Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Ohne Sturm oder gar Wirbelsturm sind wir bis jetzt glücklich durchgekommen. Aber gestern mittag ging plötzlich über den Hagebucher der Ruf: »Feuer auf dem Schiff!« und es blieb nur der Schiffskoch ruhig; denn er wußte es ja anfangs allein, woher der Brandgeruch stammte. Er wußte allein von dem alten wollenen Strumpf, welcher ihm unter seine Steinkohlen und auf seinen Küchenherd geraten war. Der nichtsnutzige Nigger hatte ihn im nordischen Hamburg noch am eigenen Fuße gehabt; aber unterm Äquator hatte er die schönen Reste davon eben entbehrlich gefunden.

Wie als wenn eben vom Haus her auch der Ruf: »Feuer! Feuer auf der roten Schanze!« erschollen wäre, war ich aufgesprungen und stand Frau Valentine aufrecht am Tische und hatte ihr Strickzeug weit von sich geschleudert.

»Ist es die Möglichkeit?« stammelte ich. »Frau Valentine –«

Die Frau stand nur bleich und wortlos und starrte aus weit offenen Augen auf ihren Mann.

»Es ist die Möglichkeit gewesen«, sagte dieser. »Es ist eine altbekannte Sache, auch der Dummste kann einen Zweck erreichen, wenn er nur seinen Dickkopf fest dran- und draufsetzt. Ja, Kinder, ich weiß es heute, wer Kienbaum totgeschlagen hat.«

»Aber deine Frau! So sieh doch nur deine Frau an! Mensch, hat denn deine Frau ebenfalls bis heute, wie alle andern –«

»Meine Frau erfährt von meinem Wissen in diesem Augenblick gleichfalls das erste Wort. Das kannst du ihr doch ansehen, Eduard. Aber so setze dich doch wieder, Tinchen! Liebes Herz, Alte, liebe, gute Alte, bleib doch ruhig! Erinnere dich, was wir ausgemacht haben. Erst wenn mir die Pfeife über einer Sache ausgeht, kommt an dich die Reihe, Jodute! zu rufen, mit den Beinen zu strampeln, die Arme aufzuwerfen und der Welt mit Tränen oder Grobheiten aufzuwarten. Kinder, tut mir den Gefallen und sitzt still!«

Wie es mit seiner Tabakspfeifenverabredung beschaffen sein mochte: dem Ausgehen war seine Pfeife eben doch nahe. Aber er brachte sie durch einiges Saugen daran richtig wieder zum hellen Brande, blies eine blaue Wolke in die liebe Sommerluft und – ja, kurz, war eben nicht ohne Grund von uns Stopfkuchen genannt worden! Da sein Weib sich wirklich wieder hinsetzte, blieb mir nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun.

»Heinrich!« murmelte angstvoll, flehend die Frau. Ich brummte unwillkürlich: »So gehe doch heraus aus dem Kasten, Ungeheuer!«, aber Stopfkuchen sagte stoßweise, immer noch an seinem Weichselrohr saugend: »Aber – Kinder – so – laßt mich doch – die Geschichte von der völligen Eroberung von Quakatzenburg in Ruhe erzählen, wenn ihr sie wissen wollt. Unterbrecht mich doch nicht immer! Diese ewige Aufgeregtheit in der jedesmaligen, eben vorhandenen Menschheit, bis sie sich hinlegt und tot ist! Fallt mir doch nicht bei jedem dritten Worte ins Wort, wenn wir bis zum Abendessen mit der Sache fertig sein sollen.«

Der Mensch sprach wahrhaftig vom Abendessen wie von der Hauptsache bei der Sache. Es blieb nichts übrig, als ihn faultierhaft in seinen Baum hinaufsteigen zu lassen; aber selbst für jemand, der auf allerlei Kreuz- und Querzügen rund um den Erdball auch das Seinige ruhig erlebt zu haben glaubte, wurde diese Kaltblütigkeit allgemach zu unheimlich.

»Herze, schenk mir noch eine Tasse Kaffee ein und gib Eduard auch eine. Du regst dich doch nicht auf, Kind? Welch ein wundervoller Tag hier in der Kühle mit der heißen Welt da draußen! So – noch ein Stück Zucker.«

Das arme Weib kam dem Wunsche nach; aber wie eine Traumwandlerin, wie eine Hypnotisierte. Auf den Topf und die Tassen blickte sie nicht –; nur immerfort auf den Mann, und zwar wie auf einen, von dem man nicht weiß, ob man ihn ferner liebbehalten oder sich vor ihm zu Tode fürchten soll.

»Ich bitte dich, Heinrich –«

»Tue das nicht. Du weißt doch, Kind, daß du das nicht nötig hast! Kenne ich nicht alle deine Wünsche im voraus? Ich sage dir, Eduard, nicht einmal an den Augen brauche ich sie ihr abzusehen, wie andere, gewöhnlichere gute Ehemänner. Du erfährst alles, Tinchen. Es tut ja nun niemand mehr Schaden und hilft keinem zu Schadenfreude, den alten, verjährten, muffigen Schrecken mit der Zange anzufassen, ans Licht zu ziehen und in der Sonne vorsichtig mit der Fußspitze umzuwenden. Übrigens steht es bei euch: Soll ich fortfahren, wie ich angefangen habe, oder wünscht ihr einen kurzen Aufschluß in drei Worten?«

»Fahre fort, Menschenkind!« mußte ich nun doch rufen, und die Frau sagte, mehr denn je wie im Banne gehend: »Ich kann nichts dagegen machen; es wird ja auch wohl das beste sein, wie du es verstehst.«

»Dann bleiben wir noch ein Weilchen in der Idylle und lassen Kienbaum Kienbaum sein, solange als möglich«, sagte Stopfkuchen. »Was sollen auch die versteinerten Gesichter? Ziehe ich euch eines? Nee, dafür hat man sich eben das schlechte Beispiel des Bauern auf der roten Schanze zur Warnung dienen lassen. An seinem Elend konnte man wohl lernen, ruhig, gleichmütig den Weltlauf an sich herankommen zu lassen. Natürlich mit einer Anlage hierzu muß einer auch in die Welt hineingesetzt worden sein: es braucht nicht jeder die Forsche zu haben, das neue Deutsche Reich aufzurichten, hinzustellen und zu sagen: Nun könnt ihr und so weiter ... Jawohl, lieber Eduard, laß nur jeden auf seine Weise heraus aus dem Hordenkasten gehen. Da war zum Exempel der Heinrich Schaumann, den ihr Stopfkuchen nanntet. Er hat wenigstens mal ganz und gar nach seiner Natur gelebt, hat getan und hat gelassen, was er tun oder was er lassen mußte –; ist es dann am Ende nachher seine Schuld, wenn in irgendeiner Weise doch etwas Vernünftiges dabei herauskommt? Gar nicht. Für diese Verantwortlichkeit danke ich ganz und gar. Da ich nicht in einer netten, saubern, durchaus behaglichen Welt leben kann: was kümmert's mich, ob ich in einer verständigen und vernünftigen lebe? Plato, Aristoteles, der selige Kant –«

»Mensch, Mensch, Mensch, mach mich nicht ganz verrückt!« rief ich, mit beiden Händen nach beiden Ohren fassend, und Stopfkuchen sprach lachend: »Siehst du, Eduard, so zahlt der überlegene Mensch nach Jahren ruhigen Wartens geduldig ertragene Verspottung und Zurücksetzung heim. Darauf, auf diese Genugtuung habe ich hier in der Kühle gewartet, während du mit deinem Le Vaillant im heißen Afrika auf die Elefanten-, Nashorn- und Giraffenjagd gingest oder dich auf andere unnötige Weise ab- und ausschwitztest. Also bleiben wir noch ein wenig in der Idylle, ehe wir von Kienbaum und wie der zu Tode kam weiterreden. Nachher magst du ja selber beurteilen, ob du deine, seine oder meine Geschichte für die wichtigere hältst. Sei nur ruhig, Tinchen, und verlaß dich auch heute noch einmal auf deinen Mann! Du bist Partei, aber du weißt es ja: dein Mann nimmt immer deine Partei!«

 

Wir ließen also, da wir mußten, Kienbaum fürs erste noch ungerächt weitermodern und blieben in der Idylle.

»Ich glaube, ich habe dich schon einige Male aufgefordert, Eduard, meine Frau dir anzusehen; aber jetzt bitte ich dich von neuem: Guck sie dir noch einmal an. Wie sie da so niedlich sitzt! Kannst du es heute noch für möglich halten, daß sie einmal wie eine in eine Wildkatze verzauberte Jungfer, die auf ihren Erlösungsritter wartet, dagesessen hat? Mich brauchst du wohl ja nicht weiter drauf anzusehen: mein Rittertum fiel euch, und also auch dir, von früher Jugend an umfänglich imponierend in die Augen, und ihr habt's mich genug entgelten lassen. Aber die Narren haben mich doch unterschätzt. Sage du es ihm, Alte, wie viele Schock Leihbibliothekspaladine ich eigentlich in mir hatte und sie offenbarte, als du mir zum erstenmal gesagt hattest: ›Du, mein Vater mag dich, also besuche uns nur.‹ Nein, sage es dem guten Eduard lieber nicht, er benutzt sonst sofort die Gelegenheit, sich mir als bloß verleumdeter Pylades aufzuspielen und zu behaupten, er habe mich nie verkannt. Bleiben wir bei deinem Alten, Weib. ›Natürlich komme ich morgen wieder und nicht bloß eurer Birnen wegen. Dein Alter ist ein ganz famoser Kerl, und wenn der wen totgeschlagen hat, so hat der's dreidoppelt verdient gehabt. Mit seinem dicken Gesetzbuche und mit meinem Latein ist das natürlich nur dummes Zeug; aber mit der Kugel, die von der roten Schanze bis an unser Haus geflogen ist, nicht. Und wenn ich dem alten Schwartner erzähle, daß dein Vater mich in die rote Schanze hineingelassen hat, so schenkt er mir vier Groschen, und dann paß auf, dann gibt's hier auch Kuchen und nicht bloß Äpfel und Birnen. Morgen bin ich wieder da.‹

Da am folgenden Morgen weder Vater und Mutter noch der Klassenlehrer den Riegel vorschob, war ich wieder da. Na, Tinchen, und wer durfte gründlicher Triumph krähen: der Prinz Xaverius von Sachsen von der roten Schanze aus über die Stadt, oder Schaumanns dicker, dummer Junge von der Stadt aus über die rote Schanze?«

»Du!« sagte Frau Valentine, und zu mir sich wendend, fügte sie hinzu: »Es hilft uns nichts; wir müssen ihm seinen Willen und Weg lassen.«

Wir ließen ihm seinen Willen und Weg, und er watschelte auf dem letztern weiter, mit dem sichern Bewußtsein, uns in seiner Hand zu haben.

 

Erst stopfte er seine Pfeife von neuem, dann seufzte er: »Da die Welt von ihm, dem Schanzenbauer, nichts mehr wissen wollte, weil sie nicht genug von ihm herausgekriegt hatte, so suchte er, nach seinem angeborenen Menschenrecht, ohne sie auszukommen, so gut es ging. Eigentlich ging es schlecht, denn er steckte zu der Aufgabe weder in meiner Haut noch in meinem Gemüte. Er war viel zu dürr und viel zu lebendig und viel zu gesellig dafür angelegt. Die Rätsel und die harten Nüsse kommen nur zu häufig an den Unrechten. Was hätte es mir Feistling gemacht, unter dem Verdachte, Kienbaum totgeschlagen zu haben, durch die Welt zu vegetieren? Gar nichts! Oder die Sache würde sogar einen gewissen Glanz auf mich geworfen haben; denn die Welt würde sicherlich gesagt haben: ›I sieh mal! eigentlich sollte man es dem faulen Strick gar nicht zutrauen, und zu dumm ist der Bengel im Grunde auch dazu.‹ Aber der Vater Quakatz? Was blieb ihm übrig, um nicht ganz verrückt zu werden, als seinen Sinn und seine Gedanken auf allerlei Dinge zu richten, auf die vor ihm noch kein Bauer auf der roten Schanze gekommen war? Daß ich, Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, ihm dabei zu Hilfe kommen konnte, mochte Zufall sein, war aber unbedingt Schicksal. – Da war zuerst die Geschichte seiner Burg; und ich sagte ihm: ›Herr Quakatz, von hier aus hat der Prinz von Sachsen eine ganze Menge Menschen drunten in der Stadt ums Leben gebracht.‹

›Ja, Junge, in der Schwedenzeit.‹

›Nein, Herr Quakatz. So lange ist's noch gar nicht her. Im Siebenjährigen Kriege ist's gewesen.‹

›Kannst du mir welche mit Namen nennen, Junge?‹

›Nein, aber ich kann den Herrn Registrator Schwartner nach ihnen fragen und sie Ihnen bei ihm aufschreiben. Er hat sie alle schriftlich.‹

›Dann bring mir mal das Register mit heraus, Dicker. Aber sag nicht, daß ich es habe haben wollen. Sie möchten sich sonst wieder was denken.‹

Und an einem der nächsten Tage schon steckten wir statt über dem Korpus juris die Köpfe über meiner Abschrift aus der Sammlung des alten Schwartner zusammen, und der Bauer auf der roten Schanze suchte herauszubringen, welche Leute heute die Rechtsnachfolger der Totgeschlagenen von Siebenzehnhunderteinundsechzig waren und möglicherweise die Rechtsnachfolger des Grafen von der Lausitz darob verklagen konnten. Was für ein Trost damals für den Papa hierin lag, Tinchen, war mir zu jener Zeit dunkel. Heute glaube ich es zu wissen. Von den Knochen der jüngern Vergangenheit gingen wir sodann zu denen der wirklichen Vorwelt über; und groß und bedeutend für mich war der Tag, lieber Eduard, an welchem mich der Bauer Quakatz zum erstenmal in einen verschlossenen Stall führte und auf einen sonderbaren Haufen zeigend fragte: ›Was ist das, Junge?‹ Ja, was war es? Ein ziemlich vollständiges Mammutsgerippe war's, und – ›ich bin beim Kiesgraben hinterm Hofe draufgestoßen‹, sagte der Bauer; ›es liegt wohl noch mehr da; denn diese Schanze ist wohl so eine Anschwemmung von der Sintflut her. Junge, Junge, von der Sintflut her! Du weißt es nicht, wie es dem Bauer auf der roten Schanze zumute ist, wenn er in der Bibel von der Sintflut liest; aber wenn du in deinen Büchern über das Knochenzeug was hast, so bringe es auch mit heraus; aber sage keinem Menschen davon, welch einen versteinerten Drachen Kienbaums Mörder zu seinem Troste in seiner Kiesgrube gefunden hat.‹ – Ich habe keinem Menschen damals davon gesagt, welch interessanten Fund Tinchens Vater gemacht hat; aber wenn heute der Briefträger – nicht mehr Freund Störzer – nach der roten Schanze herauskommt, so hat er, außer der Zeitung, gewöhnlich irgend etwas von irgendeiner geologischen oder sonst in das Fach schlagenden Gesellschaft für Herrn Schaumann. Die Vorstellung, in einer spätern Schicht auch mal unter den merkwürdigen Versteinerungen gefunden zu werden, hat für den gemütlich angelegten, denkenden Menschen so viel Anregendes, daß sie ihn, und noch dazu wenn er Zeit dafür hat, unbedingt in die Petrefaktenkunde, in die Paläontologie führt. Und du brauchst bloß noch einmal die paar Schritte an die Brüstung unserer Schanze zu tun, Eduard, und dir die Umgebung noch einmal in Beziehung hierauf zu betrachten, um sie plötzlich auch noch nach einer ganz neuen Richtung hin höchst interessant zu finden. Zwischen der Trias und der Kreide nichts als Wasser, und die erste nächste Insel dort der blaue Berg im Süden! Wenn das Feuchte sich in der Eozänzeit etwas zurückzog, in der Miozänzeit es, was man jetzt nennt, trocken wurde, und wenn es in der Pliozänzeit sogar dann und wann hier über der roten Schanze schon staubte: so war das dem Bauer auf derselben ganz einerlei: der fragte nur danach, wer in der Welt etwas von seinem Verhältnis zu Kienbaum wußte oder gewußt haben konnte. Aber mir, dem heutigen Bauer auf der roten Schanze, ist es im Laufe der Jahre nicht einerlei geblieben. Der Doktor hatte Tinchen nämlich gesagt: ›Bei der Körperbeschaffenheit Ihres Herrn Gemahls gibt es gar nichts Vernünftigeres für ihn als diese Liebhaberei und sein Herumkriechen in Steinbrüchen und Kies- und Mergelgruben –; je mehr er bei seinem Knochensuchen schwitzt, desto besser ist's für ihn und Sie.‹ Und, lieber Eduard, wenn je ein Weib eine närrische Liebhaberei ihres Gatten gefördert hat, so ist es Valentine Quakatz auf diesen ärztlichen Ausspruch hin gewesen. O Eduard, in der Tertiärzeit soll es hier noch so heiß gewesen sein wie heute bei dir zu Hause im heißesten Afrika, und wäre ich damals hierhergekommen, so wollte und könnte ich ja gar nichts dagegen sagen. Aber ich bitte dich, erst in der Eiszeit – in der Eiszeit – ist unter den ersten Säugetieren auch der Mensch hier auf der roten Schanze aus Asien eingewandert – und da soll ein Nachkömmling von ihm heute im Sommer nicht schwitzen, wenn er pietätvoll und wissenschaftlich nach den ersten Spuren seiner Vorfahren hier um den Aufwurf des Prinzen Xaver von Sachsen herum nachsucht!«


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