Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Da war sie wieder, und wenn ich sie wieder ansah, wie sie vom Hause her näher kam und wieder zu uns trat und ihrem Mann die Hand auf die Schulter legte, hätte ich mir dreist alles »Weitere« von ihm schenken lassen dürfen. Die Hauptsache wußte ich jedenfalls.

Der schöne Nachmittag aber war, ohne daß ich es gemerkt hatte, was freilich selbstverständlich war, ruhig immer mehr gegen den Abend hin vorgeschritten. Es war selbst für unsern Dicken allgemach angenehm kühl unterm Lindenbaume geworden, und er bezeigte nun Lust, »sich ein wenig die Füße zu vertreten«. Er bot seiner Frau den Arm, und bei sinkender Sonne umschritten wir jetzt das Viereck des alten Kriegswalles auf seinem äußersten Rande: Stopfkuchen natürlich, ohne die lange Pfeife dabei aufzugeben. »Du bemerkst, ich habe mir hier wie ein anderer Gefangener von Chillon einen Pfad ausgetreten; aber dazu auch einige Bänke hingesetzt. Seine Aussicht in die Weite wünscht der Genügsamste in dieser Beziehung zu haben; behält er seine Bequemlichkeit sich dabei vor, so verdenke ich es ihm nicht, sondern lobe ihn. Wie du gleichfalls bemerkst, Eduard, bin ich auch hier immer unter der Hecke geblieben.«

Dem war so. Die vier Bänke auf den vier Ecken der roten Schanze hatten alle ein schattig Gebüsch hinter sich, und man konnte sich wohl auf ihnen in die Lust der Jugend: unter der Hecke zu liegen – zurückträumen. Der Pfad war wohl betreten, aber auch wohlgepflegt: »Ich pflege hier auch im Winter meine Welt und die der übrigen ins Auge zu fassen«, sagte Stopfkuchen. – Die Aussicht nach Norden und Süden, nach Osten und Westen war so ziemlich geblieben, wie sie in unserer Kinderzeit war. Da war in der Tiefe die Stadt, da zur Seite Dorf Maiholzen, da der Wald, da das freie Feld und da die fernen blauen Berge liegengeblieben. Behaglich schliefen darunter und darin Heinrich Schaumanns Floren und Faunen sämtlicher wissenschaftlicher Erdballsperioden, Formationen und Übergangsperioden, das Riesenfaultier eingeschlossen und mit eingeschlafen. Darüber der Sommerspätnachmittagssonnenschein. Nur eine oder zwei neue Eisenbahnlinien durchschnitten jetzt die Ebene. Und der Zug, der eben auf der einen die Stadt verlassen hatte und mit langgezogener weißer Lokomotivenwolke der Ferne zuglitt, erinnerte mich in diesem Augenblick wieder daran, wie wenig Halt und Anhalt ich jetzt noch in der Geburtsstadt, in den Heimatsgefilden habe.

Statt mir aber mit einem Hinweis auf die neuen Verkehrsmittel aufzuwarten, zog Heinrich Schaumann sonderbarerweise sein Tinchen nur noch ein bißchen zärtlicher an sich und sagte: »Ja, Alte, nicht wahr, auch der Winter ist hübsch hier, es läßt sich leben auf Quakatzenburg, und man sehnt sich so leicht nicht fort? Das kann man aber im Grunde überall haben, lieber Eduard, den ich doch wohl auch einen Baron, und noch dazu einen südafrikanischen, nennen darf. Man muß nur von jedem Ort den von Rechts und Ewigkeits wegen dranhaftenden Spuk auszutreiben verstehen, und man sitzt immer gut. Eine gute Frau ist freilich nicht von Überfluß dabei. Sitze du selbst hier mal mit einer bösen, Eduard!«

»Ein vernünftiger, wenn auch halb närrischer Mann gehört doch aber auch dazu«, meinte Frau Valentine zugleich seufzend und lächelnd, und Stopfkuchen sprach mit allem Nachdruck: »Selbstverständlich!«

Wir saßen ebenso selbstverständlich bereits wieder. Auf einer der Bänke, von denen aus man die Stadt und Dorf Maiholzen vor sich hatte.

»Ein halb vernünftiger, wenn auch ganz und gar nicht närrischer Mann und Mensch kann einem überall den weichsten Sitz und die schönste Aussicht und Gegend verleiden«, fuhr Heinrich fort. »Ja, ja, unser guter seliger Vater! Weißt du wohl noch, Tine, wie der mich hier mal um den Wall jagte, wie der unzurechnungsfähige, alberne wütende Achill den einzigen anständigen, ordentlichen Charakter in der ganzen Ilias? Und weißt du wohl noch, wie damals die Sache ganz anders ausging als wie vor Troja und in der Iliade? Damals stellte ich dem unberechtigten Verfolger das Bein, und so kam er kopfüber, kopfunter hinunter in den Graben des Prinzen Xaver von Sachsen, und du, Tinchen, konntest wieder aus deinem Versteck im Keller zum Vorschein kommen und mir behilflich sein, den armen Teufel fernerweit zu Bette und zu besserer Besinnung zu bringen.«

»Der Vater, der arme Vater! O Gott, ja, ja! aber, Heinrich, so haben wir ja noch niemals hiervon vor anderen Leuten gesprochen!«

»Ich glaube, ich habe es dir schon bemerkt, Schatz, daß wir heute eben auch nicht mit anderen Leuten, sondern mit einem von uns zu tun haben. Dieser hier zeigte doch schon in seiner Kindheit Mitgefühl und ging als der letzte, wenn die anderen mich unter der Hecke liegenließen. Und als Jüngling – na, Eduard, nicht wahr, du nimmst in diskreter Weise teil an der letzten Entwicklung dessen, was dir vor Jahren, als wir nicht mehr unschuldige Kinder, sondern mehr und weniger schuldenbehaftete Jünglinge waren, hier – da drüben jenseits des Grabens aus dem Gesichte kam?«

Ich nickte, nicht zu dem Dicken, sondern zu seiner Frau hinüber, wie man nickt, wenn man innigstes Mitgefühl nicht durch Worte kundgeben kann.

Valentine sagte: »Als mein Mann, das heißt damals Heinrich, auf die Universität abgehen wollte und Sie, Herr Eduard, mitbrachte am letzten Tage, da drüben hin auf den Feldrain zum Abschiednehmen, da hatte sich schon vieles hier verändert, und wo es zum Bessern war, da war er, mein Mann – Heinrich, wirklich sehr beteiligt. Wie er das auf seine närrische Weise Ihnen ja auch bereits schon mitgeteilt hat. In dieser Hinsicht braucht er freilich vor keinem Menschen was zu verschweigen von uns, der roten Schanze und meinem armen seligen Vater.«

»Ja, es ist eine reizende Gegend heute im Sommergewande, Eduard«, seufzte Stopfkuchen, mit der Pfeifenspitze um den Horizont herumdeutend, als ob er mir da etwas ganz Neues zeige. »Aber schön war doch auch die Winternacht, in der ich hier auf Quakatzenburg bei der verlorenen Tochter als verlorener Sohn im Ernst an den Fensterladen klopfte! was, Tinchen Quakatz? wie, kleine Mieze?«

»Heinrich, Heinrich, es ist ja dein Busenfreund, der dich jetzt so ausführlich hierüber sprechen läßt, und so will ich ihm zuliebe auf deine sonstigen Dummheiten nicht eingehen, sondern es auch ihm sagen: Wenn ich tausend Jahre alt würde, so könnte ich doch die Nacht nicht vergessen. Ja, Herr Eduard, es ist so, wie er sagt. Und er ist ein viel klügerer und gelehrterer Mensch, als wie er sich stellt, und mir gegenüber stellt er sich auch nur so, weil er weiß, daß wir von Anfang an zueinander gehören und nicht ohne einander leben können. Glauben Sie ihm ja nur nicht alles, was er an Dummheiten vorbringt: er hat es selbst in den schlimmsten und besten Augenblicken, die der Mensch auf dieser Erde erleben muß, zu dick hinter den Ohren. Ja, ja, ja, er kam damals zur rechten Zeit! Meinen Vater hatte zum erstenmal der Schlag gerührt, und ich war einundzwanzig Jahre alt geworden und die Herrin auf der roten Schanze. O du grundgütige Barmherzigkeit, was für eine Herrin! Mit was für einer Welt auf dem Hofe und rund umher! Seine Witze konnte Heinrich ja natürlich auch dabei nicht lassen. Ich habe es aber in seinem Konversationslexikon nachgeschlagen, weshalb er mich mitten in meinen Tränen Kaiserliche Majestät nannte. Die Frau Kaiserin Maria Theresia meinte er mit mir und hatte wohl nicht unrecht.«

»Moriamur pro rege nostro Maria Theresia«, brummte Stopfkuchen. »Sie will die Schmeichelei bloß wieder hören in deiner Gegenwart, Eduard.«

»Der Doktor hatte mich wohl getröstet, daß es für diesmal noch nichts auf sich habe, und der Vater war auch schon wieder aus dem Bett und ging an meinem Arm und an einem Stocke herum, aber daß er sein gesundes Menschenverständnis ganz und völlig wiedererhalte, das wollte der Doktor mir nicht versprechen. Auf alles mußte ich mich für ihn besinnen, für alles, was er sagen wollte, die Worte finden. Und er wollte immer reden und mir so vieles sagen und hatte doch für nichts mehr das richtige Wort. Und von keinem Menschen, und wenn er noch so gut wußte, wie er hieß, konnte er den richtigen Namen finden. Da erfand er auch neue, o was für schlimme für alle seine Bekannten!«

»Höre sie nur, Eduard!« rief Stopfkuchen.

»Nein, hören Sie sie nicht, Herr Eduard, sondern lassen Sie mich so schnell wie möglich hierüber wegkommen. Ach ja, und der Knecht hatte mir an dem ganz besondern Nachmittage wieder mal die Faust unter die Nase gehalten und die Magd mir den Kochlöffel vor die Füße geworfen. Einen von den Hunden wenigstens hatte ich ja immer bei mir, um mich mit ihm im letzten Notfall zu wehren; aber an dem Sonntage hatten sie mir auch gedroht, sie mir alle zu vergiften. Ei freilich, wenn sie dieses ausgeführt hätten, ehe Heinrich kam, so wäre ich freilich bis dahin ganz verraten und verkauft und in ihren Händen gewesen.«

Es läßt sich nicht schildern, wie ruhig die Frau alles dieses jetzt erzählte: man mußte sie dabei sehen, ansehen. Stopfkuchen stopfte seine Pfeife aus einer Schweinsblase, die er mühsam, ächzend aus seiner Schlafrocktasche vorwand. Frau Valentine erzählte weiter: »Es war Sonntag und in Maiholzen Durchtanz; Knecht und Magd mir gegen meinen Willen durchgegangen und im Dorf und auf dem Tanzboden. Es war ein wüster Wintertag gewesen, und am Abend wurde es noch wüster, und es kam ein Schneewehen –«

»Eine Mauer um uns baue,
Sang das fromme Mütterlein«,

summte Stopfkuchen; aber sein Weib rief: »O nein, das tat damals das fromme Mütterlein gar nicht. Sie redete nur auf ihren Vater im Lehnstuhl ein, denn der war unruhiger als wie je, und immer verwirrter aus seinen eigenen und anderer Mordgeschichten und Jurisprudenzen und Scharfrichtersachen. Den Namen Kienbaum, ja, den konnte er immer finden und sagen an diesem Abend; immer hatte er ihn auf der Zunge. Jawohl, singen – an dem Abend, Heinrich? In jedem Schneeanwehen gegen die Fenster und das Haus und in die Gräben der roten Schanze: Kienbaum! Kienbaum! Singen? Nicht mal vor Angst! Aber tot wäre ich gerne gewesen, Herr Eduard! Und da kam es mir fast wie eine Erlösung: ja, wenn jetzt so eine Bande bei euch einbräche, deinen armen hilflosen Vater und dich unnützes Geschöpf totschlüge und alles nähme, was ich ihnen gerne gönnte, alles, alles, und über euch das Haus in Brand setzte und so dem Jammer, der Verlassenheit, dem Schimpf und der Schande auf einmal ein Ende machte! Singen? Jawohl, nach dem Fenster hinhorchen und zwischen den Sturmstößen darauf passen, ob es nicht endlich, endlich als eine Gnade von Gott so komme! ob sich nicht endlich in dieser Hinsicht draußen was rühre! Aber es rührte sich nichts als, wie gesagt, der Wind und die Fensterläden, und dann und wann eine Stalltür, die der Knecht offen gelassen hatte, und die hin und her schlug. Dazu im Haus allerlei Spuktöne und ein Eulenschrei vom Scheunengiebel. Oh, so dazusitzen und mit den krampfigen Händen zwischen den Knien den Vater von Kienbaum, Galgen und Rad murmeln zu hören, bis die Hunde allesamt mit einem Male anschlugen, als ob auch noch der ganze Siebenjährige Krieg auf der roten Schanze von neuem angehe!«

»Philosophie der Geschichte, Eduard!« brummte Heinrich. »Auch der Alte Fritze hatte keine Ahnung davon, wie nahe er dem Hubertusburger Frieden war, als die Kaiserin Katharine ihm seinen guten Freund Peter abgurgelte und ihre Russen ihm wieder aus den Händen, unter der Nase und aus seiner Ordre de bataille wegnahm. Es kam nur der Hubertusburger Frieden für die rote Schanze, Eduard.«

»Nämlich selbst der Vater, den sonst so etwas damals gar nicht mehr aufregte, fuhr aus dem Stuhl und zitterte und wimmerte leise: ›Jetzt kommen sie!‹ Und ich, die ich mir alles schon längst für solche Fälle zurechtphantasiert hatte: was tust du, wenn es mal mitten in der Nacht so kommt? ich griff nach dem Hackemesser, das ich mir immer unter die Kommode geschoben hielt, und faßte es hiebgerecht und sagte so gelassen wie möglich: ›Einer wenigstens geht mit, wenn es endlich so sein soll!‹ Es kam aber gottlob anders.«

»Selbstverständlich!« brummte Heinrich.

»Die Hunde, die sich eben noch die Seele aus dem Leibe gebellt hatten, gaben mit einem Male keinen Laut mehr; und ich dachte auch da schon wieder an Gift, ohne zu bedenken, daß das doch recht schnell gewirkt haben müßte. Ich hatte das Ohr am Fensterladen und das Hackmesser mit der Schärfe auf der Fensterbank zum Schlag bereit; da – da na, Herr Eduard, wie fuhr ich zurück!«


 << zurück weiter >>