Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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»Du hast heute eine schwere Tasche.«

»Eine schwere Tasche! ... Ja, was schreiben die Leute! Allein die rote Schanze! der Bauer von der roten Schanze! Wer mir im Amte von der roten Schanze und ihren Poststücken hülfe, Eduard, dem wollte ich auf den Knien für die Erlösung danken. Es ist freilich heute bloß nur die Zeitung. Die trägst du mir wohl wieder einmal über den Graben nach der Schanze hinüber. Nicht wahr, du tust mir den Gefallen? Ich sortiere mir derweilen die übrigen Briefe und Gartenlauben und Modenzeitungen an die Herren Ökonomen und Pastöre und Fabrikinspektoren ein bißchen handgerechter diesseits des Grabens.«

Was hätte ich damals nicht dem Landpostboten Störzer zu Gefallen getan?

»Natürlich bringe ich deine Sachen zu Quakatz, Fritze, und wenn er auch noch so sehr sein Sauerampfergesicht mir schneidet und seine wilde Katze mir am liebsten in mein Gesicht springen möchte. Setze du dich dreist untern Baum vor dem Graben und sortiere deine Geschichten. Ich springe schon hinüber zur roten Schanze und nehme sie mit Sturm, wie Stopfkuchen sie nehmen will. Damit werden wir noch fertig, ehe dein Gewitter heraufkommt, Störzer!«

»Je, so rasch kommt's hoffentlich nicht, Eduard.«

Wir steigen nun, trotz aller schlimmen Wetterzeichen rundum am Horizont, in der Morgensonne wacker zu.

»Eine schwere Tasche!« hörte ich in meinem Absteigequartier zu den Heiligen Drei Königen meinen harmlosen Jugendbekannten Störzer noch einmal stöhnen oder vielmehr seufzen; aber wenn ich auch noch so sehr ein Herz und eine Seele mit ihm war: was kümmerte mich die Korrespondenz der Bauern, der Gutsherrschaften, der Fabrikleute, die er in der Tasche über Land trug? Dafür kroch, flog, lief, schwirrte, leuchtete, flimmerte und glänzte doch allzuviel Wichtigeres sowohl an der Landstraße wie an den Beiwegen. Ja, wenn sich der Kuckuck, die Grasmücke, der Igel, der Hase und diese übrige Gesellschaft, eingeschlossen die Sonne, der Schatten, der Wind, der Regen, der Blitz und der Donner, auch auf schriftlichen Verkehr untereinander durch Störzers Vermittlung eingelassen haben würden, dann hätte es vielleicht noch wundervoller sein können. Aber es war auch so ganz gut, wo der Roggen und der Weizen, die Kornblume und die Klatschrose rundum ohne Tinte, Feder und Papier auskamen und sich ohne fortgeschrittene Bildung innerhalb ihrer Isotheren und Isothermen freundschaftlich und geschäftlich beieinander zu halten wußten!

Isotheren! Isothermen! Wie diese gelehrten Worte zu den lieben Namen, den Heimatsnamen von allem, was »auf dem Felde« (»Sehet die Lilien« und so weiter) wächst, paßten, so paßten sie auch zu unserer übrigen Erdkunde (Geographie) damals. Und doch, was für wundervolle Geographen, Erdkundige, Erdbeschreiber wir damals waren, Störzer und ich! Wir wären die rechten Leute damals für den alten freundlichen und gelehrten Karl Ritter gewesen, wenn er seine Landschaftsbilder auf die große schwarze Tafel hinter seinem Katheder in Berlin malte.

Und wie weit man um diese Lebenszeit auf den paar Stunden Weges von einem Dorf, Pastorhaus und Gutshof zum andern in die weite, unermeßliche Welt hinauskam!

Zu Hause, in Neuteutoburg, weiß ich nur zu gut, daß die Welt, oder in diesem Falle der Erdball, durchaus nicht unabmeßlich ist, sondern daß dieser im Äther schwimmende Kloß gar nicht so dick ist, wie er sich einbildet. Aber wenn ich wenigstens bis zu den Kaffern und Buren und zu einem anständigen Vermögen gekommen bin: wem anders verdanke ich das, als dem Landbriefträger Friedrich Störzer und seinem Lieblingsbuch Le Vaillants Reisen in das Innere von Afrika, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forster?

Wie deutlich ich in den Heiligen Drei Königen die Stimme höre: »Die Geographie, die Geographie, Eduard! Und so ein Mann wie dieser Levalljang! Was wäre und wo bliebe unsereiner ohne die Geographie und solch ein Muster von Menschen und Reisenden? Nimm nur mal an, so Tag für Tag, jahrein, jahraus die nämlichen Wege. Jedes Dorf wie deine Tasche. In jedem Hause, von der ältesten Großmutter bis zum eben ausgekrochenen, jüngsten Wurm, alles wie deine eigenen Leute in deinem eigenen Hause! Und aus jedem Hause der Ruf: Da kommt Störzer! Und in jedwedem Hause: Störzer hat die Zeitung gebracht, Störzer bringt 'n Brief! – Könntest du das auf Lebenszeit und immer auf denselben Wegen aushalten, Eduard, ohne deine Gedanken und Einbildungskraft und Phantasien und Lektüre, Eduard? Müßte dir das nicht auch auf die Länge langweilig werden ohne die Geographie?«

»Nee, Störzer! Denn wir haben sie auf dem Gymnasium, und da haben sie mich gestern erst ihretwegen eine Stunde länger in der Schule behalten. Bithynien, Paphlagonien und Pontus wußte ich: aber ich sollte alle alten Staaten von Kleinasien wissen.«

»Das tut mir deinetwegen ja sehr leid, Eduard, aber mir hättest du noch einen Gefallen getan, wenn du sie beim Nachsitzen noch auswendig gelernt hättest, wenn auch bloß für mich.«

»Für dich, Fritze? Nun denn: Mysia, Lydia, Karia, Lycia, Pisidia, Phrygia, Galatia, Lykaonia, Cilicia, Kappadozia, Armenia minor, das sind sie alle; denn Bithynien, Paphlagonien und Pontus habe ich dir schon genannt.«

»Donnerwetter, Eduard, das ist ja gerade, als ob du uns Deutsche in allen unsern Unterabteilungen aufzähltest! Es klingt bloß 'n bißchen hübscher und ausländischer. Nun sieh mal, was für ein Vergnügen muß das für dich sein, daß du dieses alles so an der Schnur hersagen kannst und dir dabei was denken kannst, hier auf der Landstraße mit der ganzen altbekannten Umgebung rundherum und da – hier – der roten Schanze vor der Nase.«

»Campes Reisebeschreibungen sind mir lieber. Und du bist mir auch lieber, Störzer. Mysien, Lydien, Karien, bringe du das da unten in dem dumpfigen Schulstall mal in deinen Kopf und sehne dich mal nicht nach dem Le Vaillant seinem Afrika und seinen Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elefanten. Stopfkuchen haben sie auch mit mir eine Stunde über den Unsinn dabehalten. Der fragt aber nichts nach Afrika. Dem seine tägliche Sehnsucht ist dort die rote Schanze; na, das weißt du ja.«

»Das weiß ich freilich, und es ist närrisch genug von dem Dicken – deinem närrischen Kameraden. Weißt du, Eduard, wenn ich mir aus der Weltkunde ein Faultier vorstelle, so muß ich mir dabei immer diesen deinen Freund und Schulkameraden mit vorstellen. Der und die rote Schanze!«

 

Die rote Schanze! Ich hatte doch allmählich ein wenig in all diese Erinnerungen, in diesen Wechsel von Stimmen und Gestalten hineingegähnt und das Bedürfnis gefühlt, nun auch Störzer seiner ewigen Ruhe zu überlassen und selber für diese Nacht zur Ruhe zu gehen, als mich dieser Name doch noch eine Weile wach und bei meinem Jugendleben lebendigst festhielt. Die rote Schanze!

Es überkam mich ein lachendes Behagen über die rote Schanze in ihrer Verbindung mit dem Dicksten, dem Faulsten, dem Gefräßigsten unter uns von damals.

»Im Bette habe ich sie am festesten beim Wickel, Eduard«, pflegte Stopfkuchen zu sagen. »Wenn ich mal träume, dann träume ich von ihr, und wer dann Herr auf ihr ist und keinen Schulrat, Oberlehrer und Kollaborator über den Graben läßt, das ist nicht der Bauer Quakatz, sondern das bin ich. Ich! sage ich dir, Eduard.«

Und in den Traum nahm auch ich sie, die rote Schanze, mit hinein in dieser Nacht in den Heiligen Drei Königen der Heimatstadt. In diesem Traume sah ich ihn noch einmal in meinem Leben so traumhaft aller Wunder voll, wie ich ihn von der Oberquarta und Untertertia aus gesehen hatte, diesen Bauernhof – diese rote Schanze, diesen alten, herrlichen Kriegs- und Belagerungsaufwurf des Prinzen Xaverius von Sachsen, den Hof des Bauern Andreas Quakatz, aus welchem der kursächsische Herr Prinz in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur die Stadt da unten, sondern auch die hohe Schule, unser Gymnasium, darin so gründlich beschossen hatte, daß sie beide sich ihm sofort übergeben mußten, obgleich er wahrlich nicht der erste und größte Held des Siebenjährigen Krieges war. Der Siebenjährige Krieg war ein paar Jahre länger vorüber als meine und Stopfkuchens Kindheit; aber die rote Schanze war noch immer vorhanden in diesem Traume, wie sie unser Jungensideal gewesen war.

Da stieg sie auf im wohlerhaltenen Viereck. Nur durch einen Dammweg über den tiefen Graben mit der übrigen Welt in Verbindung! Mit allem, was sie der Knabenphantasie zu einem Entzücken und Geheimnis gemacht hatte: mit den Kanonen und Mörsern des Prinzen Xaver und mit der undurchdringlichen Dornenhecke, die der böse Bauer Andreas Quakatz auf ihrer Höhe um sich, sein Tinchen, sein Haus, seine Ställe und Scheunen und alles, was sonst sein war, zum Abschluß gegen die schlimme Welt gezogen hatte!

Ich höre ein dumpfes Rollen und Krachen in meinen Traum von der roten Schanze hinein; aber es ist nicht der kursächsische Kanonendonner gegen den König Fritz von Preußen: es ist das Gewitter, bei dem Störzer sagt: »Es kommt doch noch rascher über uns, als ich mir dachte. Da, Eduard, nun tu mir den Gefallen und lauf zu dem Adressaten Quakatz mit seinen Sachen hinüber. Da, seine Zeitung – hier auch ein, zwei, drei Briefe. Was der Mann eine Schreiberei um sich hat! ach, Eduard, und immer ein paar mit den Gerichtssiegeln! Da – das Kind, sein Tinchen, guckt schon um den Torpfeiler! Gib sie ihm ab, die Sachen; ich sortiere hier unter der Hainbuche derweil das übrige, ehe das Unwetter ganz da ist.«

»Was willst du von uns, dummer Junge?« höre ich nun ein feines Stimmchen, das gar böse tut, und zwar inmitten des Gekläffs von einem halben Dutzend vor Wut und Gift außer sich geratener Haus- und Hofköter aller Sorten und Gattungen. Und sie lassen es nicht bei dem Blaffen und Zähnegefletsch. Sie fahren mir nach der Hose und springen mir gegen die Kehle: man hätte das vollste Recht, dabei aus jedem Traume selbst als älterer Herr und südafrikanischer Bur mit einem hellen Schrei zu erwachen.

Ich bleibe aber doch darin, auf dem Damm, vor den beiden Torpfeilern vom Quakatzenhof auf der roten Schanze, und die Kinderstimme kreischt lachend und höhnisch: »Laßt ihn! Wollt ihr herein! Das ganze Gerichte! Präsendent, Akzesser, Reffrendar! Kusch alle! kusch Geschworener Vahldiek! kusch Meier, kusch Brauneberg! kusch das ganze Geschworenengerichte!«

»Da sind eure Postsachen, eure Schreibsachen und die Zeitung, du Giftkatze!« rufe ich, der rotköpfigen Krabbe des Bauern von der roten Schanze die Korrespondenz des Bauern in die aufgehaltene Schürze werfend, und von dem ungastlichen Anwesen über den Fahrdamm auf das freie Feld und zu der Hainbuche und zu Störzer zurückweichend.

»Komm, Eduard«, sagt Störzer, »wir wollen den Weg zwischen die Beine nehmen, daß wir wenigstens Maiholzen noch trocken erreichen. Da, sieh mal hin, wie es dahinten schon gießt. Das ist nun so 'n schöner Sommertag. Na, gottlob, daß wir wenigstens die rote Schanze und Quakatz hinter uns haben.«


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