Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Und als ich den Dicken darob wirklich nicht ganz ohne Verwunderung ansah, lächelte dieser behaglichste aller Lehnstuhlmenschen überlegen und sprach: »Weil ihr ein bißchen weiter als ich in die Welt hinein euch die Füße vertreten habt, meint ihr selbstverständlich, daß ich ganz und gar im Kasten sitzengeblieben sei. Nee, nee, lieber Eduard, es ist wirklich mein Lebensmotto: Gehe heraus aus dem Kasten!«

Ich würde einiges zu erwidern gehabt haben, aber er ließ mich wahrlich wiederum nicht zu Worte, sondern fuhr fort: »Was sagst du aber schon hier draußen zu den kleinen Verschönerungen, die ich an Tinchen Quakatzens Erbsitz vorgenommen habe. Hier auswendig am Hause, meine ich. Nicht wahr, hell und freundlich? – alles, was Pinsel und Farbentopf in dieser Hinsicht ins Erheiternde zu tun vermochten!«

Er hatte gewiß nicht nötig, mich noch besonders aufmerksam zu machen. Die Verschönerungen mußten jedem, der die »Mördergrube« auf der roten Schanze ehedem in ihrer ärgsten Verwahrlosung gekannt hatte, auffallen.

»Sieh mal«, sagte Stopfkuchen, »auf den Noahkasten habe ich dich bereits aufmerksam gemacht; jetzt schüttele einmal in der Phantasie eine andere deiner Weihnachtsschachteln aus. Dorf oder Stadt – steht auf dem Deckel derjenigen, die ich meine. Kippe dreist um auf den Tisch und suche mir mein Weihnachtsmusterhaus heraus! Was? Hast du's? Schön himmelblau die Mauern, schön zinnoberrot das Dach, Fenster und Tür kohlenpechrabenschwarz, nur der Schornstein schön weiß. Es gibt auch nette Paläste und Hütten in anderen Farben in der Schachtel, aber ich habe Tinchens wegen ein helles Himmelblau gewählt. Dem sieht hoffentlich niemand mehr Kienbaums Blut ab, sondern es sagt höchstens dann und wann jemand: ›Dieser alte Schaumann auf der roten Schanze ist doch ein ganz verrückter Hahn, und es ist nur zu hoffen, daß ihn seine brave Frau fest unter ihrer Kuratel hält.‹«

Die brave Frau auf dem Hausflur wendete sich auf dieses letzte Wort um und sagte lächelnd: »Heinrich, ich bitte dich! vor diesem deinem Freunde brauchst du dich doch nicht ganz so närrisch wie vor den anderen anzustellen.«

»Aber immer doch ein bißchen darf ich – was, alter Schatz?«

»Was kann ich dagegen machen? sagen Sie selber aus ältester Bekanntschaft mit ihm, Herr Eduard!« lachte Frau Valentine, und dabei stand auch ich an Stopfkuchens Arm auf seinem Hausflur und fiel in ein neues Erstaunen.

»Ja, aber, was ist denn das?« entrang sich, um im gehobenen Ton zu bleiben, das Wort meinen Lippen.

»Ein Bruchteil meines geologischen Museums. Die Pièce de résistance, die Krone, mein Mammut, werde ich dir nach Tische zeigen«, sagte Schaumann.

Ich stand starr.

»Es ist die Liebhaberei meiner alten Tage«, fuhr der dicke Freund fort. »Etwas muß der Mensch doch immer haben, woran er sich hält, wenn er dem Gebote des Herrn nachkommt und aus dem Kasten geht. Was wunderst du dich? Für alle Ewigkeit reicht doch selbst der Prinz Xaver von Sachsen nicht aus, um einem Einsiedler oder vielmehr Zweisiedler durch die Stunden, Tage, Wochen und Jahre ein Liebhabereibedürfnis behaglich zu stillen. Aber sei nur ruhig, Eduard; dies ist meine Sache, dieses sind meine Knochen! Du kriegst die Suppe von ihnen nicht, Tinchen hält sich mehr an was Frischeres mit mehr Fleisch darauf. Ich hoffe, du wirst ihre Kochkunst, meinem osteologischen Museum zum Trotz, loben und draußen im Säkulum gleichfalls bestätigen, daß man auf der roten Schanze nicht bloß an den Knochen nagt. Übrigens sehe ich zu meinem Erstaunen, daß du derartigen Dilettantenwahnsinn bei mir am wenigsten gesucht hast.«

»Das muß ich sagen!«

»Der Zauber des Gegensatzes, Eduard. Einfach der Zauber des Gegensatzes! Werde du mal so fett wie ich und suche du nicht deinen Gegensatz – also hier diese Knochen! Dein Hausarzt wird sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben. Der meinige hält zum Beispiel mein Herumkriechen, -keuchen und -klettern in den umliegenden Kiesgruben und Steinbrüchen der Feldmark um die rote Schanze für sehr wohltätig für meine Konstitution. Seinen Redensarten nach sollte es mir manchmal vorkommen, als sei die Sintflut nur meinetwegen eingetreten; nämlich bloß damit ich mir unter ihren Ruderibus, ihren schönen Resten die mir so notwendige Bewegung mache. Und mit ganz ähnlichen Redensarten legt auch Tinchen, wie sie sich ausdrückt, meiner Narrheit nichts in den Weg. ›Das kommt davon‹, fügt sie höchstens hinzu, ›wenn der dicke Bauer der roten Schanze sein ganzes Ackerland der Zuckerfabrik Maiholzen als Rübenacker hingibt.‹«

»Mensch!« rief ich. »Jetzt laß uns endlich zu Tisch! Deine Frau wartet, und ich habe es unbedingt nötig, auch mit deiner Frau über dich zu reden!«

»Aber erst nach Tische!« grinste Stopfkuchen. Er »bat« darum, wie man das in solchen Fällen sittiger zu bezeichnen pflegt, fügte auch noch hinzu: »Daß ich mich auf dem Wege zum Essen und beim Essen ungern aufhalten und nur sehr ungern stören lasse, weißt du ja wohl aus alter lieber Jugenderinnerung?«

Ich warf noch einen Blick auf die an den Wänden der alten »Bauerndehle« auf Börten und in offenen Schränken aufgestapelten Versteinerungen aus der Umgegend der roten Schanze und trat noch einmal in meinem Leben in die Wohnstube des Bauern Andreas Quakatz zur linken Seite des Hausflurs, und an den Tisch, den auch Stopfkuchen zu einem Eßtisch gemacht hatte, und auf welchem Tinchen Quakatz vor so vielen Jahren in meiner Gegenwart in Trotz, Grimm, Angst und Verzweiflung mit den Armen und mit dem Kopf lag.

 

»Wie freue ich mich, Sie wieder hier zu sehen, Herr Eduard«, sagte Frau Valentine Schaumann.

Ich reichte ihr in Wahrheit bewegt die Hand über Stopfkuchens in Wahrheit wunderbar gedeckten Eß- und Lebenstisch. Aber Stopfkuchen drängte: ich hatte die Serviette zu entfalten und zu Löffel, Messer und Gabel zu greifen. So konnte er, Heinrich, doch nicht drängen, daß ich mich nicht auch hier schnell noch umgesehen hätte. Es hatte sich auch hier manches verändert.

»Ja, guck nur«, sagte er. »Hier kannst du es richtig sehen, wie sie mich gegen den Strich zu kämmen pflegt. Nichts als meinen Koprolithenschrank habe ich hier hereinschmuggeln können. Da steht er in der Ecke, und da sitzt sie dir gegenüber und erwartet, daß du ihr deine Komplimente über ihren guten Geschmack machst. Sie hat den Raum von ihren Jugenderinnerungen gründlich gereinigt haben wollen, und der Schatz hat das Recht dazu gehabt. Erfreuliches hing nicht an den Wänden, stand nicht umher – dieser Eßtisch ausgenommen – und verkroch sich noch weniger in den Winkeln. Wir haben aber den väterlichen und urväterlichen Hausrat vom Quakatzenhof nicht verauktioniert. Wir haben ihn den Flammen übergeben, teilweise auf dem Küchenherde, zum größten Teil aber da draußen unter den Lindenbäumen. Da haben wir ein Feuer angezündet, am schönen Sommertage im Sonnenschein zwischen zehn und elf Uhr morgens. Da haben wir den alten wüsten Wust in die reinen blauen Lüfte geschickt. Oh, wie haben wir alle süßen, heimlichen, sentimentalen Gemütsstimmungen auf den Kopf gestellt! Ei ja, wie haben wir die rote Schanze durch Feuer von ihrer Krankheit geheilt! Sieh, Eduard, wie das Kind sich heute noch ihrer, wie die Leute umher sagten: unzurechnungsfähigen, grenzenlosen Herzlosigkeit freut – diese Mordbrennerin. Sieht sie aus, als ob sie sich durch das Aufwärmen ihrer eigensten Tat jetzt noch den Appetit verderben lassen würde?«

So sah sie wahrlich nicht aus! Frau Valentine Schaumann lächelte über unsern Suppennapf mich an und sagte: »Merken Sie es wohl, wie gründlich Heinrich mich erzogen hat? Ich habe auch gar nichts dagegen, wenn er es Ihnen nach Tisch noch gründlicher erzählt, wie er das angefangen hat, und wie er mich auch heute noch auf der Schulbank sitzen hat. Das heißt, Alter, dein Nachmittagsschläfchen hältst du erst wie gewöhnlich, denn Herr Eduard wird aus seinem heißen Afrika wohl auch ein wenig daran gewöhnt sein.«

»Wenn Eduard zu schlummern wünscht, schlummre ich gewiß auch ein wenig ihm zuliebe. Mit den gewöhnlichen Gewissensbissen der ärztlichen Ratschläge wegen. Und hat dir Gott 'nen Wanst beschert, so halte ihn – und so weiter. Na, der Herr beschere uns allen einen sanften Sofatod.«

»Du gehst mir heute und von heute an jeden Tag auf der Stelle nach dem Essen mit deinem Freunde oder mit mir in den Garten und auf den Wall!« rief Frau Valentine. »Heinrich, ich bin imstande und blase noch einmal ein Feuer unter den Linden an und verbrenne dir alle unsere Sofas unterm Leibe!«

»O du süße, umgekehrte indische Witwe in spe!« grinste Stopfkuchen, und dann war er eine geraume Zeit wieder einmal ganz bei der Sache, nämlich nur bei Tische, ganz und gar, einzig und allein, nur, nur bei Tische! Wir speisten vorzüglich, und eine Viertelstunde lang sagte er einmal kein Wort. Der Behaglichkeit und der Kühle wegen blieben wir auch mit dem Kaffee und bei der Zigarre fürs erste im Hause, und Tinchen Quakatz saß bei uns und ging ab und zu, freute sich ihres Mannes und, wie es gottlob schien, auch seines Jugendfreundes, und wir verzichteten alle drei auf den Nachmittagsschlummer zur »Feier meines Besuchs«.

Im behaglichsten Moment des Verdauungsprozesses legte sich dann Stopfkuchen in seinem Sessel zurück, schlang über dem weit aufgeknöpften Busen die Hände ineinander, drehte die Daumen ineinander, seufzte wollüstig und – fragte: »Und nun, Eduard, machen wir dir noch den Eindruck einer Mörderhöhle? Würdest du dich vor dem seligen Kienbaum und der Mitternacht fürchten und dankend ablehnen, wenn wir dir ein Bett im Hause anböten? Sag es ganz offen heraus, wenn es dir im geringsten noch nach Blut und Moder auf der roten Schanze riecht.«

Hoffentlich erwartete er, daß ich nun aufspringe, mit Händen und Füßen abwehrend, donnernd dreimal: Nein! brülle. Aber den Gefallen tat ich dem fast unheimlich behaglichen feisten Geschöpf doch nicht. Ich sagte ihm ganz ruhig: »Auch deine antediluvianischen versteinerten Gebeine draußen riechen mir nach nichts mehr. Selbst deine Koprolithen da im Schrank kann die feinste Dame dreist als Briefbeschwerer gebrauchen, wenn niemand sie fragt und sie keinem mitteilt, was das eigentlich ist. In die Gespensterkammer von Quakatzenhof würde ich mit Vergnügen ziehen, wenn meine Zeitumstände es erlaubten. Daß deine liebe Frau mir im Schlafe den Hals abschneiden könne, glaube ich nicht; aber – was dich selber freilich anbetrifft, so möchte ich dich wirklich jetzt noch am freundlichen Nachmittage ausfragen, ehe die spukhafte Nacht kommt. Wundervolle Menschenkinder – unbegreiflicher Mensch – wie habt ihr – wie hast du es angefangen, den bösen Geist und Gast der roten Schanze zu bändigen?«

»Ich habe Kienbaum völlig totgeschlagen«, sagte Stopfkuchen. »Weiter brauchte es ja nichts. Der Schlingel – will sagen, der arme Teufel hatte freilich ein zähes Leben; aber ich – ich habe ihn untergekriegt. Wenn ein Mensch Kienbaum totgeschlagen hat, so bin ich der Mensch und Mörder.«

»Du? Heinrich, mir –«

»Willst du dabei sein, wenn ich's ihm ins genauere auseinandersetze, Tinchen?« wendete sich Heinrich an seine Frau, und sie meinte lächelnd: »Du weißt es ja, daß du mich nicht dabei nötig hast, Alter. Wenn dein Herr Freund es gestattet, so horche ich lieber wie bisher von Zeit zu Zeit ein wenig hin, daß du mir nicht allzusehr ins Phantastische und Breite fällst.«

»Ich ins Breite und Phantastische, Eduard?«

»Aber ich würde den Herren vorschlagen, sich doch lieber mit dem alten Elend wieder draußen unter die grünen Bäume zu setzen. Sie, Herr Eduard, hören gewiß lieber draußen im Freien davon. Ich räume derweilen hier auf und komme nachher –«

»Mit meinem Strickzeug«, schloß Heinrich Schaumann den herzigen Rat und Vorschlag ab.


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