Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In diesem Augenblick trat Frau Valentine wieder einmal aus dem Hause, kam aber diesmal mit ihrem Arbeitskörbchen und setzte sich zu uns, indem sie ihren Stuhl dicht an den ihres Mannes rückte.

»Nicht so nahe auf den Leib, Kind!« seufzte Stopfkuchen. »Ist das ein gedeihlicher Sommer! Guter Gott, die Leute draußen auf dem Felde, die keinen Schatten haben, oder sich doch nicht in ihn hineinlegen dürfen! Wir sind nämlich eben im Schatten der roten Schanze angelangt, Eduard und ich, und ich erzähle ihm grade, wie du mir zum erstenmal den Kopf, das heißt dasmal die blutende Nase gewaschen hast und wie ich ein Held war, und wie gern unser seliger Papa die Mäuse hätte laufen lassen und die ganze Menschheit vergiftet hätte.«

»Lassen Sie sich nur nicht zu argen Unsinn von ihm aufreden«, sagte Frau Schaumann freundlich, indem sie ihre Nadel ruhig einfädelte. »Manchmal ist er auch heute noch ganz in der Stille zu allem fähig, gerade wie als dummer, kleiner Junge. Nun, Sie kennen ihn ja, Herr Eduard!«

»So wie das Weib kommt, geht die Kritik und der Zank los!« sprach Heinrich, mit ausgebreitetstem Bauch und Behagen seinem Weibe die Hand auf den Kopf legend. »Das arme Wurm! wenn es mich mit meinen Dummheiten nicht gefunden hätte! Nun, wo waren wir denn stehengeblieben, Herr Eduard?«

»Unter dem Birnbaum. Wahrscheinlich unter jenem dort.«

Wir sahen alle drei nach der Richtung hin, und Frau Valentine nickte nachdrücklich.

»Richtig«, sagte ihr Mann. »Sie saß drin und ich saß drunter. Sie pflückte und ich fraß. Eduard, ihr habt meiner körperlichen Anlagen wegen meine geistigen stets verkannt. Ihr Schlaumichel, Schnellfüße, gymnastische Affenrepublik hattet keine Ahnung davon, was in einem Bradypus bohren und treiben kann. Mit der Krabbe, dem Mädchen da, war ich im reinen. Die war nunmehr meine Freundin und meine Schutzbefohlene, und ich ihr Schutzpatron, ihr Sankt Heinrich von der Hecke; das war ja selbstverständlich –« –

»Lieber Mann –«

»Liebe Frau, und ebenso selbstverständlich, ich will lieber sagen folgerecht, kam jetzt – unterbrich mich nicht immer, Alte –, kam jetzt der Alte dran. Und da machte sich die Sache denn natürlich auch. Ihr, Eduard, hieltet mich für dumm und gefräßig; er hielt mich wohl auch für gefräßig, jedoch aber auch, meine allgemeine Unschädlichkeit dazugerechnet, für ein Licht in einem gewissen Teile des Dunkels, das sein Leben umgab, sein armes Leben, Tine!«

Die letzten paar Worte waren so gesprochen, daß sein Weib doch den Stuhl wieder dicht an ihn heranrückte. Sie legte auch ihre Hand auf die seine, und er schlug den Arm um sie und sagte noch einmal: »Tine, meine alte Tine Quakatz!«

Dann wendete er sich wieder zu mir, und ich wußte jetzt schon den Wechsel im Ton zurechtzulegen.

»Nämlich am nächsten Tage nach der Heckenschlacht fand ich mich natürlich zum zweitenmal in Registrator Schwartners Zauberreich, und diesmal saß ich im Baum, einem niedern Apfelbaum – dem dort. Und diesmal stand Tinchen darunter mit aufgehaltener Schürze, und wieder stand der Alte plötzlich da und sah stumm zu mir hinauf, und das Wetterglas schien auf Sturm zu weisen. – ›Vater, er will nur unsere Befestigung verstudieren‹, sagte Tinchen, vielleicht doch auch etwas zaghaft. ›Er kommt mit den Geschichtsbüchern von der Belagerung her, und sie haben sein Haus von hier aus beschossen.‹ – ›Komm lieber doch erst mal da herunter‹, sagte Vater Quakatz. Und wie rasch selbst ein Bradypus, ein Faultier, von einem Baum herabsteigen kann, das bewies ich jetzt. Da stand ich vor Kienbaums Mörder, und wenn ich nicht erwartete, nun gleichfalls totgeschlagen zu werden, so war doch auch Tinchen der Meinung: der alte Herr werde wenigstens über den Graben ins freie Feld deuten und mit Nachdruck sagen: ›Jetzt scher dich.‹ – Es kam aber anders, er sagte nur: ›Meinetwegen‹; was sich doch nur auf mein Verstudieren seines Anwesens beziehen konnte. Nachher dachten wir, er werde sich nun wieder nach seiner Art umdrehen und weggehen; aber auch das kam anders. Er blieb und fragte: ›Du gehst auf die Lateinschule?‹ – ›J, j, j, ja, Herr Quakatz!‹ – ›Kannst du es lesen? das Lateinische meine ich.‹ – ›J, j, ja‹, stotterte ich und dachte an nichts Böses. – ›Dann teilt euch die Äpfel, und nachher komm mal in die Stube. Du sollst mir was aus dem Latein übersetzen.‹ – Da saß ich denn freilich fest drin. So hatte ich das Wort vom Lateinlesen nicht verstanden. Da rufe ich den gelehrten Afrikaner, den Eduard, zum Zeugnis auf, wie gründlich ich von Papa mißverstanden worden war, Frau! Wer aber in der Falle sitzt, der sitzt drin; und nach einer unheimlichen, zögernden, apfelkauenden Viertelstunde noch draußen saß ich noch mehr drinnen, saß ich mit dem verfemten Mann von der roten Schanze in seiner Stube, unserer heutigen Eßstube, Eduard, der Stube da, die du in ihrer damaligen dumpfigen Ungemütlichkeit bei unserm Jünglingsabschied kennengelernt hast, Eduard. Da mein Zögern dem alten Herrn zu lange gedauert hatte, war er noch mal in den Garten gekommen, hatte mich am Oberarm gepackt, in seine Mörderhöhle geführt und mich am Tische unter dem Groschenbild von Kain und Abel auf die Bank gedrückt, und zwar mit den Worten: ›Was schlotterst du, Junge? ich schneide dir den Hals nicht ab.‹ – Nachher ging er zu einem Schrank, ich habe ihn heute durch meinen Koprolithenbehälter ersetzt, nahm ein dickes Buch in Schweinsleder hervor, legte es vor mich hin auf den Tisch, nachdem er eine Weile darin geblättert hatte, setzte er sich zu mir, wie zu einem erwachsenen Mann und Rechtsanwalt, setzte den harten, knochigen Zeigefinger auf eine Stelle und sagte: ›Hier, Lateiner! Mache du das mir mal auf deine Art deutsch klar – ein Wort nach dem andern. Es ist das Korpus juris, das Korpus juris, das Korpus juris, und ich will es mal von einem auf deutsch vernehmen, der noch nichts von dem Korpus juris, von dem Korpus juris weiß!‹ Die Stelle war mit Rotkreide kräftig unterstrichen, und ein Ohr war ins Blatt eingeschlagen, und alles deutete darauf hin, daß hier öfters ein vor Aufregung zitternder Daumen und Zeigefinger gestanden hatten. Ich aber saß vor dem Buch und rieb mir weinerlich mit den Handknöcheln die Augen: so weit waren wir noch nicht in der Schule, daß wir dem Bauer Andreas Quakatz das Buch aller juristischen Bücher hätten auslegen können. Und wie in der Schule mich duckend, stotterte ich endlich: ›Herr Quakatz, bloß wenn ich die Worte wissen sollte, müßte ich mein Wörterbuch hier haben, und das habe ich unten in der Stadt.‹ – ›Dann hole es und bringe es morgen mit heraus. Ich bin ein Narr, daß ich so mit dir rede; aber die Welt hat mich ja so gewollt, und du bist mir grade so gut als wie ein anderer, wenn ich zu einem über meine Sache reden will. Es ist aus, ich will keine Gelehrten, keine Afkaten, keine Großgewachsenen mehr bei mir und meiner Sache. Du sollst mir klug genug sein, daß ich auf dich hereinreden kann, wie zu einem Vernunftmenschen. Die Alten, unsere Vorfahren haben es auch so gemacht, daß sie sich an die Dummen und Unmündigen gehalten haben. Junge, Junge, meine Tine sagt, daß du herausgekommen bist, um die rote Schanze zu verstudieren. Verstudiere sie, und kriege es mir heraus, wer recht hat, die Welt oder der Bauer auf der roten Schanze! Du hast dich meiner Krabbe aus Gerechtigkeitsgefühl angenommen – ich habe es hinter der Hecke vom Wall mit angesehen – nun will ich's mal daraufhin probieren, ob es wahr ist, wie es geschrieben steht: In den Mäulern der Unmündigen will ich der Wahrheit eine Stätte bereiten. Kriegst du es mir heraus, wer Kienbaum totgeschlagen hat, so schenke ich dir und dem Herrn Registrator Schwartner die rote Schanze mit allen Historien vom Siebenjährigen und Dreißigjährigen Kriege und ziehe ab von ihr mit meinem Kinde und dem weißen Stabe in der Hand. Das Mädchen erzählt mir, sie lassen dich auch allein sitzen: so probiere es, kriege heraus, wer Kienbaum totgeschlagen hat, und ich verschreibe die rote Schanze dir und allen deinen Rechtsnachfolgern.‹ – Ja, ja, Frau Valentine Schaumann, geborenes Quakätzlein, so ging er mit allen deinen Rechtsansprüchen an die Welt um; aber wenn ein unzurechnungsfähiger, gefräßiger, weichfüßiger Bradypus imstande war, dir zu dem Deinigen in ihr zu verhelfen, so bin ich das gewesen, Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen. Zuerst aber winselte ich den Bauer von der roten Schanze noch einmal an: ›Herr Quakatz, ich weiß doch gar nicht, ob ich es kann. Ich bin bei der letzten Versetzung wieder nicht mit nach der Obertertia gekommen.‹ – ›Probier's!‹ sagte der zukünftige Schwiegervater, und sein Töchterlein stieß mir den Ellbogen in die Seite, als wolle sie sagen: ›Tu auch mir den Gefallen‹; und als wir wieder draußen im Garten standen, flüsterte sie mir zu: ›Sei doch nicht so dumm, er weiß ja selbst vor dem schlimmen Buch nicht, was er will. Es ist ja auch nur, weil er keinen, keinen, keinen hat, außer den Afkaten, die er nicht mehr will, mit dem er reden kann. Und morgen redet er dich wohl gar nicht mehr drauf an: es ist ihm just eben nur so in den Sinn gekommen, weil du ihm als Gelehrter in den Weg gekommen bist. Bring du dein dickstes Buch mit heraus. Er kann dich ja jetzt hier auf unserm Hofe sehen, und du kannst zusehen und es probieren, was du für uns herauskriegst.‹ –

Na ja, Frau, du kannst es dem Eduard eigentlich viel besser berichten, wie ich dann so von Zeit zu Zeit herausgekommen bin nach der roten Schanze, um endlich ganz dazubleiben. Daß ich dem Mordbauer auf der roten Schanze nicht das Korpus juris ins Deutsche übertragen habe, das steht fest. Aber das steht auch fest, mein Herz, mein Kind, du altes, gutes Weib, und du afrikanischer Freund, daß ich es beiläufig und fast ohne mein Zutun herausgekriegt habe: wer Kienbaums Mörder gewesen ist – wer Kienbaum totgeschlagen hat.«


 << zurück weiter >>