Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Der Gruß galt einem draußen in der Gasse unter dem Fenster Vorbeiwandelnden, und dieser hielt verwundert an: »I, Herr Schaumann, auch mal wieder am alten, guten Ort? Nun, das ist brav. Na, denn halten Sie mir den Platz fest; ich denke, in einem halben Stündchen ist unser Stammtisch wieder so ziemlich vollzählig beieinander.«

»Ich reichte den Spaten dem mir jetzt Nächststehenden und sah in ein sehr merkwürdiges Gesicht. Den Spaten hätte ich ebensogut ins Leere reichen können. Er fiel zu Boden und wurde erst von einem Nachdrängenden, dem Ortsvorsteher, aufgegriffen. Der, dem ich die Höflichkeit hatte erweisen wollen, war unter das Volk, das heißt unter die Weiber und Kinder zurückgewichen und hatte sie, meine Höflichkeit meine ich, wahrscheinlich nicht bemerkt. Mich aber durchfuhr es: ›Was ist das? was soll das?› und dann: ‹Bist du verrückt, Stopfkuchen, oder kann dies wirklich etwas zu bedeuten haben?‹ – Es hatte niemand außer mir, auch meine Frau nicht, im Kreise um das Grab des Bauern von der roten Schanze bemerkt, daß eben etwas Absonderliches geschehen sei, daß einer die drei Schaufeln für den Toten mit dem Zeichen Kains auf der Stirn verweigert habe.«

»Herr Schaumann!« klang es hinter dem Schenktische, und ich hörte trotz aller eigenen Erregung das Mädchen die Hände zusammenschlagen.

»Und du, du, Heinrich, was tatest du?«

»Ich? Ich führte fürs erste meine Frau nach Hause. Für diese armen Würmer ist's wirklich nichts, so blind, betäubt, verbiestert durch ihre Tränen in solche Grube auf den erdkloßüberhäuften Sarg hinunterzugucken und lange dabei stehengelassen zu werden. Ich hatte doch vor allem ihr erst das zu sagen, auf was man einem liebsten Menschen gegenüber unter solchen Umständen an Kirchhofsgemeinplätzen angewiesen ist. Maiholzen half mir übrigens dabei mit bestem Willen. Sie wollten alle auf dem engen Wege zwischen den Gräbern uns die Hand drücken, und einige kamen auch und redeten: ›Herr Schaumann, wenn es Ihnen und der Frau recht ist, so lassen wir alles nun vergessen und begraben sein. Es ist ja ganz richtig, wie der Herr Pastor sagte, zu scharf soll keiner mit dem andern ins Gericht gehen, und alles in allem genommen, hatte der Selige doch auch seine guten Seiten, und mancher hätte sich da ein Muster an ihm nehmen können.‹ Darauf antwortete ich denn höflich, und dann überschritten Tinchen und ich, Gott sei Dank, den Graben des Herrn Grafen von der Lausitz und waren also wieder in unserer Schanze, und die Welt lag draußen, und im Hause war es still, und kühl unter den Bäumen. Und die Hunde kamen, und in ihren Augen lag ein gewisser Vorwurf, daß sie nicht mit zum Grabe genommen worden waren – sie. Und Miezchen kam und rieb sich zärtlich an Frau Valentine Schaumann, einer geborenen Quakatz. Und Valentine sank in der dämmerigen Eßstube auf einen Stuhl und schluchzte sich weiter aus. Die halbe Dämmerung und die Kühle mußten aber doch auch ihr wohltun nach dem hellen, heißen Licht auf dem Friedhofe.«

»Und du, du – du?«

»Ich? Nun was sollte ich denn anders tun, als sie sich ausweinen lassen und sie dabei von Zeit zu Zeit sanft auf den Rücken klopfen? Als sie dann in die Küche hinausgerufen wurde, stopfte ich mir natürlich eine Pfeife und überlegte.«

»Du überlegtest!«

»Was sollte ich denn anders tun? Auf was anderes ist denn ein Mensch angewiesen, den man unter der Hecke hat liegenlassen? Vor allen Dingen ruhig Blut, sagte ich mir! Zeit nehmen, Stopfkuchen! und fünf Sinne zusammen, Dicker! ... Ja, was war das nun? Hast du wirklich da etwas gesehen? Der? ... der? Dieser brave alte Biedermann und Dummkopf? Die Sache ist eigentlich zu dumm, und es wird einem selber immer dummer, je mehr man darüber nachdenkt. Einfältig und gutmütig genug sieht er freilich aus; aber das hindert nicht bei dergleichen. Hm, die Kraniche des Ibykus über dem Maiholzener Dorfkirchhofe? Großartig wäre es, wenn jetzt eine Schaufel Erde weniger in die Grube es dir zuwege gebracht hätte, in die Welt zu schreien: Hier ist er! der ist's! Fort mit ihm zum Prytanen! – – Hm, hm, aber der? Zu dumm! das reine Friedhofs-Morgensonne-Gespenst! weiter nichts, dicker Schaumann! ... Dann aber wieder: du hast aber doch etwas gesehen, und nicht bloß gesehen, sondern auch gefühlt. Was steckte in der plötzlichen tauben Empfindung im Magen, dem Summen und Glockengeläut in den Ohren und dem scharfen, klaren, geistigen Ruck: Da, da, da! Jetzt, jetzt, jetzt!? ... Sollte sich nicht auch einmal unter deiner Speckhülle etwas melden, was – na, Eduard, der Überlegung war das doch wert: mir ging glücklicherweise die Pfeife dabei aus, und ich hatte sie wieder anzuzünden.«

»Du hattest sie wieder anzuzünden.«

»Es ist nämlich eine häufige Erfahrung von mir, daß man bei ratlosem Nachdenken, in ausnehmend seelischer Konfusion nichts Besseres tun kann, als die ausgegangene Pfeife von neuem anzustecken. Die Zündhölzer habe ich gewöhnlich zur Hand, aber eine liebe Gewohnheit ist es mir, trotz ihnen in die Küche zu gehen, zu meiner Frau, und mir vom Herde einen brennenden Span zu holen. ›Ja, gehen Sie nur zu ihr, Herr‹, sagte mir die Magd in der Stubentür. ›Sie weint doch zu bitter allein in das Feuer!‹ – Und so ging ich und stellte mich zu dem Tinchen und sagte ihr: ›Nun hör auf, Herz!‹ Sagt sie: ›Es ist ja auch nur noch zur Erleichterung, Heinrich; und ich bin ja in Sicherheit und Ruhe hier bei dir auf der roten Schanze; und es ist jetzt ja alles so einerlei, wer Kienbaum totgeschlagen und dem Vater das Leben verbittert hat. Ach, wenn mir doch nur keiner mehr davon spräche!‹ – Da war denn die Erleuchtung! – Sie hob die Bratpfanne vom prasselnden, knackenden, flackernden Feuer, und ich nickte dem Funkensprühen und den Rauchwolken in den dunklen Rauchfang hinauf nach: Da sie es wieder selber sagt, daß du der rechte Mann für sie gewesen bist, so bleibe das ferner. Verdirb ihr die Sicherheit und Ruhe nicht, laß ihr die guten Tage, und – was das andere anbetrifft: na, so frage den alten Mann selber! Aber, Stopfkuchen, hat es für unsern Herrgott diese langen Jahre Zeit gehabt, so wird's jetzt auf ein paar Tage mehr auch nicht ankommen. Frage bei passender Gelegenheit so ruhig wie möglich den alten Mann selber aus, Stopfkuchen. Mach es fürs erste mal mit ihm alleine ab. Bleib fürs erste mit der Geschichte mal wieder ganz für dich unter der Hecke.« –

Die Kellnerin setzte dem feisten Folterknecht ein frisches Glas hin, und zwar mit unsicherer Hand. Aus weitgeöffneten Augen starrte sie ihn an; aber auch sie war nicht mehr fähig, ihm dreinzureden.

»Dein Wohl, Eduard! Einige Tage nach dem Begräbnis gab sich denn auch schon die erste Gelegenheit. Ich bekomme einen Brief und sage: ›Na, Störzer, das soll mich doch wundern, was für eine Unruhe Sie da wieder mir ins Haus schleppen. Ist Antwort darauf?‹ – Der Alte sieht mich natürlich ob der Dummheit der Frage verwundert an und meint: ›Wie kann ich denn das wissen, Herr Schaumann? Das Briefgeheimnis ist uns ja doch garantieret, und ich bin wohl der letzte, der es bricht.‹ – ›Richtig, alter Freund! Jawohl, mit den Geheimnissen anderer Leute soll man vorsichtig umgehen. Nun, wissen Sie, es ist wieder ein heißer Morgen; lassen Sie sich draußen einen kühlen Trunk geben. Ich möchte wissen, ob ich Ihnen, wenn Sie heute wieder vorbeikommen, eine Antwort auf die Molestierung mit nach der Stadt zu geben habe.‹ – ›Ich danke Ihnen freundlich für die Erfrischung; aber ich – ich will doch auch ohne sie auf Sie draußen auf der Bank warten. So lange Zeit habe ich hier wohl.‹ – ›Sind Sie nicht wohl, Störzer? Wo fehlt es denn?‹ – ›In allen Gliedern; man wird doch eben mit der Zeit auch alt, Herr Schaumann.‹ – ›Da haben Sie recht, grauer Lebenskamerad. Na, es kommt jeder einmal zur Ruhe, das haben wir ja auch vorigen Mittwoch mal wieder gesehen: auch der Bauer Quakatz, mein Schwiegerpapa, hat das Warten aufgegeben und endgültig das Gesicht nach der Wand gedreht.‹ – Der Alte wendet sich, ohne was zu sagen, und geht vors Haus. Ich erbreche im Hausgange den Briefumschlag und kann mich, Gott sei Dank, auch in jetziger Stimmung noch über den Inhalt erbosen. 's ist eine Einladung zum nächsten paläontologischen Kongreß in Berlin und weiter nichts. Unsinn! das möchten sie wohl! Dich da in dem Neste mit deinem Mammut Arm in Arm! Ja schön! Mir das? Lächerlich! Sind denn die Leute so dumm, oder kennt die Welt Stopfkuchen so wenig? Was der aufgegraben hat, das behält er und läßt es sich keinesfalls durch schöne Redensarten und weltlichen Mammon abschwindeln. – Ich gehe also zu meinem Alten hinaus und sage ihm: ›Es ist wirklich keine Antwort nötig, Störzer. Um das Briefschreiben sind wir noch einmal glücklich herumgekommen.‹ – ›Kann mir auch recht sein, Herr Schaumann. Was kommt auch bei dem vielen Geschreibe heraus? Guten Morgen also, Herr Schaumann!‹ – ›Leben Sie wohl, Störzer, und schonen Sie Ihre alten Beine. Denken Sie wirklich immer noch nicht daran, sich endlich auch mal zur Ruhe zu setzen?‹ – Da zuckt der Graukopf die Achseln; aber es zuckt ihm zugleich etwas durch das dumm-gutmütige wetterfeste Gesicht. ›Es tut es noch nicht, Herr Schaumann. Man ist das eben so gewohnt geworden, und so hat unsereiner eigentlich seine Ruhe mehr draußen auf der Landstraße, als wenn er so hinterm Ofen oder auf der Altvaterbank vor dem Hause stille sitzen sollte. Ja, wenn man nur des Nachts im Bette seine Ruhe hat, so ist man schon zufrieden.‹ – ›Hm, ja – des Nachts im Bette! Ja freilich, das sagte schon der weise Salomo oder Sirach, wenn man da liegen und schlafen soll, so kommen einem die Gedanken, die man des Tages bei Regen und Sonnenschein auf der Landstraße vertreten hat, und leiden es nicht. Wie oft bin ich da zu meinem seligen Schwiegervater hingetreten und habe ihm zugeredet: Na, Vater? so lassen Sie doch die Knie zwischen den Armen weg und legen Sie sich nieder –; es ist alles in Sicherheit und Frieden auf und um die rote Schanze. Ja, Störzer, alter Freund, Sie hätten sich doch einen Trunk von meiner Frau einschenken lassen sollen zur Auffrischung. Was haben Sie denn? Tine Quakatz gibt's gern und ein freundliches Gesicht dazu, vorzüglich so einem langjährigen guten Bekannten wie Sie. Wirklich, Störzer, Sie machen ja wieder ein Gesicht, wie, wie – neulich – dort auf dem Maiholzener Kirchhofe, als ich Ihnen an unseres seligen Vaters Grube den Spaten zureichen wollte. Wissen Sie wohl, lieber Störzer, daß Sie mich eben lebhaft an des Bauern Quakatz Mienen erinnerten, wenn man ihm wieder mal so durch die Blume zu verstehen gegeben hatte, daß doch er – er – Kienbaum totgeschlagen habe? Störzer, Sie sollten doch daran denken, sich endlich zur Ruhe zu setzen! Sie werden doch zu alt und knickebeinig für die Last, die Ihnen das Schicksal als Ihr Teil vom Gewicht der Welt auf den Buckel gelegt hat.‹ – Darauf antwortete, sagte er denn – wenn man es antworten, sagen nennen konnte – ja, ich möge wohl recht haben, er wolle es noch einmal mit seinen Kindern bereden. Und dann ging er – wenn man das gehen nennen konnte, und ich ließ ihn laufen und sah ihm bloß so lange nach vom Wall des Herrn Grafen von der Lausitz, bis er auf dem Wege nach Maiholzen um die Buschecke bog. Ändern ließ sich nun für mich nichts mehr an der Sachlage, so gern ich es gemocht hätte; aber die Beruhigung, endlich mal über etwas ganz im klaren zu sein, bedeutet oder bringt nicht immer dem Menschen das, was er, erleichtert aufatmend, eine Beruhigung nennt. Was nun? ist gewöhnlich für besagten armen Teufel und geplagten Erdentropf an seine genauere Kenntnisnahme im gegebenen Fall geknüpft, und so auch bei mir. Was würdest du in meiner Stelle auf die Frage in diesem Falle getan haben, Eduard?«


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