Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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»Jetzt noch nicht, liebes Kind. Nachher vielleicht noch einen letzten mit dem fremden Herrn hier zum guten Beschluß. Ja, ja, ja, ja, Eduard, was liegt doch alles zwischen des Lebens Anfang und Ende? Und wie klar und nett legt sich so alles auseinander und nebeneinander, wenn man mal dazukommt, es sich zu überlegen, wie die Sachen denn eigentlich möglich gewesen sind. Von dir, den dein Freund Störzer mit seinem Monsieur Le Vaillant nach dem Kaffernlande beförderte, rede ich nicht; von Störzer selber und dem Bauern Quakatz und seinem Tinchen und so ein bißchen beizu von mir ist die Rede. Und da sagte Störzer denn jetzt zu mir: ›Ja, ich bin's gewesen, und ich habe es die ganzen langen Jahre getragen, daß ich es gewesen bin, und daß sie nach mir vergeblich gesucht haben.‹ – ›Hm, und weiter haben Sie sich nichts dabei gedacht, als ob man Sie wohl finden werde, Störzer?‹ – ›O du meine Güte!‹ – ›An meinen armen Schwiegervater haben Sie zum Exempel nicht gedacht?‹ – ›O Gotte doch ja, Herre! aber nur so recht eigentlich nicht, liebster Herre! Es hat mir zwar wohl recht leid getan, wie er so um nichts und wieder nichts hat verkümmern müssen in seiner unverdienten Verlassenheit; aber ändern habe ich ja doch nichts dran können! Und er war dabei ja auch immer ein wohlhabender Mensche und hatte sein reichliches Auskommen und hat auch zurückgelegt. Das war doch ein Trost, und sie konnten ihm ja auch niemals viel anhaben von Gerichts wegen! Aber denken Sie nur ja nicht, daß es mir nicht immer ein Angehen gewesen ist, der roten Schanze von Amts wegen nahe zu kommen. Und wenn es möglich war, schickte ich auch immer einen andern mit den Briefschaften und der Zeitung hinein. Oh, Herr Schaumann, Herr Schaumann, von Amts wegen mußte ich ja auch tagtäglich, tagtäglich, tagtäglich da vorbei, wo – wo ich die Tat begangen habe. Von dem Elend half mir auch keiner; grade wie ich dem Andres auf der roten Schanze nicht von seinem Verdruß meinetwegen helfen konnte!‹ – ›Nicht helfen konnte, Störzer?‹ – ›Nein, Herr! leider nicht! denn es war gegen die Natur. Ach Barmherziger, wenn ich es nur ausdrücken könnte, wie ganz und gar es gegen meine Natur war!‹ – ›Eine saubere Natur, Störzer!‹ – ›Wie oft, Herr, habe ich dasselbe mir gesagt, hier, wo wir sitzen, auf den Knien, wenn ich den Busch und die Straße für mich allein hatte!‹ – ›Hier?‹ – ›Ja, hier im Papenbusch auf der Stelle, wo ich's ihm heimgezahlt habe, was er von Kindsbeinen an an mir gesündigt hatte. Wenn es über das rechte Maß dabei gegangen ist, so habe ich vor dem barmherzigen Gott die langen, langen Jahre schwer an der Verschuldigung und der Bangnis getragen. Es hat mir zu gar keinem Troste verholfen, was Kienbaum für ein Mensch und im besonderen gegen mich gewesen ist. Ich habe es aber auch ja erst am andern Tage vernommen, was meine Tat gewesen ist! Hätte ich ihn hier vor mir liegen sehen, hätte der Bauer von der roten Schanze, der Herr Schwiegervater, wohl nicht meine Schuld auf sich zu nehmen brauchen: da hätten sie mich ganz gewiß bei der Leiche gefunden und mich gleich mit sich nehmen können vor den Richter. Die eine Nacht zwischen dem einen Abend und dem einen Morgen hat es gemacht, daß mich mein Gewissen doch verhältnismäßig in Ruhe gelassen hat, daß aber dafür mir und dem Herrn Papa die schwere, schwere Lebenslast aufgelegt worden ist.‹ – ›Hm, hm, Störzer, es läßt sich hören, was Sie da sagen; aber ein etwas zu gemütliches und jedenfalls sehr bequemes Gewissen ist's doch, was Sie in Ihrer Brust tragen. Ihre Posttasche da könnte ungefähr dieselben Gefühle wie Sie für den Inhalt der Briefschaften in ihr hegen.‹ – ›Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen, Herr Schaumann, und wie es in so schrecklichen Sachen mit anderen ist, weiß ich auch nicht; aber eines weiß ich, daß es ja nun heraus ist und durch Ihre gütige Vermittlung die Menschheit sich ja nun wird beruhigen können. Und was den lieben Herrgott angeht, ach Gott, so muß ich mich in bitterer Reue damit vertrösten, daß er Kienbaum gekannt hat und mich in meinen jungen Jahren auch gekannt hat und besser als ein anderer Bescheid weiß, wie es gekommen ist.‹ – ›Jawohl, aber besser Bescheid möchte doch auch ich jetzt darum wissen.‹ – ›Was Sie nachher mit mir machen wollen, das liegt ja nun ganz bei Ihnen. Um mich selbst ist es mir nicht mehr – Kinder und Kindeskinder müssen aber zusehen, wie sie sich mit dem Geruch, den der alte Großvater ihnen hinterläßt, abfinden. So ein oder zwei Jahre fehlen wohl noch an der Verjährung. Ich dachte, ich brächte es noch bis dahin! aber das ist nun eben wieder mal ganz anders gekommen. Also, wenn auch nur des Herrn Schwiegervaters wegen, tun Sie, was Sie müssen, Herr Schaumann, und für recht halten!‹ – ›Darüber später. Erzählen Sie jetzt, wie die Sache war und sich zugetragen hat.‹ – ›Ach, das ist es ja grade, daß da gar nicht viel zu erzählen ist, so schlimm es auch ausgegangen ist. Es ist nicht einmal über ein Mädchen oder über Geld und Geldeswert, wie es sonst zwischen anderen zugeht, zwischen uns beiden hergekommen. Es hat sich nur bloß gemacht durch den bösen Feind, wie es sich hat machen sollen. Wir sind nämlich in einem Alter, Kienbaum und ich, und haben in zwei Wiegen gelegen, die sozusagen Wand an Wand standen, und sind miteinander aufgewachsen und haben einer den andern ganz genau kennenlernen können. Es war nicht viel an ihm, Herr Schaumann, und es ist mir diese lieben langen Jahre durch manchmal wenigstens ein kleiner Trost gewesen, wenn ich dieses Wort über ihn auch aus anderer Munde habe vernehmen dürfen.‹ – ›Ein sauberer Trost, unglückseliges Menschenkind!‹ – ›Jawohl, unglückseliges Menschenkind! da haben Sie recht; aber dafür und dessenungeachtet und grade darum hat man wohl das Recht, jede Tröstung auf dem schweren Wege mitzunehmen. Herr, Herr, wie hat mir der meine Wege schwer gemacht von Kindsbeinen an, von Schulwegen an bis auf diese königliche Landstraße hier! Er ist es gewesen, der mir von der Schulbank an von allen Menschen am meisten den Unterschied zwischen Armut und Wohlstand und zwischen einer langsamen Besinnlichkeit und einem hellen Kopf mit Bosheit und großem Maul zu erkennen gegeben hat. Herr, Herr, sein Blut klebt an mir, und ich will es heute noch durch meines gerne abwaschen, wenn das so wie jetzt so von selber sich macht, ohne mein Zutun: aber Herr, Herr, er – Kienbaum muß auch für das Seinige aufkommen, was er mir an Angst vor ihm und Zorn und Wut und Verdruß gegen ihn von Kindsbeinen an fast tagtäglich aufgelegt hat. Denn der liebe Herrgott hatte ihn ja auch in seinem Beruf nachher auf die Chaussee gesetzt als reichen Viehhändler. Herr, wenn da an jeder Ecke ein früherer alter Raubritter auf mich und meine Briefschaften gelauert hätte, hätte es nicht schlimmer sein können, als sich ewig sagen zu müssen: ›Gleich kommt wieder Kienbaum angefahren und bietet dir die Tageszeit auf seine Weise.‹ Herr Schaumann, Sie sind hier als ein guter, stiller Mensch bekannt, und ein stiller Mensche bin auch ich mein Lebtage gewesen und für mich hingegangen, und habe alles gehen lassen und auch ihm jahrelang seine Briefe in Gleimekendorf ins Haus getragen und mir von Amts wegen seinen Gift- und Hohnspott gefallen lassen, bis mir in der Schreckensstunde hier, hier im Papenbusch sein und mein Schicksal, und des Herrn Schwiegervaters kummervolles Schicksal auch, auf den Hals gefallen ist. Herr, Herr, und so wahr ich lebe, nur durch mein halbes Zutun und ganz durch den schrecklichen Zufall! Daß es nur ein Zufall gewesen, ist das weiß der höchste Richter und hat mich auch wohl nur dessentwegen doch in ein verhältnismäßig ruhiges hohes Alter kommen lassen; und das ist denn so mein zweiter Lebenstrost gewesen bei Gewittersturm und Hagel, Schnee und Hitze auf der Chaussee, tagein, tagaus mit sich selber allein und seinen Gedanken. Ja, Herr Schaumann, jeder macht sich dies auf seine Weise zurecht. Nicht wahr, Sie machen es sich auch eben auf Ihre Weise zurecht, was nun Ihre Pflicht gegen mich und Ihre liebe Frau und den alten Quakatz und Kienbaum ist?‹ – ›Ich wollte freilich, Ihr lieber Herrgott hätte einen andern damit betraut, Störzer!‹ – ›Oh, lassen Sie sich das nicht anfechten: ich bin bereit, da es jetzt so mit der Offenbarung gekommen ist. Heute – morgen – übermorgen! Und es soll mir kein irdischer Gerichtsherr beim Verhör eine Lüge nachsagen. Darauf lege ich Ihnen schon jetzt einen heiligen Eid ab.‹ – Stopfkuchen mit Storzhammel im Beichtstuhl als Beichtvater und -kind, mein guter Eduard! – ›Was soll man machen‹, seufzt das letztere, das Beichtkind, ›wenn man eigentlich ohne jegliche Wehr und Waffe gegen jeglichen Schlingel von Jugend auf geboren ist? O Gott, Gott, Gott, es ist ja gewißlich ein Mord gewesen, den ich an Kienbaum begangen habe; aber es gehört eben alles dazu, im kleinen und allerkleinsten wie im groben und allergröbsten, was mir der Mann als Junge und junger Mensch und Mannsmensch angetan hat. Und mir hat Kienbaum so ziemlich alles angetan, was kein Junge vom andern erträgt! Wenn seine Püffe und Knüffe beim alten Kantor Fuhrhans mir an der Haut haftengeblieben wären, so wäre heute kein weißer Christenflecken mehr an mir, sondern alles blau, grün und gelb. Und wenn die Wuttränen, die ich hinter ihm drein verschluckt habe, jetzt ausbrächen, so gäb's drei Eimer voll! Ich habe Ihnen wohl vorhin gesagt, es sei über kein Mädchen hergekommen, aber dabei ist doch eines gewesen. Nämlich beim Militär. Als wir zwei beim Militär auch vom Herrgott wie aneinandergenagelt waren. Ich wollte nichts von ihr, aber ich habe sie ihm, mit seinem Kind bei sich, aus dem Wasser geholt, in der ganzen Garnitur Numero zwei, und es wäre besser gewesen, ich hätte sie drin gelassen, die zwei armen Geschöpfe. Um die Alimente hat er sich nachher weggeschworen, und so ist das Kind unter der Hecke verkommen und sie im Zuchthause. Aber davon will ich gar nichts sagen; denn im Grunde ging das mich doch eigentlich weiter nichts an als im allgemeinen menschlichen Gefühl. Aber sein Wohlstand! ... Ich habe auch vorhin bemerkt, daß es nicht um Geld und Geldeswert zwischen uns zum Schlimmsten gekommen ist, und das verhält sich auch so. Ich war ihm nichts schuldig und er mir nichts. Doch daß ihn sein Geschäft und Reichtum auf die Landstraße führen mußte, das war das Böse. Daß der Viehhandel das Richtige für ihn war, wenn auch nicht immer für seine Käufer und Verkäufer, das ist sicher; aber weshalb konnte ihn der liebe Gott denn nicht auf eine andere Weise zu seinem Besitz kommen lassen und mußte mich mit ihm immer tagtäglich, tagtäglich, tagtäglich mit seinem Hohn und Spott und Stolz zusammenbringen? Er hatte den Hof in Gleimekendorf gekauft, mitten in meinem Amtsberufsbezirk, und so mußte er an mir vorbei, aufgepustet zu Pferde oder zu Wagen – an mir zu Fuße. Unsere jungen Herren auf der Post haben es sich schon lange vorgenommen, sich es mal auszurechnen, wie oft ich jetzt zu Fuße um die Welt gelaufen bin. Damals mochte ich nach meiner Berechnung wohl einmal drum herum gewesen sein, aber es genügte, wenn mir tagtäglich so ein Halunke begegnen mußte, der von seinem Wagen, wenn er Sie von hinten treffen kann, Ihnen auch mit der Peitsche einen Schnipser gibt und im Davonjagen Sie hohnneckt: ›Bäh, bäh, Storzhammel! lauf dich zum Teckel, bring mir die Lujedors und hol dir deinen Briefgroschen; Kienbaum ist mein Name!‹ Herr Schaumann, damit geht es denn bis einmal zum Überfließen. Und zum Überfließen ist es gekommen; und wenn es nicht so eine schauderhafte Tat wäre, wäre gar nichts Besonderes dran. O du lieber, barmherziger Himmel, wovon hängt es doch ab, daß der Mensch seine ruhigen Lebensstunden und Nächte und sein reines Gewissen behält oder sie sich oder einem andern wie Ihrem Herrn Schwiegervater, Herr Schaumann, für sein ganzes Dasein verderben muß? Grad so ein schöner Abend wie heute war's. Bloß ein bißchen gewitterschwüler als wie heute. Und ich hatte einen sauern Tag gehabt – die Tasche voll und dazu ein halb Dutzend Geldbriefe, was mir immer das Beschwerlichste gewesen ist, von wegen der Verantwortlichkeit und genauer Eintragung und nachheriger Abrechnung im Büro. Ich fühle es durch alle Knochen, wie ich von Kräften bin, und schleiche her und komme hierher in den Papenbusch, als die Dämmerung sich eben ins Gehölz genistet hat. ›Der ewige Jude bist du doch nicht, Störzer‹, sage ich mir. ›Fünf Minuten wird's ja mal Zeit haben‹, und da faßt mich der Teufel, oder der liebe Herrgott will's, und ich setze mich die fünf Minuten hier auf den Grabenrand: o hätte mir doch der Himmel lieber fünf Minuten vorher einen durchgehenden vierspännigen Heuwagen über den Leib gehen lassen! Und: ›jetzt fehlte dir bloß noch Kienbaum bei deinem jetzigen Kaputtsein‹, muß ich auch noch sagen. Und in dem nämlichen Augenblick muß ich auch noch aufhorchen; denn dort um die Ecke her kommt Räderwerk, und ich höre schon von weitem, wie einer auf seine Gäule haut und schreit: ›Verfluchte Karnaljen!‹ Da fährt's mir giftig durch: ›Na, da haben wir das Vergnügen schon!‹ und ich wußte, daß mir heute wieder mal gar nichts von meinen Molesten geschenkt werden sollte. Ich mache mich auch auf alles gefaßt; aber, ich fasse diesmal in der Gewitterluft auch nach meinem Stocke neben mir und sage mir: ›Störzer, im Notfall sei mal 'n Mann und wehre dich gegen den höhnischen Grobsack!‹ Aber auch dies kommt anders, wie meistens bei solchen Gelegenheiten. Als mich Kienbaum sitzen sieht, zieht er die Zügel an und hält mit seinem leeren Viehwagen. Ich denke: ›Na, heute hat er's gut im Sinne‹, und so ist's auch gewesen. Er hat mal ausnahmsweise einen noch Schlauern als wie er gefunden. Wie sich nachher ausgewiesen hat, Ihren Herrn Schwiegervater, den Bauern von der roten Schanze, Herr Schaumann. Der Ochsenhandel ist nachher vor Gericht breit genug getreten worden als Indizium gegen den Bauern Quakatz von der roten Schanze. Daß der Herr Schwiegervater, nach dem Geschäft am Morgen, am späten Abend auf dem Wege nach Gleimekendorf gesehen worden ist, das war das zweite Indizium, wie Sie wissen, Herr Schaumann. Es hatten zu viele in der Stadt, im Blauen Engel, vernommen, wie sie sich um Mittag einen Schuft, Halunken und Spitzbuben um den andern an die Köpfe geworfen haben; aber an wem soll's denn nachher so ein Mensch wie Kienbaum, wenn er die unterste Hand im Spiel gehabt hat, besser auslassen, als an so einem wie ich? ich bitte Sie! ... Ihr Herr Schwiegervater und er haben sich nicht mehr im Papenbusch getroffen, aber auf mich, seinen Storzhammel, trifft Kienbaum daselbst – hier – hier – an diesem Platze grade zur richtigen Stunde für seine Gefühle. Er hält seinen Wagen an, und ich bin aufgestanden und habe meine Tasche zurechtgerückt und meinen Stock fest gefaßt. Ich sehe ihn in der Dämmerung sein Gesicht auf seine Weise verziehen, und da schreit er mich schon an: ›Richtig, Storzhammel! Na, sitzt er wieder und brütet anderen die Eier aus? Hast dich heute mal wieder für fünf Groschen zum Teckelhund gelaufen, du Blödbock? Nimmst es mir doch nicht übel? sind ja die besten Kameraden von der Schulbank und dem Regiment her! Da – reich mir die Hand, mein Leben!‹ und damit haut er mit seiner Peitsche, was er nach seiner Manier für einen guten Spaß hält, nach mir hin, daß sich die Schwippe mir um den Arm legt und mir einen blutigen Striemen über die Hand zieht. So arg hatte er's wohl nicht im Sinne gehabt; aber was nun kam, das mußte eben dadurch kommen. Ich lasse den Stock fallen und greife im Schmerz nach ihm auf dem Erdboden; aber dafür kommt mir, barmherziger Gott, an seiner Statt der nächstliegende Feldstein in die Hand. Gedacht hab' ich mir nichts bei dem Wurfe, und gezielt habe ich auch nicht; aber getroffen hat es – durch Gottes und des Satans Willen. Ich sehe, wie der Mann nach der Seite schwankt und den Zügel schüttelt. Die Pferde ziehen an, der Wagen fährt an mir vorbei in die nächtliche Dämmerung hinein. ›Nimm's mit nach Hause und leg eine kalte Messerklinge drauf, du Lump!‹ rufe ich nach. Ob er es noch vernommen hat, kann ich nicht sagen. Meine Meinung ist nachher in mancher bangen Nacht und Stunde gewesen, daß er's nicht gehört haben kann. Es ist mir trotz meiner Wut wohl etwas kurios, daß er mit seinem Kurs nicht auf der Straße nach Gleimekendorf bleibt, sondern rechts um, dort in den Wald- und Holzweg nach der roten Schanze einbiegt, aber geachtet hab' ich in meiner Wut auch nicht weiter drauf, sondern bin nach Hause gegangen und habe bis nach Hause an meinem wunden Handgelenk gesogen wie ein geschlagenes Kind. Was dann nachher sich herausgestellt hat, Herr Schaumann, wissen Sie ja selber ebensogut als ich. Sie wissen, wie die Gäule auf dem Holzwege in den Schlenkerschritt gefallen sein müssen und auch wohl stundenlang ganz stille gehalten haben, bis sie sich auf dem Feldwege um Mitternacht nach Gleimekendorf auf ihren Hof und vor ihren Stall gefunden haben. Da kommen sie mit Laternen und gucken in den Wagen und finden Kienbaum im Stroh, und die Doktoren haben es herausgekriegt, daß es ein Schlag oder Wurf an die linke Schläfe gewesen sein muß, der das Unglück gemacht hat. Alles steht in den Akten ganz genau, nur ich nicht. Ich komme nur beiläufig darin vor, als wie einer, den Kienbaum auch noch auf der Chaussee getroffen und mit dem er sich unterhalten hat. Ach Gott, Herr Schaumann, weshalb hat mich der Herrgott so geschaffen, wie er mich geschaffen hat, wenn er mir dies Schrecknis dazu schaffen wollte? Der Menschheit und Juristerei ist es nicht zu verdenken, daß sie in dieser Sache sich an Quakatz gehalten hat und nicht an den Landbriefträger Störzer. In seiner Natur und Stellung zu ihm lag's, Kienbaum totzuschlagen. In meiner nicht! Gott sei Lob und Dank, sie haben mich wenigstens nicht zum Zeugen gegen ihn, Ihren Herrn Schwiegerpapa, aufgerufen. Da hätte ich mein schweres Herz auf den grünen Tisch legen können; aber mich so nach angstvollen Nächten und einsamem Tagesmarsch von selber angeben – – ich habe es versucht, aber es ist nicht gegangen – ich habe es wollen, aber ich habe es verschoben – immer weiter verschoben, und so sind die Jahre hingegangen, und dem Bauern auf der roten Schanze ist es trotz seinem Verdruß immer besser ergangen. Die stille Angst, die stille Angst durch ein Menschenalter, Herr Schaumann! Mit jedem Briefe habe ich sie tagtäglich durch ein Menschenalter rund um die rote Schanze her und auf ihr den Menschen abgeben müssen und habe es doch nicht können – habe mich doch nicht selber angeben können als den Täter von der Tat, als Kienbaums Mörder. Herr, Herr, es ist zwar eigentlich zu spät, aber ich lege Ihnen kein Hindernis in den Weg – Sie brauchen mich nicht an der Schulter zu nehmen: ich folge gern und gutwillig, wenn Sie mich jetzt, heute abend, in die Stadt bringen und dem ersten am Tor sagen: ›Der ist's gewesen! er hat eben ganz von selber gestanden!‹«


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