Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Es war eine Luft in der niedern schwarzen Bauernstube, die keinem gefallen konnte. Und der Bauer Andreas hatte einen deutlichen Gang auf ihrem schwarzen Fußboden ausgetreten, vom Fenster bis nach dem Ofen.

»Da geht er, solange ich weiß«, sagte seine Tochter, »und ich sitze hier und höre ihn mit sich selber sprechen, die halbe Nacht durch, bis er mich zu Bette jagt. Du mußt es wissen, Heinrich, weshalb du zu mir gekommen bist und dich an die rote Schanze herangemacht hast; aber dein Herr Freund, der Herr Eduard, kann nichts davon wissen, wie es jetzt mir hier bei deinem Abschiede zu Sinnen sein muß. Aber wenn er so freundlich sein will, kann er später vielleicht einmal Zeuge sein, daß ich dir nach meinem Tode die rote Schanze vermacht habe mit allem, was dazu gehört; denn mein Vater hat doch keinen andern, dem er sie in sein Testament setzen kann, als nur mich, außer den Hunden draußen am Torweg. Wollen Sie so gut sein, Herr Eduard, da Sie heute mitgekommen sind, daß Sie es später einmal vor dem Gerichte mit bezeugen, daß die rote Schanze, wenn mein Vater und ich nichts mehr von der Welt brauchen, einzig und allein Herrn Schaumann gehört?«

Wie es für den Menschen, einen körperlich so angelegten Menschen so rasch möglich zu machen gewesen war, weiß ich nicht; aber das Faktum war vorhanden: er, Stopfkuchen, sitzt hinter dem alten Eßtisch des Quakatzenhofes neben der Erbtochter desselben und hat seinen Arm ihr um die Schulter gelegt und ruft: »Jetzt hört es aber auf! Dummheit läßt man sich wohl gefallen, aber doch nur bis zu einem gewissen Grade, sagt Kollege Blechhammer da unten, Eduard. Sieh dir noch einmal die Quakatzenburg von inwendig an, alter Junge. Wer weiß, ob du sie so in deinem Leben wieder zu sehen kriegst? Hier mein Ideal – meine Burg, mein Haus! da draußen die holde Flur, wo wir als Knaben spielten. Morgen also die Universitas literarum und das hohe Meer des Lebens! Verflucht poetisch und verlockend für zwei abgehende Pennäler. Wisch dir die Augen, du liebste, närrische Bauerngans, und tu mir den Gefallen und komm wieder mit ins Freie. So wie man den ersten Atemzug hier innen tut, hat man genug davon und schnappt nach der Luft da draußen. Vivant omnes virgines – komm, virgo – kratze und spucke nicht, virago! Ja wehre dich nur, Fräulein! Sie sollen mich nicht umsonst da unten Stopfkuchen benamset haben; ich werde ihnen zeigen, was dem Herz und dem Magen bekommt.«

Er hatte das Mädchen um den Leib gefaßt, er hob es hinter dem Bauerneßtisch hervor, er trug es weg, trug es aus dem Hause und setzte es wieder hin auf den Wall des Prinzen Xaver von Sachsen. Valentine ließ es sich ruhig gefallen, und ich – ich folgte verblüfft, betäubt, zweifelnd – kurz, Stopfkuchen hätte gesagt: »Wie ein Schaf!« Wenn aber Stopfkuchen jetzt auch noch Flügel entfaltet hätte und mit der Erbtochter von der roten Schanze, mit dem Kinde von Kienbaums Mörder langsam, aber immer höher, höher in den blauen Frühlingshimmel aufgestiegen wäre, so hätte ich willenlos mir auch das gefallen lassen müssen und hätte höchstens fragen dürfen: »Ist es denn die Möglichkeit?« –

Wir standen wieder auf der grüngrasigen Wallhöhe des alten Kriegskunststücks des Herrn Grafen von der Lausitz – wir beiden angehenden Studenten und Valentine Quakatz: Heinrich und Tinchen Arm in Arm.

Plötzlich stieß der närrische Mensch, Stopfkuchen, einen jauchzenden Ruf aus, schlug mich auf die Schulter, daß ich in die Knie schoß, und sagte wie aus tiefstem Magen heraus: »Und es ist, eines ins andere gerechnet, doch so ungemütlich nicht, daß der Sachse und der Franzose Anno siebzehnhunderteinundsechzig das Nest da unten nicht gänzlich ausgerottet und also auch uns unmöglich gemacht haben. Wie nett es eigentlich, so im ganzen, da doch liegt und durch die Güte des Herrn dem Siebenjährigen Kriege zum Trotz liegengeblieben ist. Ja, Flur, wo wir als Knaben spielten – Eduard! sieh sie dir noch mal an, alter Junge, und gehe hin und lerne was, auf daß du ihr einmal ebenfalls Ehre machst und ihren guten Ruf bei den Leuten aufrechterhältst. Du aber, Tinchen, kümmere dich gar nicht um sie. Was ich und du und dein Papa von ihr zu halten haben, das wissen wir, und von dem – unserm Standpunkt mach ich es vielleicht doch möglich, Prediger oder Staatsanwalt in ihr zu werden. Eine standfeste, haltbare Kanzel würde freilich zu ersterm Lehr- und Straffach wohl gehören«, seufzte er, seine derbe, biedere Rechte erst betrachtend und sie dann zur Faust geballt der Heimat drunten im Tal ebenfalls wie zu vorsichtiger, genauer Betrachtung hinhaltend.

»Da sitzen sie nun auf ihren Bockstühlen, dein und mein Alter, Eduard, und haben keine Ahnung davon, von welcher Höhe aus Stopfkuchen sie betrachtet oder, nach eurer Ausdrucksweise, auf sie runterguckt.«

»Goldne Abendsonne, wie bist du so schön!« summte ich, wie um die Rede auf was anderes zu bringen; aber Stopfkuchen ließ selten von einem einmal begonnenen Gedankengange leicht ab.

»Natürlich ist sie schön –; vorzüglich, wie wir hier an des Herrn Prinzen von Sachsen Wallböschung der endlich gewonnenen Freiheit, wirklich Menschen sein zu dürfen, uns erfreuen. Sieh mal, da flammt sie grade in den Fenstern des Schulkarzers sowie in denen unseres Provinzialgefangenenhauses. Der reine Märchenzauber! Hättest du wirklich nie das Bedürfnis gefühlt, Freund meiner Kindheit, o du mein Eduard, deinen greuligen Alten, so wie ich den meinigen, und vorzüglich um die Zeit der Versetzung in eine höhere Klasse edelster deutscher Menschenbildung, dort hinter einem jener Gitter unschädlich gemacht, in Sicherheit sitzend zu wissen?«

Und diesen Menschen hatten wir nicht nur für den Dicksten, Faulsten und Gefräßigsten unter uns, sondern auch nicht nur für den Dummsten unter uns, sondern auch überhaupt für einen Dummkopf gehalten, o wir Esel!

Und wer ihn auch jetzt wieder nicht etwa von seinem Gedankengange abbrachte, sondern ihn darin im bedachtsamen, ruhigen Schritt bestärkte, das war nicht der feine, wohlgesittete, mit dem besten Schul-Abgangszeugnis versehene Eduard aus dem Posthause, sondern das war Tinchen Quakatz von der roten Schanze, deren Vater man es leider nur nicht hatte beweisen können, daß er Kienbaum totgeschlagen habe, und der darum im Bann, wenn nicht der Welt, so doch seiner nächsten Umgebung, was dasselbe ist, ging, und sein Kind natürlich mit.

Valentine Quakatz hatte auch von der Schanze des Prinzen Xaver, von ihrem verfemten Wall aus auf die Stadt und die in der Sonne blitzenden Fenster derselben hinabgesehen; nun wendete sie sich ab und wischte mit der Hand und dem Schürzenzipfel die Augen.

»Mir ist ein Tier hineingekommen, oder der Glanz beißt mich, daß sie tränen; und ihr – du denkst wieder, ich heule.«

Und jetzt ballte sie die Hand und schüttelte sie gegen die glitzernden Fenster des Provinzialgefangenenhauses: »Aber ich heule nicht. Ich will nicht. Heinrich hat ganz recht, es ist dumm, nur zu weinen. Es beißt mich der Glanz auch nur in die Augen, weil ich so lange und so oft hier habe stehen müssen, wenn er dahinter saß, da unten, hinter den Fenstern, in seinem Gefängnis, mein Vater, mein lieber, liebster Vater. Und weil ich keinen hatte –«

»Weil sie keinen weiter hatte als mich, Eduard. Und weil ich auch nun wieder gehe, in Abwesenheit ihres Alten. Na ja, da siehst du mal wieder, lieber Eduard, was das Leben ist, und wie das Vergnügen dran immer nur als bloßer Schaum drobenauf schwimmt. Jetzt bitte ich dich, setze dich mal in meine Stelle und suche mit euch dummen Jungen, seinen lieben Eltern und was sonst dazu gehört zum Trotz, aus so 'ner verschüchterten, zur Feldkatze verwilderten Dorfmieze wieder ein niedliches, nettes, reinliches, schnurrendes, gurrendes, liebes, liebstes kleines Mädchen zu machen. Na, nun tu noch mal die Schürze von den Augen und sieh mich mit ihnen an; sonst beißt es mich in meinen Augen auch, und das möchte ich doch hier des klugen, gebildeten Eduards wegen lieber vermeiden. So ist's recht, und nun laß uns die Zähne aufeinanderbeißen. Ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß andere Leute das Recht zu haben behaupten, etwas anderes aus mir zu machen, als was in mir steckt. Da hast du meine Hand darauf, Jungfer Quakatz: Ich komme wieder und behalte mir bis dahin alle meine Rechte hier an dieser Erbstelle vor, und den seligen Kienbaum soll doch noch mal der Teufel holen. Sage es deinem Vater, wenn er nach Hause kommt, daß ich es gesagt habe, Tinchen! Und du, feiner Eduard, bitte, sieh gütigst noch mal hinein in die schöne Landschaft und auf die liebe Vaterstadt – schade, daß jetzt grade nicht die Glocken dazu läuten. So ist's recht, verlegener Jüngling ...«

Ich sehe mich wirklich um – verschüchtert, verstört, verlegen. Ich sehe hinaus in die Landschaft und auf die Stadt drunten im Tale – kurz –, ich sehe weg und vernehme im klingenden, summenden Ohre, hinter meinem Rücken, auf der alten Wallhöhe des Siebenjährigen Krieges, rasch hintereinanderfolgende Töne, die ich nur mit dem Namen Stopfkuchen ganz und gar in Einklang zu bringen weiß. Dazwischen ein unterdrücktes Geschluchz und Gekicher und dazu die Worte: »Ach Heinrich, Heinrich!«

 

Als ich wieder aufsehe, ist weiter nichts vorgefallen, als daß die Jahre hingegangen sind, und daß die langen Wogen des großen Meeres unter dem Schiffe weiterrollen und es gegenwärtig gutmütig, ohne zu arges Rollen, Schütteln und Schüttern weitertragen, dem Kap der Guten Hoffnung zu.


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