Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Da aber begibt sich etwas, was vor allem diesen längst vergangenen Jugendtag mir wieder in vollster Lebendigkeit vor die Seele stellt: Valentine Quakatz gibt ihre Wache am Eingangstor der roten Schanze auf – vollständig! Der bösverkniffene Mund wird zu einem weinerlichen verzogen – das Mädchen kämpft, kämpft mit seinen Tränen, aber sie sind mächtiger als es. Tinchen schluchzt, weint laut hinaus und springt Stopfkuchen nicht mit den Fingernägeln ins Gesicht, sondern legt sich ihm um den Hals, hängt ihm am Halse und jammert: »Heinrich, du bist zu schlecht!«

»Na, na!«

»Du bist so schlecht wie die ganze andere Welt.«

»Na, so hetze mir doch deine Köter an den Hals, verrücktes Frauenzimmer! Was sagst du dazu, Eduard? Ich so schlecht wie die ganze übrige Welt?«

Ich sage gar nichts. Ich stehe nur wie ein dummer Junge mit offenem Munde und sehe, wie der dicke Freund das Mädchen – ein Mädchen – wie als was ganz Selbstverständliches ebenfalls im Arme hält, ihm auf den Rücken klopft, ihm über die Haare streichelt, ihm das Kinn aufhebt und ihm einen Kuß gibt. Ich sehe, wie er mühsam hinten in der Rocktasche nach seinem Taschentuch angelt, wie es ihm gelingt, dasselbe hervorzuholen, und wie er mit demselben dem Mädchen – einem Mädchen, einem fremden, erwachsenen Mädchen – die Tränen aus den Augen wischt, und ich sehe Stopfkuchen mit einem Male mit ganz anderen Augen an, als mit welchen ich ihn bis zu dieser verblüffenden Stunde gesehen habe. Blutübergossen wünsche ich mich bis in die fernsten Fernen weg und möchte zugleich den mal sehen, dem ich folgte, wenn er mich beim Ellbogen nähme und sagte: »Komm, Eduard, du hast doch hier gar nichts zu suchen!« –

Glücklicherweise hat Stopfkuchen aber viel zuviel mit dem Mädchen zu tun und widmet mir nur dann und wann beiläufig eine höfliche Bemerkung.

»Herze von 'ner Gans, kann ich denn was dafür? Gehe ich etwa aus freien Stücken? Muß ich nicht? Habe ich nicht die Verpflichtung, wenigstens einmal durchs Examen zu fallen, meinen guten Eltern zuliebe? Wie gerne ich dir zuliebe hierbliebe, Tinchen, das weißt du, also sei ein gutes Mädchen und laß das dumme Gewimmer. Guck nur, wie der Taps, der Eduard, guckt und sich überlegt, was er zu Hause alles erzählen kann! Da – hast du noch mal mein Taschentuch, und nun blamiere uns nicht länger in freier Luft. Glaubst du, daß darum der Herr Graf von der Lausitz diesen Wall aufgeworfen habe, daß Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, von ihm herab sich dem Nest drunten von seiner weichsten Seite zeige? Bilde dir das nicht ein. Bombardieren werde ich noch mal von ihm aus das Philistertum da unten, daß der kursächsische Staberl-Xaverl sich heute noch als balsamiertes Leder- und Knochenbündel in seiner Fürstengruft darüber freuen soll. Komm mit, Eduard, da du da bist. Wir wollen endlich hinein ins Haus; denn nämlich, Eduard, nicht immer holt man draußen in der freien Luft am freiesten Atem, welche Erfahrung ich dir, mein Junge, zu möglichem Gebrauche gern gratis überlasse. Dumme Witze verbitte ich mir natürlich, jetzt hier und nachher drunten in der Stadt im Kreise deiner lieben Verwandten und nähern und weitern Bekannten. Wir drei sind also ganz allein auf der roten Schanze? Wundervoll! Sag's deinen Kötern so eindringlich wie möglich, was sie zu tun haben, Tinchen.« Fräulein Valentine wendet sich zu ihrer vierbeinigen Wachtmannschaft, das heißt, sie hebt die Faust gegen sie und schüttelt dieselbe dann gegen die lachende, freundliche Sommerlandschaft jenseits des Grabens. Das bedeutet, daß das Vieh noch weniger als sonst jemandem ungestraft den Eintritt in das Bollwerk des Grafen von der Lausitz gewähren soll. Und es versteht das und antwortet mit einem dumpfen giftigen Gewinsel und Geknurr: wir drei aber haben jetzt wahrhaftig wundervoll den Nachmittag allein auf der roten Schanze. –

Erfreulich war der Anblick grade nicht, wenn man die Hunde und das Tor hinter sich hatte. Verwildert und verwahrlost erschien alles umher, jede Arbeit nur halb und widerwillig und nachlässig getan. Es war keine rechte Ordnung im Garten, im Hofe, im Hause, und in der Scheune wahrscheinlich auch nicht. Alles Geräte lag und stand umher, wie man es eben aus der Hand hatte fallen lassen oder beiseitegestellt hatte. Das Gebüsch und Unkraut wuchs ungehindert. Die Jauche konnte sich keine bessern Tage wünschen als wie auf der roten Schanze, und sie suchte sich denn auch ihre Rinnsale, wo es ihr beliebte. Die Hühner scharrten, wo sie wollten, im Garten. Enten und Gänse watschelten ebenso, wo sie wollten, im Hofe und im Hause. Dem Stallvieh sah man es an, daß der Herr häufig nicht zu Hause war und auch dann nicht sein Auge, wie es sein sollte, bei ihm hatte. Daß das Kind vom Hause nicht alles allein besorgen konnte und daß das Gesinde es deshalb sehr »sachte angehen ließ«, das war nur zu augenscheinlich. Was aber den letztern Punkt, das Gesinde, anbetraf, so hatte das mit dessen Nichtsnützigkeit seine besten Gründe. Der Bauer auf der roten Schanze hatte sich, was Knechte, Mägde und Jungen anging, eben mit dem zu begnügen, was niemand sonst mochte – mit dem Abhub und dem Bodensatz der Gegend.

Es tat für einen rechtlichen Menschen, für ein ordentliches Mädchen nicht gut, auf der roten Schanze zu dienen und da ehrlich nach der Ordnung zu sehen. Hoher Lohn und gute Behandlung kamen dort gar nicht in Betracht. Jeder Groschen, den der Bauer Quakatz hergab, hatte ja einen Blutgeruch an sich. Wer von der roten Schanze kam und einen andern Dienst suchte, der brachte denselben Geruch in den Kleidern mit, und man ließ es mit verzogener Nase ihn merken und schickte ihn um ein Haus weiter. Bis der Bauer Andreas Quakatz endlich eingestand, daß er Kienbaum totgeschlagen habe, oder bis der Hof auf der roten Schanze im ganzen unter den Hammer gebracht oder, noch besser, für Maiholzen im einzelnen ausgeschlachtet worden war, konnte sich hieran nichts, gar nichts ändern. Und die Erbtochter der roten Schanze, Valentine Quakatz, änderte auch nichts, gar nichts daran; sie hatte nur ihr bitter Teil an der bösen Verfemung mitzutragen. Es ist Stopfkuchen, der, wie die langen Wogen des Weltmeeres mich wieder auf dem Hagebucher der neuen Heimat zu tragen, fragt: »Was meinst du, Eduard? Sieht das hier nicht niedlich aus?« –

Knecht und Magd haben, da der Herr wieder mal in »Beleidigungs- und Ehrensachen-Kränkungsgeschäften« von Hause ist, sich ihre Arbeit nach Gutdünken draußen gesucht, liegen vielleicht auch irgendwo unter einem Busch und lassen unsern Herrgott den besten Meister sein. Kein Laut ringsumher als das Schrillen der Grillen oder das Gekreisch zankender Spatzen auf den Dächern oder in den Hecken! Auch Tinchen schluchzt nicht mehr zornig aus sich heraus oder erbittert-giftig in sich hinein. Sie ist uns voran in die Stube gegangen, ohne sich danach umgesehen zu haben, ob wir ihr auch gefolgt sind. Wir sind ihr, doch ein wenig scheu und befangen, gefolgt, und nun sitzt sie am Tische, mit dem Rücken an der Wand, und hat beide Arme, die Hände flach ausgebreitet, auf die altersschwarze Eichenplatte gelegt, und Stopfkuchen und ich stehen vor ihr und sehen, in der dunkeln, niedern Bauernstube vom Lichte da draußen geblendet, auf sie hin – man kann eine Meile weit jede Fliege summen hören. Ja, die Fliegen der roten Schanze! sie haben das Schanzwerk des Prinzen Xaver von Sachsen auch nicht aufgegeben. Sie sind noch vorhanden in der Stube des Bauern Quakatz, einerlei, ob er Kienbaum totgeschlagen hat oder nicht. Es gibt nichts innerhalb der vier Wände, was sie nicht beschmutzt haben; vor allem die Bilder an den Wänden: die Zehn Gebote, des Jägers Begräbnis, den unter die Räuber gefallenen Mann im Evangelio. An des Jägers Begräbnis haben sie mit allen übrigen Tieren sehr teilgenommen und dem Sarge alle Ehren erwiesen. Ebenso dem Wort: Du sollst nicht töten. Es hängt übrigens kein neues Bild zu ihrer Begutachtung an der Wand. An der Schanze des Siebenjährigen Krieges ist selbst die neueste Weltgeschichte vorbeigezogen, ohne ein Zeichen hinterlassen zu haben. Kein Schlachtenbild aus Neuruppin vom Düppelsturm, keins von Sechsundsechzig, keins von Siebenzig. Nicht Kaiser Wilhelm, Fürst Bismarck und Graf Moltke! Was ging die Weltgeschichte den Bauer von der roten Schanze an? Er hatte seinen Kienbaum; er hatte viel zu schwer an seinem eigenen Dasein auf dieser Erde zu tragen, um sich viel um das anderer Leute kümmern zu können, und wenn es die Ersten dieser Welt waren! Ihm hatte diese Welt überall in seinem Hause, wo er auf eine Wand sah, Kienbaumen dran gehängt, und er brauchte dazu nicht Malerkunst und Glas und Rahmen: er sah den Mann jederzeit und selbst bei geschlossenen Augen so genau und deutlich vor sich, wie kein Maler, und wenn es der allerbeste gewesen wäre, ihn ihm hätte malen können.

Ich gaffe von dem bunten Bilderbogen der Zehn Gebote verlegen und unruhig auf das uns anstarrende Mädchen, da sagt Heinrich: »Nun, Tinchen, laß das dumme Zeug und stiere nicht die beiden besten Lateiner und firmsten Griechen des diesmaligen Osterabgangsschwindels – grinse nicht, Eduard! – aus ihrer guten Meinung von sich selber heraus. Ja, armes Wurm, die süße Kinderzeit liegt nun unwiderruflich hinter uns, der Ernst des Lebens – weine nicht, Eduard! – beginnt, und lebten wir noch in vernünftigeren Zeiten, so würde ich dir vorschlagen, Herze: steig hinter deinem Ritter auf den Gaul, fasse mich um die Taille und halte dich feste. Komm, kurz und gut, mit mir. Aber es geht nicht, Eduard. Was können wir dafür, daß wir wenigstens dies eine Mal nicht von den Eseln aufs Pferd kommen? daß wir einfach morgen mit der Eisenbahn fort müssen? Tinchen, mein Herzenstinchen, sieh mich nicht so dumm an; was ich meinen Herren Eltern aus dem ersten Semester mitbringen werde, weiß ich nicht; aber dir bringe ich den alten Stopfkuchen wieder. So wahr jetzt der Himmel blau über uns ist, und die Erde grün wird und immer grüner: ich will nicht umsonst meine täglichen Prügel der roten Schanze wegen gekriegt haben! Ich will nicht umsonst meine einzigen guten Stunden in diesem Jammertal auf dem Anstand dem alten Quakatz und seinem kleinen Tinchen gegenüber verlebt haben! Wenn Sie es verlangen, Fräulein Valentine, so hinterlasse ich Ihnen das auch schriftlich!«

Es fuhr wie ein Schauder durch den ganzen Körper der Tochter des alten Quakatz; dann aber sagte Valentine: »Ich will nichts Schriftliches. Was von Schriftlichem hierherkommt, das nimmt auch mein Vater am liebsten nur, wenn es ihm auf die Mistgabel gelegt und zugereicht wird. Nachher faßt er es an wie eine glühende Kohle. Und du, du – noch besser wär's, wenn gar kein Mensch eine Zunge hätte zum Sprechen, zum Lügen, zum Sticheln – du auch!«

»Ich auch?« fragt Stopfkuchen; aber ohne jeden Ausdruck der Überraschung, des Gekränktseins oder gar der Entrüstung. Indem er sich halb zu mir wendet, sagt er: »Ein bißchen mehr könntest du selbst bei den heutigen tragischen Umständen bei dir selber bleiben, Tinchen; und du, Eduard, jetzt kannst du wirklich mal für die Lebenspraxis was lernen. Du auch! Dies Wort ist großartig, und denn sieh dir mal das Gesicht an, was sie mir zu der Sottise schneidet. Das hat man nun davon, daß man einem Frauenzimmer von Kindesbeinen an seine schönsten freien Sommer- und Winternachmittage und die Ferien ganz gewidmet hat. Hat die Person wohl eine Ahnung davon, wie viele Prügel etcetera man ihretwegen von Erzeugern und Lehrern hingenommen hat, ohne einen Muck zu sagen? – Du auch! Mädchen, Mädchen, wenn das Schaf, dieser Eduard hier, nicht bei uns stände, ich würde dir und deinem verrückten Alten und der roten Schanze meine Zuneigung noch einmal in einer Weise deutlich machen, die sich wahrhaftig nicht gewaschen haben sollte.«

Nun läuft wieder ein Zucken über die Schultern unter dem buntbäuerlichen Brusttuch. Die Erbtochter der roten Schanze schielt wie ein nur halb gebändigtes und zum Bessern überredetes oder vielmehr verschüchtertes Tier zu dem angehenden Kandidaten aller denkbaren Brotstudien, Schaumann, auf; sie will mit beiden Fäusten auf den Tisch schlagen, aber es geht nicht. Sie läßt die Arme schlaff am Leibe heruntersinken und schluchzt: »Ich habe keinen gerufen, um sich um mich zu bekümmern!«

»Nee«, sagt Stopfkuchen. »Ja, da hat sie recht, Eduard! Ich bin ganz von selber gekommen und habe mich ihrer angenommen. Du weißt es ja, Eduard.«

Ganz so genau, wie der Freund zu meinen schien, wußte ich es doch nicht. Nur das wußte ich, daß es während unserer ganzen »Jugendzeit« in dieser Hinsicht und nach der Anschauung sowohl des Hauses wie der Schule keinen verrückteren Bengel gegeben hatte als Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen. Wie ich mit dem Landpostboten Friedrich Störzer gelaufen war, so hatte er sich vor der roten Schanze festgelegt – »wie die Katze vor dem Mauseloch«, wie er sich selber ausdrückte. Um mit einem zu gehen oder gar zu laufen, dazu war der gemütliche Knabe viel zu faul; aber sich durch einen Reisbreiwall ins Schlaraffenland hineinzufressen, dazu war er imstande, und dieses war bis jetzt die Meinung der Welt und also auch die meinige über ihn gewesen. Das war es einzig und allein, was ich damals an jenem Abschiedstag über sein Verhältnis zu – dem Mädchen, zu Tinchen – Valentine Quakatz wußte. Meine Dummejungensseele dachte nicht daran, daß die verschüchterte, verwilderte, rothaarige Krabbe des Bauern Quakatz etwas anderes als eine sehr beiläufige Rolle bei seiner Verliebtheit in die rote Schanze des Prinzen Xaver von Sachsen spielen könne. Ich und die Welt von damals konnten es doch wahrhaftig nicht wissen, daß Stopfkuchen auch nach solcher Richtung hin romantischer Gefühle fähig sei.


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