein Mauerwerk, sondern Stufen, Bänke und Zinnen sind aus dem anstehenden Stein geschnitten. Manches an diesen Sandsteingebilden erinnert an die sächsische Schweiz, aber Stein, Gestalten und Kanten sind härter.
Eine seltne Erscheinung: Seen in den Nordvogesen. Diese beiden Hanauer »Weiher« liegen in einer Talweite, die mitten im Walde dem Ackerland der kleinen Weiler Waldeck und Schweizerländel Raum geschaffen hat. Die Ärmlichkeit dieser Weiler zeigt, daß hier nie viel zu holen war. Eher waren die Seen früher ausgedehnter als jetzt, und das bißchen Ackererde ist eben offenbar dem Umstande zu danken, daß alter Seeboden trocken wurde. Da sie nicht unmittelbar von Bergen umgeben sind, bieten die kleinen Seen nur an einzelnen Uferstellen, wo der dunkle Föhrenwald ganz nahe herantritt, wirksame Partien. Die Ränder des kleinern Sees sind fast ringsum versumpft, und auch den Glanz des Wasserspiegels des größern trübt allzuviel schwimmendes Gekräute. So teilen sie eigentlich nur die Einsamkeit mit den Südvogesenseen, die als echte Gebirgsseen aus tiefen Schluchten wie dunkle Augen blicken. Treffend nennt der Volksmund diese ebenso wie die flachen, am Rande sumpfigen lothringer Seen »Weiher.«
Kaum gleichen sich zwei Gebirgslandschaften auf deutschem Boden so wie die der Sandsteinvogesen und der Hardt. Politisch gehören sie zu drei Ländern: Elsaß, Pfalz und Lothringen, von Natur sind sie eins. Diese Natur wird hoffentlich herauf aus ihrer Tiefe und durch alle menschlichen Schranken hindurch einigend wirken! Beim Eintritt in den lichten, hochstämmigen Buchenwald, der zum Wasenstein über Niederbronn emporführt, fühlt man sich so vollständig an den Fuß des Trifels versetzt, daß man das Gefühl für die Örtlichkeit verliert. Und so ist es überall in den nördlichen Vogesen. Natürlich reicht ein Blick von der Höhe hin, die Eigentümlichkeit des Landes zu zeigen: die breitere Zone der Vorberge, von deren Rand sich vom Wasenstein, Wasenköpfel u. a. der neue Kirchturm von Fröschweiler wie eine zum Himmel weisende Säule erhebt, das am ernstesten stimmende von allen Schlachtdenkmälern um Wörth.
Man kann sich keine deutschere Landschaft vorstellen als diese, deren Schauplatz die Schlacht bei Wörth gewesen ist. Das Wiesental zwischen Fröschweiler und Wörth, aus dem sich die Deutschen am Nachmittag des 6. August zur letzten Entscheidung westwärts emporkämpften, ist, vom Kirchhof in Fröschweiler aus gesehen, die reine Idylle. Von hier aus der sanfte Abfall der Wiesen, drüben der Ostabhang mit obstbaumbestandnen Wiesen, Äckern und Weinbergen steiler ansteigend, bis er in eine flache Wölbung übergeht, aus der als Abschluß ein ununterbrochner Laubwaldstreifen des Herrenberges hervortritt. Grün in allen Tönen und Schatten. Dahinter erhebt sich noch ganz nahe der schöne, dicht bewaldete Rücken des Hochwalds, und aus der Ferne schauen die Höhen um Bitsch, und weiter nördlich von der Pfalz und Weißenburg zu, fast in einem Halbkreis um das Amphitheater von Wörth. Die alte Grenze zwischen Deutschland und Frankreich andeutend und zugleich das nächste Verteidigungsobjekt und die Rückzugslinie der Franzosen verdeutlichend, geben sie dem Bilde einen großen Zug. Wer aus dem Walde hinter Fröschweiler heraustritt, dem erscheinen die Vogesen nahe. Nur eine gute Stunde Weges ist es noch bis Niederbronn, das schon von bewaldeten Gebirgsausläufern umfaßt wird. Den Flüchtlingen des 6. August mochte das freundliche Reichshofen mit seinem hohen Kirchturm aus rotem Sandstein, das in dem weiten Wiesengrunde westlich von dem die Orte Reichshofen und Fröschweiler trennenden Höhenzug liegt, als ein Halt- und Ruheplatz winken. Die Flucht ging aber bekanntlich weit darüber hinaus, und die bayrischen Reiter drangen noch am Abend des Schlachttages bis zum Westrand von Niederbronn vor, das allerdings mehr vollgepfropft als eigentlich militärisch besetzt war.
Es war ein wohlgewähltes Schlachtfeld auf diesen schönen sanftgeneigten Ackerfluren und Weinbergen, die sich von den westlichen Höhen zur Sauer herabziehn und das an ihrem Fuße liegende Wörth in flachem Bogen umfassen, darüber das hochgelegne Fröschweiler in der beherrschenden Mitte, aus beiden Flanken und im Rücken schützender Wald, vor sich die Deckung durch die Sauer in ihrem Wiesengrund. Das ist ein Schlachtfeld, wo eine anstürmende Armee, wenn sie nicht ganz festgefügt war, zerschellen mußte. Die Franzosen waren ganz sicher, den von Osten und Norden heranrückenden Feind schon beim Herabsteigen ins Tal oder doch im Tal selbst vollkommen überschauen und beschießen zu können. Die Mitrailleusenbatterien bestrichen sogar einzelne Straßen von Wörth. Die Osthänge werden nicht allein überragt von den Westhängen, sie sind auch viel weniger reich an Baumpflanzungen und haben keine Weinberge. Bastionenartig vorspringende Stützpunkte, wie sie auf der Westseite der Herrenberg und der Galgenberg bieten, kamen natürlich auf der Ostseite gar nicht in Betracht, ebensowenig schluchtenartige Hohlwege, wie der von Wörth nach Elsaßhausen herausführende, der den Schlesiern so furchtbare Opfer kostete. Von dem Nußbaum aus, der als der Standpunkt Mac Mahons gezeigt wird, liegen die östlichen Talhänge zwischen Görsdorff und Gunstett wie eine sanftgeneigte Ebene. Die Deutschen wurden tatsächlich in allen Bewegungen gesehen bis zu dem Augenblick, wo sie beim Heraustreten aus dem Westrand von Wörth reif fürs Chassepotfeuer waren.
In der Rheinebene und hoch an den Vogesen hinauf gibt es im Elsaß besonders viele lichte Wälder hochstämmiger Buchen und Eichen, wo die ziemlich dicht stehenden Bäume schlank emporstreben. Sehr passender Wald zum Feuergefecht! So ist der Wald hinter Fröschweiler, wo am Nachmittag des 6. August Ducrot gegen die nachstürmenden Bayern und Preußen den Rückzug Mac Mahons zu decken suchte. Wo die von Reichshofen kommende Straße den Wald verläßt, ist noch ganz gut der rechtwinklige Einschnitt kenntlich, wo die Zweiundachtziger eine von den Ducrotschen Batterien nahmen, die den Deutschen in Fröschweiler so großen Schaden zugefügt hatten.
Den Rhein im Osten, der ebenso dazu gehört, muß man sich allerdings denken, denn Wörth liegt schon ganz in den Vorbergen, und der Blick dringt nicht bis Hagenau hinter seinem breiten uralten Forste. Doch wird es von dieser Höhe aus auch dem an strategische Blicke nicht Gewöhnten klar, wie die Franzosen von dieser Vorstufe der Vogesen herab die südlich sie umwindenden Wege nach Bitsch und Zabern decken und den gegen Straßburg Vordringenden in der rechten Flanke bedrohen wollten. Das stille Hagenau lag damals außer Schußweite, und seine Besetzung durch die badische Division an jenem 6. August erwies sich als ganz überflüssige Vorsicht, da die Franzosen an nichts weniger dachten, als ihre ohnehin schon schwachen Truppen durch eine Entsendung in den Rücken der Deutschen zu verringern. An jenem heißen Tage konnte man Hagenau ausgestorben wähnen. Viele Bewohner waren nach Straßburg geflohen, die andern hielten sich in ihren kleinen Häusern versteckt. Nur die nach französischer Sitte weit offnen Kaffeehäuser luden die Durstigen ein. Auch heute liegt die Sonne in den stillen Straßen des Städtchens, und nicht viele Schatten schneiden ihr grelles Licht. Es hat sich nicht viel geändert im Aussehen dieser Straßen, und das Leben, das jetzt am Mittag eines Septembertags ganz in Schlaf verfallen zu sein scheint, ist im Grunde nicht viel anders als das Leben vor einem Menschenalter. Nur ruht es heute sorglos, während es damals ängstlich dem Kanonendonner lauschte, der so laut hereinrollte, als ob vor den Toren gekämpft würde. Es träumte damals von Mord und Plünderung. Nichts davon wurde wahr. Das Städtchen hat vielmehr weniger vom Krieg gemerkt als so manche Stadt Deutschlands, von französischen nicht zu reden. Nachdem sich das Schlachtengewitter in so großer Nähe entladen hatte, zog es rasch über die Vogesen, und Hagenau lag von nun an fern von allen Zugstraßen kriegerischer Gewitter. Nur friedlich belebt war es als Sitz der Regierung bis zu deren Übersiedlung nach Straßburg. Es machte mir schon einen sehr beruhigten Eindruck, als ich 1871 kurz nach dem Kriege in einem Hagenauer Gasthof elsässische Männerstimmen sich zur Probe idyllischer Frühlingsgesänge anschicken hörte. Die Menschen waren ihren Schrecken losgeworden und hatten ihre im Elsaß seit lange berühmte Sangesfreude wiedergewonnen.
Hagenau gehört zu den elsässischen Städten, die unter deutscher Herrschaft auffallend gewonnen haben. Es ist vielleicht auch mit einer gewissen Vorliebe behandelt worden, die weniger der alten »Barbarossastadt« galt als dem Mittelpunkt einer ruhigen, fleißigen, vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung. Hagenau ist ohnehin mehr, als was man bei Bädeker und Konsorten unter Landstädtchen versteht. Es trägt noch Spuren davon, daß es einst ein Lieblingsitz deutscher Kaiser war. Die schöne Basilika der St. Georgskirche mit ihren schweren romanischen Säulen und Bogen und ihrem gotischen Chor ist von Barbarossa gegründet worden. Der aus jenen Zeiten her der Stadt zueigne Hagenauer Forst läßt der Stadt solche Einkünfte zufließen, daß sie sich den schönen Luxus prächtiger Gartenanlagen gestatten kann, um die einige deutsche Städte von der zehnfachen Einwohnerzahl sie beneiden könnten. Die imposante Hopfenhalle zeigt, daß Hagenau der Mittelpunkt einer fruchtbaren Landschaft ist. Eine neue Errungenschaft sind die ausgedehnten Kasernenbauten, die vom leicht erhöhten Süden auf die Stadt herabschauen. Hoffentlich nehmen sie ihr nicht zuviel Licht!
Leider hat Hagenau durch den Rückgang der Hopfenpreise und durch die damit eingetretene Beschränkung des Hopfenbaues in den letzten Jahren an Wohlstand eingebüßt. Seine einst lebhaften Beziehungen zu Nordamerika haben besonders gelitten. Früher hatten die hiesigen Hopfenhändler Zweiggeschäfte in den Mittelpunkten der nordamerikanischen Bierbrauerei, wo sie jede Menge absetzen konnten. »Nicht einmal vom Himmel hing es ab, ob der unterelsässer Hopfenbauer sein Haus richten (erneuern) lassen wollte oder nicht; denn wenn der Sommer gut war, hatte er viel Hopfen, und wenn der Sommer schlecht war, teuern zu verkaufen. Heutzutage gilt der Hopfen so wie so nichts, und wenn Sie aufs Dorf hinausgehn, zeigt es Ihnen der Zustand der Häuser, daß die Bauern nur noch Geld fürs Nötigste, und oft nicht einmal das haben.« So erzählte mir ein Bauernsohn aus der Lauterburger Gegend, der, als wir auf der breiten Rheinstraße gegen Selz zu fürbaß schritten, mit Stolz auf den Hagenauer Schießplatz hinwies, wo er oft als Artillerist geübt habe. Er rühmte die freigebige Hand der Militärbehörden bei Landkäufen, Pferdekäufen und bei der Bemessung der Arbeitslöhne, die in dieser schwierigen Zeit den Bauern sehr wohl tue. Schlecht war er auf die Juden zu sprechen, die den Hopfen ausgeführt hätten, solange sie den Nutzen davon hatten, aber ebenso unbedenklich in die Hagenauer Hopfenhalle amerikanischen oder sogar russischen Hopfen einführen würden, wenn es ihnen Nutzen brächte. Man kann hier, meinte er ganz richtig, nicht von heut auf morgen vom Hopfenbau abgehn, wir müssen einfach weiterbauen und sehen, wie wir den Hopfen anbringen. Wir brauchen große Brauer, wie in Bayern, die gute Ware gut bezahlen, und brauchen eine strenge Aufsicht auf den Handel. Dem Manne wäre es am liebsten gewesen, wenn die Regierung den Hopfenhandel in die Hand genommen hätte, so wie sie den Tabak für ihre Manufakturen kauft. Daß die elsässer Bauern nicht unternehmend genug seien und sich von den Juden zuviel bieten ließen, davon war er fest überzeugt. Auch mochte seine Auffassung nicht ganz unbegründet sein, daß die Regierung dem jüdischen Zwischenhandel schon ganz anders entgegengetreten sein würde, wenn sie eine Bauernpartei hinter sich hätte, die diesen Schaden aus erster Quelle aufdeckte.
Bisher ist die Armee allein so frei gewesen, sich bei den Remonteankäufen einfach die Mitwirkung der Juden zu verbitten. Die Verwaltung behauptet, keine Handhabe zu haben, gegen die Bewucherung vorzugehn. Tatsache ist, daß die Bauern rechts und links vom Rheine ganz zufrieden sind, wenn sie von den Juden bevormundet werden. Sie ziehn aus eigner Entschließung die Juden zu jedem Kauf und Verkauf herbei. In Dagsburg, dem hoch gelegnen Vogesendorf bei Zabern, mit seiner auf tischähnlichem Felsgebilde kühn erbauten Kapelle, hörte ich einige Tage darauf erzählen, wie die Bürger aus Leiningenschen Zeiten große Holzbezugsrechte genössen. Alljährlich am 10. November zieht jeder sein Holzlos, das ihm das Recht auf eine Anzahl wertvoller Stämme gibt. An diesem Tage wimmelt es dort von Juden aus Zabern, Pfalzburg und Rummatsweiler. Warum? Weil die meisten Dagsburger ihr Holzrecht seit lange, oft für Reihen von Jahren an die Juden verkauft haben. Die Juden stehn vor der Tür, für sie wird eigentlich gelost, und mancher trägt in seiner Brieftasche die Anweisungen für Holz im Wert von Tausenden herum.
Man würde sich irren, wenn man glaubte, solche Zustände müßten in weiten Kreisen eine antisemitische Bewegung erzeugen. Diese ist jedenfalls in so manchen Teilen Altdeutschlands, wo es fast keine Juden gibt, stärker als in Baden oder im Elsaß, wo man so manches Dorf und Städtchen mit mehr als zwanzig Prozent Juden zählt. Der Südwestdeutsche findet sich mit den übeln Seiten des Juden durch Scherz und Spott ab. Das ist der Geist der klassischen Judenanekdoten des »Rheinländischen Hausfreunds« und der idealisierten Darstellungen der Pfalzburger Juden in den Romanen von Erckmann-Chatrian. Nachdem meine Dagsburger Gewährsmänner ihre Klagen über die wuchernden Juden ausgeschüttet hatten, gab einer zum Schluß eine Geschichte zum besten von einem Rabbiner in einem elsässischen Städtchen, der 1848 gezwungen wurde, eine Lobrede auf die noch unsichere, eben geborne Republik zu halten, welcher Aufgabe er sich durch den tiefsinnigen Spruch entzog: Was kann mer viel sage? Die Republik ist zu vergleichen einem Schuhmacher: heut lebt er, und morgen kann er schon tot sein. Und unter dem Gelächter über alte und neue Judenanekdoten ging alle Bitterkeit verloren, die sich vorher Luft gemacht hatte.
Die weitgehende Zerteilung der Acker- und Wiesenfluren, die sich bis zur Zerstückelung steigert, fällt gerade hier im Hopfenlande auf. Man denkt, die oft beklagte und nicht neue Verschuldung der Bauern hätte ihren Gläubigern Mittel an die Hand gegeben, größere Komplexe zusammenzukaufen. Aber da wird nun auf einen Punkt hingewiesen, den sich der Wandrer freilich nicht gedacht hat: Das ist ja, sagt uns ein Hagenauer Kaufmann, der Vorteil, den die Bauern von den Juden haben, daß ein Jude nie selbst den Acker bewirtschaftet; also läßt er dem Bauern sein Feld, wenn er auch den Gewinn davon einstreicht. So ist es auch mit den Notaren, die häufig Gläubiger sind: sie wollen nicht das Land. Der Bauer behält also den Boden unter seinen Füßen, ist aber freilich dann in vielen Fällen nicht viel mehr als der Pächter seines Gläubigers. Wenn der Wert der landwirtschaftlichen Erzeugnisse sinkt, dann wird die Kette der Verschuldung fühlbarer, und im Bauernstand greift das Unbehagen so epidemisch um sich, wie es die Politiker des Reichslandes gern zu schildern pflegen, um die Unzufriedenheit mit der deutschen Herrschaft besser zu begründen. Gern übergehn sie dabei den steigenden Wohlstand der Städte, der wie überall das Gegenstück des Rückganges der Landwirtschaft ist. Grundsätzlich verschweigen sie die tiefern Wurzeln dieses Mißstandes in der geflissentlich herangezognen Unselbständigkeit der Bauern, zu deren Hebung ganz besonders die bei ihnen so einflußreiche katholische Partei bei weitem nicht so viel getan hat wie z. B. in Altbayern. Gerade dieses satte Rasten der Besitzer über den hart arbeitenden und wenig gewinnenden Massen der Arbeitenden ist echt französisch. Die altdeutschen Beamten haben sich über die Würdigung dieser Sachlage hinwegtäuschen lassen durch die wohltuende Urbanität des Verkehrs der Obern mit den Untern und durch die ruhige Geduld, mit der der Bauer alles über sich ergehn läßt. Wenn der Bauernstand im untern und im obern Elsaß, und das obere möchte ich besonders betonen, der einzige im ganzen Lande ist, der sich ehrlich in den 1870 gewordnen Zustand gefunden hat, so hat daran die Verwaltung weniger Verdienst, als sie haben könnte. Sie läßt sich hoffentlich die Möglichkeit nicht entgehn, in Zukunft mehr davon zu erwerben.
Ich höre mit Behagen meinem Wandergefährten zu, wie er sich als ganzer Bauer und Elsässer derb und frei ausspricht, dabei aber ohne den Ärger und den Groll des städtischen Altelsässers, der Deutschland nur vom Hörensagen, und von welchem Hörensagen! kennt. Mein Gefährte vertritt glücklicherweise Hunderttausende, die seit 1871 in der deutschen Armee gedient haben. Dies sind die besten Förderer des Verständnisses für deutsches Wesen. Ihnen jedenfalls ist es zunächst zu danken, wenn man in den kleinsten und letzten Dorfwirtshäusern das Bild des Kaisers findet, und in jedem Bauernhaus, wo es seit 1871 gesunde Söhne gegeben hat, eines der bekannten militärischen Aquarellbilder des Soldaten zu Pferd oder in voller Ausrüstung und in kriegerischer Stellung, oder eine der beliebten Gruppenphotographien mit dröhnenden Unterschriften wie »Kanonendonner ist unser Gruß« u. dgl. So wie die Elsässer als Soldaten das Lob ihrer Vorgesetzten haben, zählt man auch viele unter ihnen, die Soldaten mit Leib und Leben sind. Das wird sich noch mehr zeigen, wenn man ihnen das Dienen im Lande erlauben wird, das bis jetzt nur als Ausnahme zugelassen ist. Aus dem Munde eines Burschen im Kreis Zabern, der in der Garde gedient hat, habe ich die Äußerung gehört: Ich würde mich jeden Tag freuen, wenn die Gestellungsorder nach Berlin käme. Und diese Anhänglichkeit an die alte Garnison ist nichts vereinzeltes. Freilich kehrt der Elsässer immer wieder gern zu seiner Heimat zurück. Das ist ein tiefberechtigter Zug, den ihm niemand verübeln kann, der das oberrheinische Land kennt.
Wenn Hohe und Niedere in ganz Deutschland der »Zug nach Westen« ergreift und das Behagen an dem Leben in rheinischen Landen alljährlich Tausende von Ost- und Mitteldeutschen, manchmal sogar Österreicher, veranlaßt, sich dort eine neue Heimat zu gründen, wie sollte es nicht den Einheimischen dahin ziehn, wo seine frühen Erinnerungen ihm das sonnige Klima, die schöne Landschaft, das heitere Dasein und die ganze unbewußte Empfindung der Atmosphäre einer alten Kultur zurückrufen! In den Landen, die der deutschen Literatur die von Witz und Frohsinn schäumenden Werke von Fischart, Grimmelshausen, Abraham a Santa Clara, Hebel, Scheffel, Eichrodt, Stöber, Kobell, Nadler geschenkt haben, lachen die Menschen gern, laut und herzlich, und haben die Augen einen Würmern Ausdruck. Man freut sich mehr und ärgert sich weniger als anderwärts. Noch mehr als der Pfälzer und der Badenser liebt der Elsässer seinen derben Spaß, während er dem oft frostigen Wortwitz des Norddeutschen fremd gegenübersteht. In der Korporalschaft der französischen Armee war der Elsässer der »Lustigk.« In den trübsten Zeiten, die über Südwestdeutschland hingegangen sind, ist kaum in einem deutschen Lande so viel gelacht worden wie zwischen Schwarzwald und Vogesen. Das heitere Lachen der Mädchen, die neckenden Zurufe der Burschen gehören zum oberrheinischen Dorf. Fischart mag vielleicht in Mainz geboren sein – sein Geburtsort wird wohl nie mehr sicher bestimmt werden können –, jedenfalls hat er, sich als Elsässer und besonders als Straßburger fühlend, dem derben und tiefsinnigen Volkswitz in klassischen Werken seine Stelle in unsrer Literatur erobert. Er kann darin mit keinem besser als mit Johann Ulrich Megerle aus Kreenheinstätten bei Meßkirch (zwischen der Baar und dem Bodensee) verglichen werden, der als Abraham a Santa Clara der Vertreter desselben derbwitzigen und spottlustigen Volksgeistes in der Predigt und der Erbauungsliteratur war. Ein Zeitgenosse hebt besonders hervor, Megerle sei »kein geschwätziger, sondern ein tiefsinniger, beredter Schwab« gewesen. In Wirklichkeit ist seine Mischung von Derbheit, Fröhlichkeit und ernstem tiefem Sinn echt alemannisch und nicht ohne einen romanischen Beisatz.
Der Norddeutsche macht das, wie der Engländer in Frankreich, gern mit dem »Weinland« ab. Darin liegt es aber nicht allein, wieviel Wein, Most und Bier, dazu Kirschen- und Zwetschgenwasser erster Güte im Lande gern und verständnisvoll genossen wird. Auch nicht darin, daß die Leute weißeres Brot, besseres Obst und mehr Gemüse essen, und daß die Frauen schmackhaftere Speisen zuzubereiten wissen als die in Mitteldeutschland. Es liegt auch nicht in der ältern Kultur überhaupt, die ich indessen für kein leeres Wort halte. Der Kunsthistoriker Springer sagte mir einmal: Wenn ich in Straßburg ein Haus bauen sah, so merkte ich, daß die römische Überlieferung noch in jedem Maurergesellen lebt. Der Unterschied zwischen den Südwestdeutschen und den übrigen Deutschen liegt tiefer, er geht bis in die Blutmischung zurück. Wenn ich im Markgräflerland oder an den klassischen Stätten deutsch-französischer Kämpfe an der Lauter oder Sauer wandre, mutet mich die Bevölkerung eigentümlich an. Diese edeln Profile, diese dunkeln Haare und Augen, diese bräunliche Haut, die da unter fränkischen Langköpfen auftauchen, versetzen mich vielleicht nach Tirol oder ins südliche Kärnten, wo sich noch heute Germanen mit Romanen mischen. Kehre ich nach Osten zurück, so hören diese romanischen Züge bei Würzburg auf, häufig zu sein, so wie sie mir in Bayern jenseits des Lech allmählich verloren gehn.
Auf diesen Anteil romanischen Blutes, sei es römischen oder französischen Ursprungs, trifft der Deutsche aus Nord- und Ostdeutschland im ganzen Süden wie auf etwas Fremdartiges. Man hat an der Spree gar keine Ahnung, wie wenig oberflächlich die stille Abneigung gegen nordostdeutsches Wesen in Baden und die laute Opposition dagegen im Elsaß sind. Es ist nicht das Widerstreben gegen Maßregeln, sondern gegen einen fremden Geist. Die Gesetze, die man hier neu eingeführt hat, muß mancher Besonnene für trefflich anerkennen, mit dem Geist und den Sitten, die ins Land gezogen sind, setzt er sich viel weniger leicht auseinander. So ist auch im Politischen der demokratische Zug, den man besonders an den Zentrumsleuten der beiden oberrheinischen Länder tadelt, durchaus nicht bloß eine Meinung, die diese irgendwo und von irgendwem ausgenommen hätten. Nein, es ist ein angeborner Sinn für das Recht des Einzelnen, der sich den rauhen Forderungen des Staats widersetzt. Deswegen hat sich hierzuland eine freie Gesinnung unter den allerverschiedensten Verhältnissen wiedergeboren, erhalten und bewährt. Diesen Leuten liegt ein demokratischer Zug buchstäblich im Blute. Keine Zeitung und keine Partei braucht ihn zu lehren. Sie zeigen ihn auf dem Rathaus, nicht bloß im Ständehaus; sie bewähren ihn unter sich im täglichen Leben, nicht bloß vor der breiten Öffentlichkeit. Diese Gesinnung ist in andrer Form der Geist der Eidgenossenschaft.
Glaubt man, Baden sei das Land volksfreundlicher Einrichtungen, weil es einen liberalen Fürsten und eine aufgeklärte Bureaukratie habe? Das wäre sehr oberflächlich geurteilt. Es würde immerhin noch triftiger sein, wenn einer sagte: Ihr seid politische Optimisten, die sich die Ecken und Kanten der Wirklichkeit durch angenehme Selbsttäuschungen beschönigen. Aber nur ein dem Volke ganz Fremder würde glauben können, alles mit dem politischen Optimismus abgetan zu haben, der ja ohne Frage da ist. Ich halte es mit dem echt alemannischen Grundsatz: Was dem einen recht ist, das ist dem andern billig, und frage die Leute im Lande selbst, was sie von ihrer Politik denken. Da erinnere ich mich einer sehr beredten, wenn auch kurzen Aussage. Gerecht, wohlwollend und versöhnlich, so rühmt ein schönes Denkmal in den städtischen Anlagen von Donaueschingen den langjährigen Präsidenten der badischen zweiten Kammer, den Apotheker Kirsner, einen der einflußreichsten Politiker des badischen Landes. Es ist bezeichnend; das sind eben die Eigenschaften, die der Alemanne hochschätzt. Durch sie hat Kirsner, der dabei entschieden freisinnig im bürgerlichen Sinne war, mehr gewirkt als durch die Staatsmännischkeit und Klarheit, die ihm ebenfalls die Denkmalinschrift nachrühmt. Es dürfte in Preußen selten vorkommen, daß man einem Apotheker und Landtagspräsidenten ein solches Denkmal setzt, und das in einer Stadt, wo man sich vergeblich nach Fürsten- und Feldherrndenkmälern umschaut. Wohlwollen und Versöhnlichkeit wird man als große politische Eigenschaften nur bei einem Volke rühmen, das aus weicherm Stoffe gemacht ist. Und so in der Tat ist in diesem alemannischen Volkscharakter mehr Weichheit, als die so leicht erregten politischen Leidenschaften zu verraten scheinen. Der Volksmund kennt den Ausdruck »wehleidig« für eine Abstufung von empfindlich und hat auffallend zahlreiche Vergleiche für den Empfindlichen und Schüchternen, die z. B. dem derben Bayern fern liegen. Schon vor dem lauten, raschen Franken Nordbadens und der Pfalz zieht sich der Alemanne gern aufs Schweigen zurück. Der schweizerische Alemanne ist von härterm Stoff als der badische und besonders als der elsässische, vornehmlich in den Urkantonen und in Bern. Aber der behagliche Ton sogar der politischen Reden zeigt, daß auch er das weiche Gemüt des Alemannen hat, worin jene Eigenschaften wurzeln. Auf einer weisen, besonnenen Politik der Übereinkünfte ruht das Gedeihen der Eidgenossenschaft, und nicht klein ist die Zahl schweizerischer Staatsmänner, denen Denkmäler mit derselben Aufschrift zu setzen wären wie dem trefflichen Kirsner. Übrigens konnte die hohe Gestalt dieses badischen Landtagspräsidenten mit der breiten Stirn und den freundlichen braunen Augen darunter und dem beredten Mund, von dem die Worte wohltuend wie mit leisem Gesang flossen, als der klassische Typus des alemannischen Stammes gelten.
In der badischen Geschichte treten uns diese Züge bei Fürsten und Staatsmännern in allen Generationen entgegen. Sie haben den Markgrafen Karl Friedrich, der später der erste Großherzog wurde, zum Liebling des Volkes gemacht, das ihn noch heute nicht vergessen hat. Sie waren dem Großherzog Leopold eigen, den man den Bürgerfreund nannte. Und wer fände sie nicht in der sympathischen Gestalt des regierenden Großherzogs Friedrich wieder? Wenn auch die Badenser, die mit ihrem Großherzog politisch nicht im einzelnen übereinstimmen, mit Stolz auf ihn sehen, so ist darin das Gefühl bestimmend, in ihm den angesehensten und geschichtlich wirkungsvollsten Vertreter des badischen Wesens in diesem Jahrhundert zu haben. Er verkörpert schon in seinem edeln Äußern die milde billige Denkungsart, die der Badenser hochhält. Seine liebenswürdigen Formen im Verkehr mit Hoch und Niedrig und seine freundliche Nachgiebigkeit, die gepaart sind mit einem strengen Festhalten an politischen Grundsätzen von liberaler Färbung, machen ihn zum Ideal des badischen Politikers. Einem bayrischen Geschmack mag er nicht derb, einem preußischen nicht schroff genug erscheinen; für seine Untertanen ist er gerade so recht. Und er hat sie mit aller Milde fest gehalten auf dem Wege zur deutschen Einheit, auf dem er entschieden mehr Folgerichtigkeit bewiesen hat, als die große Mehrzahl dieser Untertanen, und größere Opfer gebracht hat, wie irgendein Einzelner unter ihnen. Man ahnt nur die Kämpfe, die ihn sein Rücktritt von der Stellung des obersten Kriegsherrn kostete, die von den Fürsten seines Ranges doch bis dahin als eine notwendige Folge der Landesherrschaft aufgefaßt wurde. Sachsen hat nach seiner Niederlage von 1866 nicht soviel verloren, wie Baden nach den Siegen von Straßburg und Belfort 1871 aufgegeben hat. Der König von Sachsen ist der Kriegsherr seiner Truppen, der Großherzog von Baden sieht neben sich einen Preußischen General das vierzehnte Armeekorps kommandieren, das fast ganz aus badischen Truppen besteht. Man hat in den siebziger Jahren viel von den Schwierigkeiten erzählt, mit denen der Großherzog zu kämpfen hatte, bis sich die militärische Nebenregierung in seinem Lande in den immerhin noch halb selbständigen Organismus des badischen Landes eingefügt hatte. Die warmherzigen Badenser ahnten damals nicht, daß sie mit dem Übermaß des Dankes und des Preises für die angeblich abgewandte, in Wirklichkeit so nicht vorhanden gewesene Gefahr der Invasion des Menschenknäuels, genannt Bourbakische Armee, dem ehrgeizigen General Werder den Kopf verdrehten. Werder suchte sich an seiner Befehlshaberstelle in Karlsruhe für vermeintliche Zurücksetzungen gegenüber andern Helden des Krieges von 1870/71 schadlos zu halten, wodurch in der kritischsten Zeit die Stellung des Großherzogs recht schwierig wurde.
Aus solchen Schwierigkeiten, die sich natürlich auf allen Stufen wiederholt haben, ist in Baden doch niemals eine dauernde Verstimmung zwischen Einheimischen und »Preußen« entstanden. Und das ist besonders lehrreich im Hinblick auf die elsässischen Verhältnisse, wo gleiche Ursachen zu ganz andern Wirkungen geführt haben. Man sieht, wieviel gegenüber angeblich unausgleichbaren Unterschieden des Volkscharakters der aus der Erkenntnis der Notwendigkeit eines Zustandes geschöpfte einfache gute Wille vermag. Es sind in Baden seit dreißig Jahren Tausende von preußischen Offizieren und Postbeamten, Universitäts- und Gymnasialprofessoren angestellt worden, weitere Tausende von Norddeutschen sind eingewandert und haben sich z. B. in dem schönen Freiburg so dicht angesiedelt, daß sie viel von dem alemannischen Charakter der Dreisamstadt samt der alten Billigkeit und Anspruchslosigkeit verwischt haben. Nicht immer ist das Auftreten der Fremden gegenüber den Einheimischen geschickt und klug gewesen, aber diese haben sich dadurch nicht hindern lassen, sich den Norddeutschen gegenüber, sogar wenn sie aus dem äußersten Nordosten kamen, als Landsleute zu zeigen, d. h. das gemeinsame Deutsche in den Vordergrund zu stellen und die immer doch verhältnismäßig kleinen Stammesverschiedenheiten zurücktreten zu lassen. Das ist das Gegenteil von der elsässischen Methode. Hoch und Niedrig hat sich in Baden vor allem bereit gezeigt, das Gute anzuerkennen, das man der preußischen Führung auf dem militärischen Gebiete verdankt. Sogar der Vergleich zwischen der Behandlung der Untergebnen durch badische und preußische Offiziere fiel für den gemeinen Mann nicht immer zugunsten seiner Landsleute aus. Man konnte schon 1870 badische Soldaten die ruhigere Art des Verkehrs rühmen hören, die preußische Offiziere mit ihren Soldaten pflogen; ganz richtig führten sie sie auf die allgemeine Wehrpflicht zurück.
In weiten Kreisen wirkten noch die Erinnerungen an das Sturmjahr 1849, wo das Großherzogtum wie ein Wrack auf den wilden Wellen einer überreizten Volksstimmung trieb; die Armee und ein Teil des Beamtentums hatten damals einfach versagt. Daß solche Zustände gerade in einem Lande von der ausgesetzten Lage Badens nicht wiederkehren durften, darüber war man überall einig. Die Demokraten, die die traurigen Erinnerungen an 1848/49 höchst kurzsichtig als rühmliche hochhalten wollen, mußten zugeben, daß die preußische Schulung mindestens zweckmäßiger sei als die badische, wenn sie auch zum Teil trotz 1866 über den Zweck einer Armee eigne Ansichten hatten. Der Herrschaft der Liberalen und später Nationalliberalen in Baden mag man manche Vorwürfe machen, sie hat jedenfalls redlich an der Annäherung zwischen Badensern und Norddeutschen gearbeitet. Nur die Kraft der nationalen Gesinnung, die sie mit Eifer nährten, hat so manche persönliche Verstimmung über Anmaßungen der norddeutschen Freunde überwinden lassen. Sogar die ultramontane Presse Badens, die eine kräftige, offne Sprache sehr liebt, läßt erkennen, daß Badens Lage ebenso wie die Gemütsart seiner Bewohner anders sind als die Bayerns. Der Ton des »Vaterlands« oder früher des »Volksboten« gegen Preußen ist hierzulande nie üblich geworden. Junge Heißsporne, die ihn anpflanzen wollten, mußten fühlen, daß auch in der politischen Polemik der fränkisch-alemannische Geschmack Maß und Grenzen liebt. Ihre Presse und ihre politischen Reden ließen den Widerwillen gewissermaßen nur durchscheinen, den ihnen die Preußische Hegemonie erweckte. Wo sie sich einmal deutlicher äußerte, wie in der Frage der Besetzung des Freiburger Erzbischofstuhles oder gegenüber unglaublichen Berufungen an die Landeshochschulen oder in der Frage der Selbständigkeit der badischen Eisenbahnen, hat ihre Opposition nicht selten ins Schwarze getroffen und ihnen auch bei Solchen Beifall gewonnen, die ihren Bestrebungen sonst lau gegenüberstanden. Dabei hielten aber die engen Beziehungen zum rheinischen Katholizismus und durch diesen zum Zentrum doch die Verbindungen nach allen Seiten offen, und eine Abschließung wie im Elsaß kam hier niemand in den Sinn. Man kann sagen, in Baden haben Freund und Feind daran gearbeitet, das Land fester in das Reich einzufügen, zwar aus sehr verschiednen Gründen und mit einem sehr verschiednen Maß von gutem Willen, aber immer doch mit demselben Erfolge.
Wie anders das Elsaß. Baden und Elsaß zeigen ja auch, wie ihre Lage es selbstverständlich macht, in der politischen Entwicklung manche Ähnlichkeit. Vor allem gehört die Erstarkung des Katholizismus in Baden und im Elsaß zu den großen folgenreichen Veränderungen in Süddeutschland. Beide sind sich auch darin ähnlich, daß ihre protestantischen Minderheiten bis in die siebziger Jahre einen überwiegenden Einfluß auf die Politik ausgeübt hatten, bis sich die katholischen Mehrheiten auf ihre Macht besannen und eine Herrschaft brachen, die wie alle Partei-, Sekten- und Kliquenherrschaft zuletzt tyrannisch, kleinlich, ausschließlich, kurz unerträglich geworden war. In Baden hatte der liberale Rückschlag gegen das geistlose reaktionäre Regiment der Stengel und Genossen, das sich mit dem Konkordat unmöglich gemacht hatte, und der Schwung der nationalen Idee im Anfang der sechziger Jahre eine aus Protestanten, liberalen Katholiken und Juden bestehende Kammer mit einer verschwindenden Minderheit von drei oder vier Ultramontanen zustande gebracht. Ich erinnere mich noch gut der Kammerverhandlungen, in denen der ultramontane Jakob Lindau aus Heidelberg, seines Zeichens Kleinkaufmann in Wolle und Baumwolle, wie ein Fels im Meere seiner Gegner aufragte, ein Hüne von Gestalt, ein Redner von Gottes Gnaden, der auch im bittersten Kampfe den pfälzischen Humor nicht verleugnete. Den liberalen Beamten und Professoren stand er als ein echter Volksmann gegenüber, der zuzeiten auch etwas Demagogie nicht verschmähte. Das rechtfertigt aber nicht, daß man ihn in der altkatholischen Bewegung, weil er den Kirchenschatz in sein Haus in Heidelberg gerettet hatte, um die Teilung zu verhindern, wie einen Dieb verurteilte. Das Gefängnis brach die Gesundheit des Mannes, dem in ruhigern Zeiten auch Feinde die Hand gereicht hatten.
Im Elsaß hatte das zweite Kaiserreich den liberalisierenden Protestantismus begünstigt, der durch seine schriftstellernden und wissenschaftlichen Talente, durch seine Beamten und nicht zuletzt durch seine Pariser Verbindungen einflußreich war – es war der unterelsässische und besonders der Straßburger Protestantismus Augsburgischen Bekenntnisses; die reformierte Insel von Mülhausen stand diesem fern. Ohnehin suchte das zweite Kaiserreich der von ihm selbst großgezognen Macht des Klerikalismus, als sie bedrohlich wurde, überall kleine Hindernisse entgegenzusetzen. Die Elsässer Katholiken hatten sich in den ruhigen Zeiten der fünfziger und der sechziger Jahre ähnlich wie die badischen darein gefunden, daß die Protestanten überall an der Spitze waren, so z. B. daß sie in der Verwaltung Straßburgs eine Art erblichen Vorrechts auf die ersten Stellen beanspruchten. Es schien ja die Stellung der Katholiken in dem katholischen Frankreich gesichert, wo das Departement des Niederrheins mit einem Drittel protestantischer Bevölkerung (jetzt 36 Prozent) überhaupt das protestantischste war. Der Übergang des Landes an Deutschland änderte plötzlich die Lage. Das Elsaß gehörte jetzt zu einem vorwiegend protestantischen Reiche, und seine Katholiken waren in der Minderheit. Zugleich fehlte die starke Hand des französischen Kaiserreichs, die auf ihnen gelastet hatte. Alles waren Gründe dafür, den elsässischen Katholizismus mobil zu machen. Vereine, Versammlungen, Zeitungen, Broschüren, Flugblätter: ein Leben wie nie zuvor. In kurzem waren die Verluste der Franzosenzeit ausgeglichen, die Abneigung im Volke gegen die neuen Herren und die Neigung derselben Herren, dem Volke im Bunde mit einer Macht, wie die katholische Kirche sie bietet, entgegenzukommen, forderten diese zu einem Doppelspiel auf, das in meisterlicher Weise durchgeführt wurde.
Nur politische Träumer mochten diesseits oder jenseits der Vogesen an ein tiefes Mitgefühl der Kurie mit dem niedergeworfnen Frankreich glauben. Italienischen Politikern, wie sie im Vatikan sitzen, eine solche Sentimentalität zutrauen, ist eigentlich eine Beleidigung. Die Realpolitiker sagten sich, daß eine Verstärkung der deutschen Katholiken durch eine Million unzufriedne Elsässer und Lothringer in einer Zeit nicht unwillkommen sein konnte, wo sich in dem jungen Reiche der Kern eines weitverbreiteten Widerstands gegen die Konzilsbeschlüsse von 1870 zu entwickeln drohte. Mit dem Protest war den Politikern des Papsttums nicht geholfen, die klerikalen Abgeordneten des Reichslands nahmen also die neue Lehre insoweit an, als sie ihnen die Möglichkeit bot, an der Seite des Zentrums die deutsche Regierung im Reichstage zu bekämpfen. Und dieselbe Regierung sah dann im Elsaß einen Fortschritt in dem Beginn einer, wenn auch feindseligen, Teilnahme an den Geschäften und in der Aufgebung des ohnehin zweischneidigen Protestes. So hat sich zu derselben Zeit, wo in Baden die nationale Hochflut eintrat, im Elsaß die Erstarkung des katholischen Sonderbewußtseins unter den günstigsten Umständen vollzogen, und dieses Bewußtsein hatte große Schritte in der politischen Bahn gemacht, als es in Baden erst anfing, selbständig gehn zu lernen.
Es ist selbstverständlich, daß die Protestanten von Straßburg und Mülhausen und die nicht zu den Ultramontanen eingeschwornen Katholiken auch die konfessionellen Zwistigkeiten, die nicht fehlen konnten, der deutschen Verwaltung in die Schuhe schoben und sie verantwortlich machten für das greifbare Wachstum des klerikalen Einflusses in der Bevölkerung. In Kolmar habe ich bittere Vorwürfe gegen sie wegen der Zulassung eines Kapuzinerklosters, der Gründung oder Stiftung des Bischofs Räß, in Siegolsheim im Kaysersberger Tal vernommen mit dem auch sonst zu hörenden Kehrreim: Das hätten die Franzosen nicht erlaubt. Wenn es gilt, der deutschen Verwaltung etwas am Zeuge zu flicken, wissen die Elsässer nicht jenseits der Vogesengrenze Bescheid, sonst hätte ihnen der Stich ins Spanische nicht entgehn können, den Kirche und Schule in Frankreich unter der Republik angenommen haben. Übrigens hat ihn ein scharfblickender Geist, wie Taine, schon vor einem Menschenalter kommen sehen. Man lese in Taines hinterlassenen Carnets de voyage, Notes sur la province 1863-65 (Paris, 1885) die Abschnitte über das in der Zeit der größten Blüte des zweiten Kaisertums schon bedrohlich gewordne Anwachsen des kirchlichen Einflusses auf den höhern Unterricht. Die Minister Napoleons erkannten die Gefahr, vermochten aber nichts gegen sie, weil ihr Herr vom Klerus nicht loskommen konnte, mit dessen Hilfe er Kaiser geworden war. Übrigens enthält das geistvolle Buch S. 147 und 332 interessante Schilderungen des damaligen Straßburg. Das Elsaß wäre von dieser Bewegung nicht verschont geblieben; hatte sich doch sein Klerus am engsten mit Frankreich verbunden. Schon äußerlich genommen ist ja auch die letzte Uniform, die Frankreich im Reichslande zurückgelassen hat, die der katholischen Geistlichen. Man kann nicht leugnen, daß sie Eindruck macht. Sie spielt sich sehr auf. Wo sonst das bekannte Paar Gendarmen mit den quergesetzten Dreispitzen und dem gelben Lederwerk paradierte, zeigen sich heute auf jeder größern Station der lange bis zu den Knöcheln reichende schwarze Rock mit der schwarzseidnen Schärpe, der breitkrempige Seidenfilz und die schwarzen, weißberänderten Bäffchen. Eine präsentable Uniform, die sich sehr zur Koketterie eignet, auch zur politischen, und vor allem den Vorzug aller Uniformen hat, den Korpsgeist zu heben.
Wie bescheiden, bürgerlich-bäuerlich macht sich daneben das Auftreten der badischen Kleriker, die man in Röcken von jeder Länge und in Hüten von jeder Form, auch im Schlapphut des Kunstjüngers, einhergehn sieht. Darin spricht sich nicht eine andre Mode, sondern eine gänzlich verschiedne Stellung in der Gesellschaft aus, und diesem Unterschied entspricht am letzten Ende auch die verschiedne Art von politischer Stellung und Geltung der klerikalen Parteien rechts und links vom Rhein. In Baden haben wir eine Opposition wie andre auch, nur stärker und folgerichtiger, die »mit und gegen« für das Wohl des Heimatlandes arbeitet; im Reichsland verkörpert sie einen fremden Geist, der sich dem, den Deutschland dort anpflanzen will, gänzlich unverwandt fühlt. Die Bedeutung der Abneigung der oberelsässischen Industriellen oder der Straßburger Sozialdemokraten verschwindet vor der der Klerikalen, die in Frankreich das Vaterland ihrer kirchlichen und sozialen Ideale sehen. Wer nun glauben wollte, daß etwa die protestantischen Geistlichen des Unterelsaß durch eine entsprechende Anlehnung an Deutschland eine Art von Gegengewicht bilden müßten, der irrte sich. Wohl gibt es hier deutschgesinnte Männer, aber es ist in diesem Stande zugleich auch eine andre Art von Französelei heimisch: die Bewunderung der Revolution, die republikanische Gesinnung in der Art, wie sie im französischen Protestantismus ja immer Boden gefunden hat. Ich habe sie in unterelsässischen Pfarrhäusern fanatisch entwickelt gefunden.
Ist es bei so vielen Gegensätzen zu verwundern, wenn in den Schichten, wo die Menschen gewohnt sind und die Zeit dazu haben, ihre Ansicht zu »kultivieren« und zur Schau zu tragen, Elsässer und Deutsche wie Fluß und Nebenfluß nebeneinander in demselben Bette fließen, ohne sich zu mischen? Ein angesehener ruhiger Mann, Wirt und Bürgermeister in einem vielgenannten Städtchen des Oberelsaß, von der Nüchternheit der Lebensauffassung, die dort die Leute gern von sich rühmen, schilderte mir die Schwierigkeiten, die ihm als Wirt die Abneigung zwischen Deutschen und Elsässern gemacht habe. Es sei besser geworden im einzelnen, aber noch immer habe er das Gefühl, als ob sie sich den Rücken kehren möchte», wenn sie gezwungen sind, an demselben Tische zu sitzen, » Que voulez vous? Die Lüt möge sich halt nit, sie gfallen einander zu schlecht.« Ja das Einandergefallen, darin liegt eben die Schwierigkeit. Auch Völler lieben und hassen, und die Politik irrt sich gründlich, die glaubt, dieses Imponderabile außer Rechnung lassen zu können. Es ist Tatsache, Elsässer und Altdeutsche fließen in den obern Schichten wie zwei Ströme nebeneinander, die sich nicht vermischen können. Die zahlreichen Verbindungen herüber und hinüber, die ein Vierteljahrhundert geschaffen hat, haben im einzelnen manches gebessert, diese Haupttatsache haben sie aber gar nicht berührt. Es ist eine beklagenswerte Schönfärberei, wenn deutsche Beamte bei allen Gelegenheiten die Gegensätze als ausgeglichen bezeichnen. Das nützt gar nichts. Eher schadet es unserm Ansehen, wie denn in diesem ganzen Verhältnis der Altdeutsche sich viel zu oft in die ungünstige Stellung bringt, daß er möchte, und daß der Elsässer nicht will. Außerdem leitet er Wasser auf des Gegners Mühle durch die große Beachtung, die er den kleinen und kleinlichen Gegnerschaften, Hänseleien und Schikanen schenkt. Wieviele Kindereien hat die reichsländische Polizei durch ihren Übereifer erst zu Staatsaktionen aufgebauscht!
Ich lege sonst kein großes Gewicht auf schweizerische Urteile über die Verhältnisse im Elsaß, denn wir sind ja den Schweizern unbequem, seitdem wir groß geworden sind, und am unbequemsten im Elsaß, wo wir auch alteidgenössischen Boden einverleibt haben. Aber ich mußte doch einem Basler Politiker Recht geben, der mir angesichts der Erinnerungen an die Selbständigkeit Mülhausens, die in dem Musée du vieux Mulhouse vereinigt sind, über den Verfall Mülhausens, nicht der Stadt und der Geschäfte, sondern der leitenden Familien klagte. Er meinte, der Rückgang habe allerdings schon mitten in dem größten Gedeihen unter dem dritten Napoleon begonnen, als das Elsaß allen andern Teilen Frankreichs voran die Erwerbung materieller Güter der Pflege der Freiheit und Selbständigkeit vorangestellt habe. Aber auch Deutschland habe, ohne zu wollen, dazu beigetragen, indem es sich in eine Politik der kleinen, nervösen Maßregeln habe hineintreiben lassen, die nur dazu gedient hätten, daß Deutsche und Elsässer sich wechselseitig das Leben sauer machten, worüber sie beide größere Ziele verfehlten, die sie zu verfolgen meinten. Ans meiner Beobachtung oberelsässischen Lebens konnte ich hinzufügen, daß es jedenfalls die Elsässer sind, die dabei am meisten verloren haben. Die Auswanderung des intelligenten und tatkräftigen Nachwuchses, der sich nicht entschließen konnte, sich in die bestehenden Verhältnisse einzuleben und sich ihre Vorteile zu sichern, hat gerade in den Industriegebieten des Oberelsaß am meisten dazu beigetragen, daß der Einfluß des einheimischen Elements so ziemlich in allen Beziehungen gesunken ist. Scharfsehende Deutsche haben schon vor 1870 eine gewisse partikularistische Verengerung des elsässischen Gesichtskreises beobachtet. Bei Besuchen in der Weißenburger und Lauterburger Gegend kurz vor dem Kriege im Sommer 1870 gewann auch ich denselben Eindruck, der meinen pfälzischen Freunden längst vertraut war, daß über dem Unterelsaß eine verschlafne Spießbürgerstimmung schwebe. Es war ein Mißverhältnis zwischen dem ruhmredigen Sichbekennen zur großen Nation und dem sichtlichen Bestreben, hinter den Vogesen als Bürger des glänzendsten Großstaats ein behagliches Kleinstaatsdasein zu führen. Ganz unbegründet erschien uns damals schon die Überhebung, mit der diese Biedermeier auf die kleinstaatlichen deutschen Nachbarn hinabschauten. Nicht bloß die Badenser und die Pfälzer haben unter der Geringschätzung ihrer stammverwandten Nachbarn zu leiden gehabt, auch die Schweizer hatten sich über so manche Überhebung ihrer elsässischen Nachbarn zu beklagen.
Wie wenig gut es aber den Bewohnern dieser beiden östlichen Departements tat, daß sie ein anscheinend gedeihliches, weil von den Strömen der Zeit viel weniger bewegtes und bedrohtes Dasein führten, als die Nachbarn überm Rhein und jenseits des Jura, das wußten sie selbst nicht. Die gewaltigen Enttäuschungen der Jahre 1870/71 haben sie vorübergehend aufgerüttelt. Aber nur die einsichtigsten Elsässer vermögen sich zu der Erkenntnis aufzuschwingen, daß ihre östlichen Nachbarn sie in vielen Beziehungen überholen. Es ist eine seltsame Verbindung von philisterhafter Selbsttäuschung und französischer Überhebung, die sie befangen macht. Dem unparteiischen Beobachter aber, der heute aus Baden oder aus der Pfalz oder von der Saar ins Elsaß kommt, ist es nicht zweifelhaft, daß dort drüben eine kräftigere Luft die Nerven stählt und die Augen heller macht. Ein bald dreißigjähriges Schmollen bedeutet eben einen gewaltigen Verlust an Schwung und Tatkraft. Die männlichen Eigenschaften gehn unter weibischer Empfindlichkeit und Launenhaftigkeit unter. An die Stelle der offnen Aussprache tritt der Klatsch. Man stichelt auf die Plumpheit, Geschmacklosigkeit, Rauheit der deutschen Sitten und übersieht dabei das wesentlichste, daß wir als das männlichere, durch Selbstzucht kräftigere, mit ernsten Aufgaben beschäftigte Volk dem verweichlichten, eines klaren Blickes in seine Zukunft baren Volke gegenübertreten.
Ein gebildeter Bürger im Unterelsaß zeichnete, ohne es zu wissen, sich und seine Landsleute, indem er von den Franzosen mit feiner Beobachtung sagte: »Der Franzos isch darin komisch, er isch zu ängstlich. Beim kleinste obstacle, das er uf seim Wäg findt, retiriert er. Der Dütsche goht par force drüber weg. C'est la raison: der Edmond About us Paris verkauft sein Ferme unterm Preis und goht hinter die Vogese zruck.« Der leise Tadel war mir ebenso interessant in diesen Sätzen wie die Sympathie des stark fühlenden Mannes für den schwachen. Viele Elsässer schätzten eben an den Franzosen gerade eine Art von Schlaffheit, die die Dinge gehn läßt, wie sie gehn, das gerade Gegenteil der preußischen Schroffheit und Rastlosigkeit. Es lebte sich so leicht damit. Jetzt hoffen sie sich in einem reichsländischen Sonderdasein etwas von diesem Stillleben zu erhalten, und der Ruf: Das Elsaß den Elsässern! hat bei der Masse keinen edlern Sinn. Aber die Regierenden in Straßburg werden hoffentlich nach so vielen Enttäuschungen einsehen, daß das ein ganz andrer Partikularismus wäre als der, dem wir sonst in Deutschland geneigt sind, ein Daseinsrecht zuzugestehn, und dessen sich einst auch unsre Landsleute zwischen Rhein und Vogesen erfreuen mögen.