Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Mit dem Wort oder vielmehr Gedanken stand ich bereits nicht mehr auf dem festen Boden des Vaterlandes, ich stand wieder auf meinen Seebeinen, auf den beweglichen Planken über dem großen Gewoge des Ozeans, und es blies mir ein sehr erfrischender Meerwind ins Gesicht.

»Ich gehe!« sagte ich, und – ich ging wirklich und wahrhaftig. Stille Vorwürfe ließ ich dabei außer acht, und für laute war ich ja immer noch in Afrika zu finden, und hätte da gern jedem Rechenschaft abgelegt, das heißt ihm dies, mein Schiffstagebuch, zu lesen gegeben.

Übrigens kostete es doch einige List und Mühe, bloß die Heiligen Drei Könige unverhindert hinter sich zu lassen. Nur durch etwas, was einer Bestechung recht ähnlich sah, gelang es mir, meine Rechnung sogleich und hinterm Rücken meines Herrn Wirtes zu erhalten. Es kostete mich Geld, aber ich fand einen dienstwilligen Geist, der mich des Hotelwagens überhob und mir mein Gepäck ganz verstohlen auf einem Schubkarren zum Bahnhof beförderte. Ich verkleidete mich nicht, ich schlug mir nicht den Theatermantel um die Ohren und zog den Schlapphut über die Nase herab; aber ich verzog mich auch nicht auf dem offenen, gradesten Wege, sondern entschlüpfte durch die Hinterpforte und den Hausgarten der Heiligen Drei Könige. Aus dem Garten brachte mich ein zweites Pförtchen in einen mir aus der Kinderzeit wohlbekannten, gottlob noch vorhandenen engen Pfad zwischen andern Gärten, Stallungen und sonstigen Hintergebäuden. Hätte ich Kienbaum totgeschlagen und wären mir die Häscher auf den Fersen gewesen, ich hätte nicht behutsamer verduften können; und ich pries es jetzt als ein wahres Glück für mich, daß sich in der Stadt doch verhältnismäßig wenig während meiner letzten Abwesenheit verändert hatte und ich mit dem alten Haus- und Ortssinn auch auf den weniger begangenen Wegen auskam.

Es war gegen neun Uhr, als ich nicht durch die Stadt, sondern um sie herum hinter den Gärten zum Bahnhof wanderte. Daß dieser Weg durch das Matthäiviertel führte, hatte ich bei meinem Wunsche, die Hauptstraßen zu vermeiden, nicht mit in Betracht gezogen und mich also nicht zu sehr zu verwundern über das Getümmel, in welches ich trotz aller augenblicklichen vorsichtigen Menschenscheu geriet.

Es wäre übertrieben, wenn ich sagen wollte, daß die halbe Stadt auf den Beinen war, um dem Begräbnis des Landbriefträgers Störzer mit anzuwohnen: aber ein gut Teil der Bevölkerung war doch versammelt in den Gassen und Gäßchen um seine Behausung her. Und darunter nicht bloß Fräulein Eyweiß mit ihrer Brunnenkruke, sondern auch mehrere Bekannte aus dem Brummersumm.

Daß man dastehe und auf den Zug warte, um dem Alten mit ein ehrenvolles Geleit zu seinem Grabe zu geben, äußerte niemand. Aber jedermann hatte gewiß das Recht, seiner Morgenbequemlichkeit oder seinen Geschäften ein paar Augenblicke abzuzwacken, um jetzt, im letzten Augenblick, einen Blick auf die schwarze Truhe zu werfen, die den augenblicklich merkwürdigsten Menschen, nicht bloß der Stadt, sondern auch der Umgegend auf weithin, barg. Sie wollten alle den guten, alten, dummen Kerl, diesen alten Störzer, der in seinen vierundfünfzigtausendeinhundertvierundsechzig Amts-Gehstunden mit seinem schweren Gewissen fünfmal um die Erde herum gewesen war, und der die ganze Stadt von oben bis unten so lange, lange Jahre hatte reden lassen, ohne ein Wort zu sagen – sie wollten ihn, Kienbaums Mörder – ihn oder wenigstens seinen Sarg doch noch einmal sehen!

Und schon bekam ich einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter: »Je, Eduard! Du mußtest freilich vom Kap der Guten Hoffnung mal nach Hause kommen, um uns hier diese Überraschung mit zu bereiten. Wir haben es gestern abend im Arm schon ziemlich zueinander gebracht, wie ihr – du und Schaumann, gestern auf der roten Schanze euren Gefühlen Luft gemacht haben werdet. Das war aber vortrefflich von dir, daß du dem Dicken endlich zu einer mitteilsamen, redefreudigen Stimmung verholfen hast. Dieser Stopfkuchen! Ja, so ist er immer gewesen! Ja, ja, du mußtest erst kommen, daß es so kommen konnte! Ohne dich, Eduard, hätten wir noch lange drauf warten können zu erfahren, wer eigentlich Kienbaum totgeschlagen habe. Und dieser alte Störzer: man weiß wirklich nicht, ob die Geschichte durch ihn unheimlicher oder sozusagen ganz gemütlich wird. Aber wie gesagt, hauptsächlich was sagst du zu Stopfkuchen? Ist er nicht göttlich? Ist er nicht immer noch ganz der alte?«

»Ganz der alte. So leicht verändern wir uns nicht. Aber du verzeihst: geht deine Uhr richtig?«

Der Freund sah nach ihr: »Auf die Minute. In zehn Minuten halb zehn.«

»Dann habe ich keinen Augenblick mehr zu versäumen. Der Zug nach Hamburg fährt in zwanzig Minuten ab!«

»Du reisest nach Hamburg?«

»Und ein wenig weiter. Ich reise ab nach Afrika. Es freut mich sehr, daß ich dich eben noch getroffen habe, um auch dir für diesmal aufs herzlichste Lebewohl zu sagen.«

»Aber Eduard? Eduard, du scherzest! wie kommt denn das so rasch, so plötzlich?«

Glücklicherweise kam in diesem Augenblick der kümmerliche, ärmliche Leichenzug um die Ecke und überhob mich der Antwort. Der so wunderlich aller irdischen Sühne entschlüpfte Totschläger ging dem Freunde doch noch mehr über allen Spaß als wie meine plötzliche Abreise. Das Schauspiel fesselte so sehr seine ganze Aufmerksamkeit, daß ich gleichfalls entschlüpfen konnte, nachdem auch ich dem Sarge meines ältesten Freundes in der Stadt noch einen letzten kurzen Blick hatte schenken können.

Dieser arme Sarg – jetzt mit einem Gefolge, das nur aus einer Frau mit einem Kinde auf dem Arm und einem an der Schürze bestand! ...

Sie hatten alle das Geleit verweigert, die sonst wohl dazugehört haben würden. Auch die kaiserliche Post hatte es nicht mehr für schicklich erachtet, ihre niedern Bediensteten dem alten Weltwanderer, dem guten Beamten, aber sehr verstohlenen Mordgesellen hinterdrein zu schicken; und sie war ganz gewiß dabei nicht im Unrecht, sie hatte vollkommen recht. »Nun, er hat es sich und dem unglücklichen Frauenzimmer ja schon gestern abend versprochen, hier an Kinder und Enkel zu denken«, sagte ich, den Bahnhof erreichend. Es ging grade ein früher Vergnügungszug südwärts durch, und es wimmelte von lustigen Fahrgästen mit grünen Zweigen an den Hüten, Liederbüchern in den Taschen, Futterkobern und Körben und allem, was sonst zu solchem beschwerdeschwangern Ausflug aus dem Alltag heraus gehört: ich hätte in kein richtigeres Getümmel für meine Stimmung hineingeraten können. So war die Welt!

Mit einiger Mühe gelangte ich in den nach dem Norden abgehenden Zug; aber es war keine unliebe Mühe, und ein Kind habe ich dabei nicht über den Haufen gerannt, auch keinem Weibe durch einen übereiligen Ellbogenstoß den Ausruf: »O mein Gott!« entlockt. Aber mich fest hinsetzend in gottlob der Wagenecke seufzte ich: »So, Stopfkuchen!« ... und fügte erst nach einer Weile hinzu: »Ja, im Grunde läuft es doch auf ein und dasselbe hinaus, ob man unter der Hecke liegenbleibt und das Abenteuer der Welt an sich herankommen läßt, oder ob man sich von seinem guten Freunde Fritz Störzer und dessen altem Le Vaillant und Johann Reinhold Forster hinausschicken läßt, um es draußen auf den Wassern und in den Wüsten aufzusuchen!«

Ein schriller Pfiff, ein Zischen, ein Schnaufen und Schnauben, ein immer beschleunigteres Atemholen und Ächzen, und die Heimatstadt mit allem geistigen und körperlichen eisernen Bestand des Menschen, mit Lebendem und Totem, mit Vater und Mutter, Onkel und Tante, mit Freunden, Schulmeistern, guten und bösen Kneipgesellen, mit Kirche und Markt lag wieder hinter mir. Und der Brummersumm, der Goldene Arm und die Heiligen Drei Könige und – Stopfkuchen auch.

Nein! der letztere doch nicht. Dafür zog sich doch mein ganzer Aufenthalt in der Heimat jetzt zu sehr um seine dicke Person zusammen seit dem gestrigen Tage. Sie konnten auch daheim, ohne sich unter ihren Hecken wegzurühren, was erleben und es in wundervoll erleuchteter, in lichter Seele zum Austrag bringen. Die Menschheit hatte immer noch die Macht, sich aus dem Fett, der Ruhe, der Stille heraus dem sehnigsten, hageren, fahrigen Konquistadorentum gegenüber zur Geltung zu bringen. Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, hatte dieses mir gegenüber gründlich besorgt. Ich fuhr wahrlich nicht ab und vorbei, ohne nach seiner Schanze auszusehen von meinem Eilzuge.

Anderthalb Eisenbahnminuten von der Stadt führte ja die Bahn unter der roten Schanze hin, und man hatte, einen Augenblick lang, einen recht guten Überblick über den Kriegsmaulwurfshaufen Seiner Hoheit, des Herrn Grafen von der Lausitz, Prinz Xaver von Sachsen. Wallböschung, Baumwuchs und Hausdach hoben sich scharf und klar ab vom blauen Sommermorgenhimmel, und mit schärfster, wunderlich wehmütiger und vergnüglicher Aufmerksamkeit wartete ich auf das Vorbeifliegen und das Abschiednehmen im Vorbeifliegen.

Und ich erfaßte alles nach Wunsch. Es waren nur zwei helle Pünktchen, aber sie waren da in der sonnenhellen, grüngoldenen Heimatslandschaft. Er stand auf seinem Wall in seinem Sommerschlafrock und hatte sein Tinchen bei sich – ebenso sicher wie seine lange Philisterpfeife. Sicherlich auch hatte seine Frau ihren Arm in den seinigen geschoben, und wenn sie nun endlich auch wußte, wer Kienbaum totgeschlagen habe, so wartete sie doch im vollen Verlaß auf ihren Heinrich das Anspülen jener Welt draußen ab, die gestern abend ebenfalls erfahren hatte, wer Kienbaum totgeschlagen habe. Sie genossen trotz allem, was ihnen aus der letztern Tatsache aufwuchs, den schönen Morgen. Es lagen da jetzt zwei, die man vordem hatte abseits liegenlassen, unter der Hecke, und blieben nun ruhig liegen, was auch die Welt, die Welt da draußen, zu ihrer unbegreiflichen Indolenz sagen mochte: »O dieser Stopfkuchen!« –

Hätte er eine Ahnung davon gehabt, daß sein »guter Freund Eduard« da unten an ihm vorbeifahre, so würde er sicherlich seine Pfeife in die Luft erhoben und seine Hauskappe geschwenkt haben. Und dann würde auch Frau Valentine Stopfkuchen, geborene Quakatz, ihr Taschentuch haben wehen lassen. Die aber würde vielleicht dazu gesagt haben: »Das ist doch aber eigentlich unbegreiflich von ihm!«

Was mein dicker Freund Heinrich Schaumann anderes als »Hm!« hätte erwidern können, kann ich nicht sagen.

Vorbei die rote Schanze! aber doch ein Glück diese Sicherheit, daß sie ruhig liegenblieb, wo sie lag und wie sie lag; daß ich sie, wie sie war, im Gedächtnis behalten konnte: als einen sonnenbeleuchteten Punkt im schönsten Heimatsgrün.

Schon ersuchte mein Wagengegenüber mich höflichst, des Zuges wegen doch lieber das Fenster auf dieser Seite zu schließen, da der Wind von der Seite komme und das entgegengesetzte offenstehe. Da auch die Sonne als Hitzespenderin in das betreffende Fenster schien, kam ich gern dem Wunsch der Dame nach. Ich zog die Scheibe herauf und die blauen Vorhänge zusammen, und ich kann es nicht leugnen, daß mir die blaue Dämmerung ganz wohltat nach dem kurz-scharf-angestrengten Ausschauen in den scharf-hellen Morgen hinein mit seinem blendenden Gelb und Grün und den beiden winzigen Figürchen auf dem Walle der roten Schanze – nach dem letzten Ausgucken nach dem dicken Freunde und der lieben, guten Freundin Valentine Schaumann in der Jugendheimat! So etwas von Kohlenstaub aus der Lokomotive war mir so schon ins rechte Auge geweht.

Aber noch etwas will ich nicht leugnen: nämlich, daß mich das blaue Licht oder die lichtblaue Dämmerung, in der ich bei der Abfahrt von der Heimat die Augen schloß, um mich erst wieder an die rechte Beleuchtung zu gewöhnen, trotz dieser Gewöhnung dennoch bis Hamburg, bis auf das Schiff – bis in diese Stunde begleitet hat. Vernünftige Leute werden wohl sagen: »Ja, worauf fällt der Mensch nicht, um sich bei günstiger Fahrt und auf fast zu ruhiger See die Zeit zu vertreiben? Na, das ist eben Geschmackssache, nach was für einem Auskunftsmittel man in der Langenweile greift.«

Ganz etwas Ähnliches sagte der Kapitän, der eben herunterkam und meinte: »Wissen Sie wohl, lieber Herr, daß Sie das einzige Merkwürdige sind, was ich auf dieser Fahrt erlebt habe? Etwas von schlechtem Wetter kommt doch immer vor, aber diesmal nicht das geringste; denn den squall von neulich rechnen Sie wohl selber nicht. Da oben fangen wir jetzt an, nach dem Tafelberg auszugucken, aber, zum Henker, Herr, mir wäre es doch jetzt die Hauptsache, wenn Sie mich mal sehen ließen, was Sie diesen ganzen Monat hier auf meinem Schiff zusammengeschrieben haben.«

»Es würde Sie wirklich wenig interessieren, Kapitän. Die reine Privatsache!« sagte ich und klappte das Manuskript zu.

 

Als ich dann auch auf Deck stieg, um mit den anderen den Tafelberg aus dem Meer aufsteigen zu sehen, und als wirklich ein blaues Wölkchen am Horizont vom Schiffsvolk für den berühmten Berg erklärt wurde, mußte ich mich doch an die Stirn greifen und fragen: »Eduard, wie ist denn das? Du bist wieder hier?« –

Es dauerte noch anderthalb Tage, ehe wir landen konnten, und während dieser Zeit wanderte ich noch recht oft auf der Landstraße der Heimat mit dem Landbriefträger Störzer, und hörte den mit sonderbaren Seitenblicken auf die rote Schanze vom Le Vaillant und von dem Innern Südafrikas erzählen; zu aller froh-unruhigen Gewißheit: nun hängt bald dein Weib wieder an deinem Halse und dazu deine doppelschlächtige deutsch-holländische Brut dir an den Rockschößen:

» Vader, wat hebt gij uns mitgebracht uit het Vaderland, aus dem Deutschland?«


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