Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Vor Jahren hatte ich weggeguckt; diesmal sah ich genau hin, wie sich die zwei den Arm um die Schulter legten und sich aneinanderdrückten und sich einen lauten Kuß gaben. Sie zierten sich diesmal gar nicht mehr vor mir; aber Heinrich hatte freilich heute auch eine glänzende Glatze, und in Valentinens Haar mischte sich hier und da ein vorzeitig silbernes Fädchen; aber hübsch war's doch, und es tat der Sache durchaus keinen Abbruch, daß Stopfkuchen ein bißchen fett war und seine kleine, gute, tapfere Frau der Aphrodite von Melos gar nicht glich.

»Ich sage Ihnen, lieber Herr Eduard«, sagte Valentine, ihre Haube unbefangen wieder zurechtrückend, »wenn ich mich jetzt als erwachsene, alte Frau in meinen Zustand als Quakatzens Mädchen von der roten Schanze zurückdenke und es mir überlege, wie es gekommen ist und wie es die Vorsehung angefangen hat, daß ich durch Heinrichs Bekanntschaft aus einem verwilderten Tier zur Ruhe und ins Menschliche hineinkam, so soll mir keiner meinen Glauben an den lieben Gott aus der Bibel und dem Gesangbuche streichen: auch selbst da mein Alter nicht mit seinen Knochen und Versteinerungen und seinen Briefen und Drucksachen von seinen gelehrten Gesellschaften. Und wenn er tausendmal nicht mehr an ein Wunder glaubt und eine höhere Regierung: zu einem halben Wunder muß er sich mit seinem wissenschaftlichen Besserwissen doch bequemen. Denn daß so ein Junge so einen segensreichen Einfluß auf so ein Frauenzimmer ausübt, von meinem armen seligen Vater dabei gar nicht zu reden, das ist doch nicht bloß ein halbes Wunder, das ist ein ganzes, ein doppeltes, ein dreidoppeltes! Sie haben es wohl gelesen, was er über unsere Haustür geschrieben hat: Gehe heraus aus dem Kasten. Das ist eigentlich dummes Zeug; denn das hat auf uns hier gar keine Beziehung. Ich habe darüber die Bücher Moses nachgelesen; es betrifft bloß die Arche Noah und den Vater Noah und möglicherweise noch seine Familie und seinen Tierbestand. Die Redensart hatte damals mein Heinrich auch noch nicht an sich. Vielleicht erinnern Sie sich noch an seinen damaligen ewigen Trost, Herr Eduard?«

Leider erinnerte ich mich nicht mehr, und Stopfkuchen sah mich nur erwartend, grinsend an und half mir nicht ein. Wenn ich ihm in unsern Schultagen »einhelfen« sollte, dann grinste er nicht; dann sah er anders aus als wie heute.

»Na, Eduard?« Das war das einzige, auf was er sich heute einließ.

»'Friß es aus und friß dich durch!' lautete seine damalige Redensart«, sagte Frau Valentine und ließ es in Ton und Ausdruck zweifelhaft, ob sie heute noch völlig ihre Billigung habe. Doch jetzt ergriff Schaumann, genannt Stopfkuchen, wieder das Wort und seufzte zwar nicht weich und elegisch, aber voll Behagen: »Und meinetwegen könnt ihr sie mir auch mal in Goldschrift auf meinen Grabstein setzen lassen. Natürlich ohne irgendwem die Möglichkeit zu nehmen, eine noch bessere zu finden.«

»O Gott«, seufzte seine Frau, »damals setzte er gewöhnlich noch hinzu: ›Es gibt keine andere, um durchs Leben zu kommen, Tinchen!‹«

»Meinst du nicht auch, daß alle anderen mehr oder weniger auf Schwindel beruhen, Eduard? Oder hast du in dieser Beziehung wirklich einige neue Erfahrungen vom alten nobeln Onkel Ketschwayo mitgebracht? Na, mal raus damit: was habt ihr dem Manne auf sein Heldengrab gesetzt, nachdem der brave Kaffer sein stolzes Königsleben aus- und sich durch euch Englishmen, Dutchmen und Deutsche Burengesellschaft durchgefressen hatte? Aber entschuldige, Schatz, ich meine dich, Madame Stopfkuchen, wir sind immer noch bei deiner Idylle und nicht der unseres teuern afrikanischen Gastfreundes.«

Die Frau Valentine warf mir einen Blick zu, der wieder nur bedeuten konnte: Wer kann wider Gott und Groß-Nowgorod? Es war gegen den Menschen nicht anzuerzählen. Sie gab es auf, nahm dafür ihr Strickzeug wieder und überließ ihren Dicken seiner Rednergabe und, wie sie sich ausdrückte, seinem doch bessern Verständnis. Daß sie wohl hoffte, auf diese Art am Ende doch noch etwas früher zu erfahren, wer Kienbaum totgeschlagen und das Lebenselend ihres Vaters dazu auf dem Gewissen gehabt hatte, trug wohl dazu bei, daß sie sich den Anschein gab, von jetzt an ruhig weiterzustricken.

»Ich sagte ihr also ganz einfach, wenn mal die Welt wieder ein wenig mehr als gewöhnlich die Katze gegen sie gespielt hatte oder, was auch vorkam, sie die Katze gegen die Welt zu spielen wünschte und mit ausgespreizten Krallen fauchend gegen sie anfuhr – bemerke beiläufig die sich hier ganz von selbst gebende, weich hinfließende Alliteration, Eduard –, ich sagte ihr also: ›Schatz, friß mich nicht; aber Mädchen, friß es aus und friß dich durch, und, bei Gott, ich helfe dir dabei!‹ Mit dem herzigen Wort und Rat nahm ich sie am Wickel, holte sie so peu à peu aus sich heraus und mir allgemach die ganze rote Schanze, den Papa Quakatz eingeschlossen. Wir fraßen es zusammen aus und fraßen uns durch, wir armen Würmer. Für alles, mit welchem ich meinerseits da unten in der Stadt und in eurer Schule nicht aus mir herauskommen durfte, hatte ich hier oben freisten Spielraum. Da entwickelte sich, was ich an Lyrischem und Epischem in dem hatte, was ihr da unten als mein gemütliches Fett zu bezeichnen pflegtet. Was ich an Dramatischem in mir hatte, ließ ich natürlich ruhig in dem, was ihr meinen Wanst benamsetet, latent bleiben. Das erfordert zu viel Kapriolen, Fratzen und Phrasen, und es ist, Gott sei Dank, immer noch hie und da einem gestattet, ore rotundo, seine Serviette, oder wie man itzo im teutschen Vaterlande sagt, sein Tellertuch unterm Kinn festzustecken und über seinen Sesquipedalien die Hände ineinanderzulegen und die Daumen umeinander zu drehen. Würde ich hier heute bei dem Tinchen, diesem Quakätzchen hier so sitzen, wie ich sitze, wenn ich der roten Schanze damals ebenfalls dramatisch gekommen wäre? Gewiß nicht, lieber Eduard! Diesem Kriegsaufwurf des Herrn Grafen von der Lausitz, diesem Punktum auf hiesiger Feldmark hinter dem Wort: Kindlein, liebet euch untereinander! war nur durch die Lyrik und Epik beizukommen, und das habe ich denn auch besorgt! was, Tinchen Quakatz? Ich kann es nur immer von neuem wiederholen, Eduard: ihr habt mich verkannt, die Schätze in meinem Busen lagen euch, offen gesagt, dummen Jungen viel zu tief. Dazu gehörte eben ein schlaues kleines Mädchen, um die heraufzuangeln. Du persönlich, Eduard, liefest höchstens mit deinem Freunde Störzer und bereitetest dich durch des alten Le Vaillants Geschichte von wilden Eseln, Giraffen, Elefanten, Nashörnern, sauberen Namaquamädchen und aus der Historie vom Bravsten der Braven aller Hottentotten Swanepöl auf dein Kaffern-Eldorado vor. Den biedern Buren Klaas Baster wirst du wahrscheinlich allmählich auch gefunden haben und ihn in sentimentalen afrikanischen Stimmungen an den Busen schließen; aber den biedern Heinrich Schaumann hast du jenerzeit auch nicht gefunden, sondern ihn nur mit den übrigen von uns als Stopfkuchen unter der Hecke belassen. Verzeihe die Abschweifung: bei dem Bauer Quakatz und seinem verwilderten, zerzausten Kätzchen, da erklang die Zauberharfe; da griffen die Geister der roten Schanze hinein und entlockten ihr die Töne, welche euch europäischen gezähmten Eseln, Affen und Rhinozerossen, so das fürstliche Gymnasium alle Nachmittage um vier aus dem Kulturpferch herausließ, auf, wie ihr euch freundlich ausdrücktet, auf kompletten Blödsinn hinzudeuten schienen. Oh, Eduard, wenn ich heute, jetzt endlich doch einmal zu dem Genuß käme, ein theatralisches Interesse an meiner eigenen Person zu nehmen! Aber damit ist es selbst heute, heute, wo du wieder da bist, nichts! Ich kriege es nicht fertig, und so bleibe ich ohne Arm- und Beinschlenkern sitzen, wo ich mich hingesetzt habe: auf der roten Schanze. Mach nur keine Gesichter, Tinchen; ich bleibe bei der Sache. Du weißt es ja; wie närrisch ich reden mag, ich bin immer bei dir. Da sei nur ganz ruhig; kein Kind hält sich so krampfhaft fest am Rocke seiner Mutter, wie ich mich an deiner Schürze und – Eduard hat ja heute bei uns gegessen und wird mir also einmal in seinem Leben beistimmen – vor allem an deiner Küchenschürze! Ja, lieber Eduard, kein Winkel im Hause, kein Fleckchen im Garten, kein Mauerwerk, keine Bank, kein Busch und Baum und, wieder vor allem, kein Viehzeug auf der roten Schanze, die nicht allgemach ein lieber Schein und Schimmer überlief aus dem Robinson, aus dem Ferdinand Freiligrath, aus den Gebrüdern Grimm, dem Hans Christian Andersen und dem alten Musäus! Ich war feist und faul; aber doch nun grade, euch allen zum Trotz, noch vor meiner Kenntnisnahme des Weisen von Frankfurts bester Table d'hote ein Poet ersten Ranges: der Begriff war mir gar nichts; ich nahm alles unter der Hecke weg, mit dem Sonnenschein des Daseins warm auf dem Bauche, aus der Anschauung! Es zog einer den andern in seine Kreise oder vielmehr in seinen Kreis: Tinchen mich, ich Tinchen. Aber an dem Tage, an welchem auch der Papa Quakatz hinter mir zum erstenmal fragte: ›Wie war die Geschichte, Junge?‹, da hatte ich ihn ebenfalls beim Wickel. Erinnerst du dich noch, Valentine? Es war die Geschichte von den beiden unüberwindlichen, kugelrunden Müllern, die sein Interesse erweckte. Ja, dahin hatte es die Welt mit ihm und Kienbaums Morde gebracht, daß er auch so einer hätte sein, und so sich wappnen mögen. Ein Wams mit Kalk und Sand und, zur Verbindung, mit geschmolzenem Pech gefüttert, hinten und vorn beblecht mit alten Reibeisen und Topfdeckeln, darunter drei bis vier Hemden, darüber neun lodene Röcke; zur Abwehr und zum Angriff zwei Spieße, eine Armbrust, ein Zweihander, eine Manneslänge lang, und auf die Wirkung in die Ferne ein Bogen mit Pfeilköcher!«

»Ja, ja«, seufzte Frau Valentine, »und endlich eine Wohnung in einer Wüste hinten an der Welt! Ach ja, und wenn auch er nicht gestorben wäre, so lebte auch er heute noch, wie die Märchen endigen. Der arme, arme, liebe Vater! Und er, er hätte es sicherlich nicht ertragen, daß du uns so lange darauf warten läßt, wer an seiner Statt Kienbaum totgeschlagen hat! für wen er, er, der Arme, Arme, durch sein ganzes Leben hat unschuldig büßen müssen!«

In diesem Augenblick wurde die arme Frau abgerufen, und Stopfkuchen benutzte die Gelegenheit, um mir zuzuflüstern: »Hoffentlich bleibt sie uns jetzt fünf Minuten vom Halse. Vom Papa spreche ich, jetzt im Vertrauen ganz offen gesagt, am liebsten hinter ihrem Rücken, wenn ich einmal davon sprechen muß. Und sie hat es auch eigentlich nicht gern, wenn ich in ihrer Gehörweite wirklich mal aufrichtig an meine innerste Meinung über ihn anstreife.«


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